Weltliteratur - DER Liebesroman schlechthin
Anna KareninaWährend meines Studiums habe ich schon viele Klassiker der Weltliteratur mit mehr oder weniger großem Vergnügen gelesen: „Anna Karenina“ war bisher nicht darunter. Ich habe mich mal an „Krieg und Frieden“ ...
Während meines Studiums habe ich schon viele Klassiker der Weltliteratur mit mehr oder weniger großem Vergnügen gelesen: „Anna Karenina“ war bisher nicht darunter. Ich habe mich mal an „Krieg und Frieden“ gewagt, bin bis jetzt aber nicht über 150 Seiten hinausgekommen. Wahrscheinlich lag es an der Schwierigkeit die russischen Namen mit der englischen Sprache (ich habe eine englische Ausgabe) in Einklang zu bringen. Ich sollte es in jedem Fall noch einmal versuchen – vielleicht auf Deutsch mit der Aufbau-Reihe „Schöne Klassiker“.
Diese von mir im Moment für Klassiker absolut favorisierte Reihe des Aufbau-Verlags hat auch „Anna Karenina“ im Sortiment.
An dieser Reihe finde ich zum einen die Covergestaltung mit modernen und immer zum Buch passenden Fotografien absolut genial, zum anderen ist die weiche und flexible Klappenbroschur sehr angenehm beim Lesen (auch bei dickeren Büchern) und das integrierte Lesebändchen natürlich praktisch. Auch die Übersetzungen sind – insoweit ich das beurteilen kann – gut gelungen und trotz ihrer Aktualität dem Originalwerk verpflichtet.
Im Dezember 2012 kam eine Neuverfilmung von „Anna Karenina“ in die Kinos und da ich den Film sehr gerne sehen wollte hatte ich mir fest vorgenommen das Buch vorher noch zu lesen: jetzt oder nie! Leider hat es nicht geklappt: jetzt ist März und erst jetzt habe ich es geschafft das Buch zu Ende zu lesen (den Film werde ich mir auch erst auf DVD anschauen).
Mit seinen – in meiner Ausgabe – 1227 Seiten auf Dünndruckpapier hat der Roman einen gewissen Umfang, was mir zu Anfang, obwohl ich Klassikergeprüft bin, etwas Respekt eingeflößt hat. Was wenn ich nicht hineinfinde? Was wenn das Lesen zur Qual wird?
Was kann ich sagen: meine Bedenken wurden ab ca. Seite 30 (man muss sich erst in den Erzählstil und die erzählte russische Adelswelt des 19. Jahrhunderts hineinfinden) absolut zerstreut! Ich bin zunächst geradezu mit der Erzählung verschmolzen und hab mich vom Erzählfluss mittragen lassen (auch wenn das Lesen letztendlich einen viel längeren Zeitraum eingenommen hat als ich mir vorgenommen habe, aber das lag vor allem an den vielen „Nebenlektüren“). Zum Ende hin nimmt der Roman dann noch einmal richtig Fahrt auf.
Die recht kurzen Kapitel sind einerseits in sich abgeschlossen, andererseits fügt sich das Ende meist nahtlos an den Beginn des nächten Kapitels an: es wird also chronologisch erzählt – wobei wir natürlich auch immer etwas über die Vergangenheit der Figuren erfahren. Es ist mal wieder ganz schön einem auktorialen, allwissenden Erzähler zu lauschen. Solche Erzähler sind in zeitgenössischen Romanen seltener geworden, weil sie als „unmodern“ gelten. Das Schöne ist aber dass so ein Erzähler nicht nur alles weiß, sondern auch alles darf, wenn nötig ungefiltert die direkten Gedanken einer Figur wiedergeben, mitunter auch die eines Kindes oder eines Tieres. Die Figuren sind ihm ausgeliefert und können keine Geheimnisse vor ihm haben.
Zur Handlung denke ich brauche ich nichts zu sagen, die ist vielfach, u.a. hier, einzusehen.
Was mich gewundert hat? Ich hätte nicht gedacht dass der Roman dann doch so auf die Liebeshandlung und die gesellschaftlichen Beziehungen einiger weniger Hauptpersonen konzentriert ist. Nach der Erfahrung mit „Krieg und Frieden“ hätte ich mehr politische und weltanschauliche Inhalte erwartet und ein breiteres Beziehungsgeflecht zahlreicher Figuren. Natürlich kommen die politischen Inhalte auch in „Anna Karenina“ vor, zum Beispiel wenn die Figuren diskutieren oder der Erzähler ihre Ansichten offenlegt (z.B. wenn Lewin durchaus ausführlich über die Situation der russischen Bauern reflektiert), aber im Vordergrund steht doch der Themenkreis Liebe und Beziehung und ihr Bezug zur Gesellschaft.
Was die Figuren betrifft so finde ich ist Tolstoi ein Meister der Charakterzeichnung. Er weiß es einfach die Menschen in ihrer Vielschichtigkeit darzustellen – obwohl sie von der sie umgebenden Umwelt meist nur einseitig wahrgenommen werden. Für ihn sind die Personen nicht schwarz oder weiß, sondern – und das ist das Realistische – grau.
Die Figur, die mir mit am sympathischsten war ist Lewin, der auf dem Land lebende Freund von Anna Kareninas Bruder Stephan. Er ist eine geradlinige Persönlichkeit, die das Erbe seiner Väter erhalten will, nicht über die Stränge schlägt und sich selbst anderen gegenüber verhält wie er selbst behandelt werden möchte. Er begnügt sich mit dem was er hat und kann Stephans Einstellung nicht verstehen, Frauen betreffend auch gerne mal außer Haus zu „speisen“. Aber bei allem – und das ist das Besondere – ist er kein Moralapostel, sondern im Innersten ein Mensch, dem auch Argwohn, Eifersucht und Selbstmitleid nicht fremd sind. Lewin liebt Kitty, Annas und Stephans Schwägern, die ihn zwar auch liebt, den Grafen Wronski aber vorgezogen hatte. Dass dieser nach der Entscheidung für ihn kein Interesse mehr an ihr zeigt löst bei ihr eine schwere Krankheit aus.
Das Buch wirft viele Fragen auf, u.a.: soll man die Liebe leben, auch wenn sie gesellschaftliche Ächtung bedeutet? Für Anna ist diese Frage zentral und die Entscheidung, die sie trifft, beeinflusst nicht nur ihr Schicksal eminent, sondern auch das ihres Exmannes Karenin, ihres Geliebten Wronski und ihrer Kinder. Der kleine Serjosha leidet sehr darunter, dass seine Mama für ihn nach der Trennung „gestorben“ ist und das obwohl sie offensichtlich noch lebt.
Das Lesen von Klassikern beweist einem immer wieder warum die Klassiker Klassiker sind: sie haben einem etwas zu sagen – und das unabhänging von der Zeit, in der sie verfasst worden sind. Was „Anna Karenina“ dem Leser von heute zu sagen hat muss natürlich jeder für sich selbst entscheiden, aber ich denke dass jeder etwas an diesem Roman finden wird, das gewisse „Etwas“ hat er in jedem Fall.