Ivna Žic – Die Nachkommende
Auf dem Weg zurück nach Kroatien, das bei ihrer Geburt noch Jugoslawien war, davor hieß es auch schon einmal Kroatien. Das Land, aus dem der Großvater einst vor dem Krieg flüchten wollte, die Eltern vor ...
Auf dem Weg zurück nach Kroatien, das bei ihrer Geburt noch Jugoslawien war, davor hieß es auch schon einmal Kroatien. Das Land, aus dem der Großvater einst vor dem Krieg flüchten wollte, die Eltern vor einem anderen Krieg flohen und das sie nur noch in den Ferien bereist. Um die Großeltern zu sehen, die Verwandten, die Kindheitsfreundinnen, zu denen sie aber weitgehend den Kontakt verloren hat. Quer durch Europa, über mehrere Grenzen, mehrere Sprachen hinweg. Und doch finden sich in ihr die Geschichten der früheren Generationen, spürt sie das, das da ist, über das man nie gesprochen hat, über das man nicht mehr sprechen will. Doch es bleiben Bilder und Erinnerungen, die sie in sich trägt und die auch sie überdauern werden.
Ivna Žics Roman ist für den Österreichischen Buchpreis 2019 nominiert und bietet genau das, was man von einem Kandidaten für diese Auszeichnung erwarten würde: ein Text, den man sich erarbeiten muss, der nicht unmittelbar und leicht zugänglich ist, der aber, wenn man sich daran macht ihn zu entfalten, viele Schichten an Denkanstößen bietet und trotz der Kürze eine unheimliche Tiefe erreicht. Es ist die Geschichte einer Generation, in deren Leben nichts stabil zu sein scheint. Weder Beziehungen noch Orte bieten Halt, immer auf der Reise zu oder weg von etwas, ohne genau zu wissen, wo man herkommt und wohin man geht.
„Jede Ankunft und jede Abreise lassen diese alte Geschichte noch älter werden. Und zugleich von vorne beginnen.“
Der sommerliche Familienbesuch der Erzählerin bietet den Hintergrund der Erzählung. Abfahren, Ankommen, die Zeit dazwischen zusammengepfercht mit Fremden in Bus oder Zug aushalten. Immer wieder dasselbe Spiel im Sommer, zu Ostern, zu Weihnachten, zu Beerdigungen und Hochzeiten. Zurück zu einer Kindheit, die langsam verblasst, in eine inzwischen fremde Welt. Die Häuser haben die Geschichte konserviert, unter vielen Lagen Farbe findet sich die vielen Lagen der politischen Systeme, der rivalisierenden Gruppen, der immer wieder neu beginnenden Zeit. Nur die Menschen schweigen:
„Der Großvater und dieses Land schwiegen bis zum nächsten Krieg und der Großvater noch etwas länger. Die Eltern, die Verwandten, alle, die gefragt werden, hören weg, winken müde ab (...)“
Die spezifische Beziehung zwischen Mensch und Raum, die dem Begriff „Heimat“ ihren individuellen Sinn verleiht, ist für diese Generation im Schwebezustand. Früh entwurzelt, um dem Krieg zu entkommen, fehlt den älteren Generationen die Kraft, ihnen das mitzugeben, was sie verorten könnte. Ganz anders als Saša Stanišić, der in seinem Roman „Herkunft“ dieselbe Thematik aufgreift – und dafür auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2019 steht – beleuchtet Ivna Žic das Schicksal der Generation von Kindern aus allen Teilen des früheren Jugoslawien, die heute über die Welt verstreut sind. In das öffentliche Bewusstsein dringt dies nicht vor, zu sehr sind sie an die neuen Länder angepasst und inzwischen von anderen Kriegsgeflüchteten abgelöst worden. Aber in der Literatur scheint ihr Thema wenigstens einen Ort zu finden.