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Veröffentlicht am 17.09.2019

Weltliteratur - DER Liebesroman schlechthin

Anna Karenina
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Während meines Studiums habe ich schon viele Klassiker der Weltliteratur mit mehr oder weniger großem Vergnügen gelesen: „Anna Karenina“ war bisher nicht darunter. Ich habe mich mal an „Krieg und Frieden“ ...

Während meines Studiums habe ich schon viele Klassiker der Weltliteratur mit mehr oder weniger großem Vergnügen gelesen: „Anna Karenina“ war bisher nicht darunter. Ich habe mich mal an „Krieg und Frieden“ gewagt, bin bis jetzt aber nicht über 150 Seiten hinausgekommen. Wahrscheinlich lag es an der Schwierigkeit die russischen Namen mit der englischen Sprache (ich habe eine englische Ausgabe) in Einklang zu bringen. Ich sollte es in jedem Fall noch einmal versuchen – vielleicht auf Deutsch mit der Aufbau-Reihe „Schöne Klassiker“.
Diese von mir im Moment für Klassiker absolut favorisierte Reihe des Aufbau-Verlags hat auch „Anna Karenina“ im Sortiment.
An dieser Reihe finde ich zum einen die Covergestaltung mit modernen und immer zum Buch passenden Fotografien absolut genial, zum anderen ist die weiche und flexible Klappenbroschur sehr angenehm beim Lesen (auch bei dickeren Büchern) und das integrierte Lesebändchen natürlich praktisch. Auch die Übersetzungen sind – insoweit ich das beurteilen kann – gut gelungen und trotz ihrer Aktualität dem Originalwerk verpflichtet.
Im Dezember 2012 kam eine Neuverfilmung von „Anna Karenina“ in die Kinos und da ich den Film sehr gerne sehen wollte hatte ich mir fest vorgenommen das Buch vorher noch zu lesen: jetzt oder nie! Leider hat es nicht geklappt: jetzt ist März und erst jetzt habe ich es geschafft das Buch zu Ende zu lesen (den Film werde ich mir auch erst auf DVD anschauen).
Mit seinen – in meiner Ausgabe – 1227 Seiten auf Dünndruckpapier hat der Roman einen gewissen Umfang, was mir zu Anfang, obwohl ich Klassikergeprüft bin, etwas Respekt eingeflößt hat. Was wenn ich nicht hineinfinde? Was wenn das Lesen zur Qual wird?
Was kann ich sagen: meine Bedenken wurden ab ca. Seite 30 (man muss sich erst in den Erzählstil und die erzählte russische Adelswelt des 19. Jahrhunderts hineinfinden) absolut zerstreut! Ich bin zunächst geradezu mit der Erzählung verschmolzen und hab mich vom Erzählfluss mittragen lassen (auch wenn das Lesen letztendlich einen viel längeren Zeitraum eingenommen hat als ich mir vorgenommen habe, aber das lag vor allem an den vielen „Nebenlektüren“). Zum Ende hin nimmt der Roman dann noch einmal richtig Fahrt auf.
Die recht kurzen Kapitel sind einerseits in sich abgeschlossen, andererseits fügt sich das Ende meist nahtlos an den Beginn des nächten Kapitels an: es wird also chronologisch erzählt – wobei wir natürlich auch immer etwas über die Vergangenheit der Figuren erfahren. Es ist mal wieder ganz schön einem auktorialen, allwissenden Erzähler zu lauschen. Solche Erzähler sind in zeitgenössischen Romanen seltener geworden, weil sie als „unmodern“ gelten. Das Schöne ist aber dass so ein Erzähler nicht nur alles weiß, sondern auch alles darf, wenn nötig ungefiltert die direkten Gedanken einer Figur wiedergeben, mitunter auch die eines Kindes oder eines Tieres. Die Figuren sind ihm ausgeliefert und können keine Geheimnisse vor ihm haben.
Zur Handlung denke ich brauche ich nichts zu sagen, die ist vielfach, u.a. hier, einzusehen.
Was mich gewundert hat? Ich hätte nicht gedacht dass der Roman dann doch so auf die Liebeshandlung und die gesellschaftlichen Beziehungen einiger weniger Hauptpersonen konzentriert ist. Nach der Erfahrung mit „Krieg und Frieden“ hätte ich mehr politische und weltanschauliche Inhalte erwartet und ein breiteres Beziehungsgeflecht zahlreicher Figuren. Natürlich kommen die politischen Inhalte auch in „Anna Karenina“ vor, zum Beispiel wenn die Figuren diskutieren oder der Erzähler ihre Ansichten offenlegt (z.B. wenn Lewin durchaus ausführlich über die Situation der russischen Bauern reflektiert), aber im Vordergrund steht doch der Themenkreis Liebe und Beziehung und ihr Bezug zur Gesellschaft.
Was die Figuren betrifft so finde ich ist Tolstoi ein Meister der Charakterzeichnung. Er weiß es einfach die Menschen in ihrer Vielschichtigkeit darzustellen – obwohl sie von der sie umgebenden Umwelt meist nur einseitig wahrgenommen werden. Für ihn sind die Personen nicht schwarz oder weiß, sondern – und das ist das Realistische – grau.
Die Figur, die mir mit am sympathischsten war ist Lewin, der auf dem Land lebende Freund von Anna Kareninas Bruder Stephan. Er ist eine geradlinige Persönlichkeit, die das Erbe seiner Väter erhalten will, nicht über die Stränge schlägt und sich selbst anderen gegenüber verhält wie er selbst behandelt werden möchte. Er begnügt sich mit dem was er hat und kann Stephans Einstellung nicht verstehen, Frauen betreffend auch gerne mal außer Haus zu „speisen“. Aber bei allem – und das ist das Besondere – ist er kein Moralapostel, sondern im Innersten ein Mensch, dem auch Argwohn, Eifersucht und Selbstmitleid nicht fremd sind. Lewin liebt Kitty, Annas und Stephans Schwägern, die ihn zwar auch liebt, den Grafen Wronski aber vorgezogen hatte. Dass dieser nach der Entscheidung für ihn kein Interesse mehr an ihr zeigt löst bei ihr eine schwere Krankheit aus.
Das Buch wirft viele Fragen auf, u.a.: soll man die Liebe leben, auch wenn sie gesellschaftliche Ächtung bedeutet? Für Anna ist diese Frage zentral und die Entscheidung, die sie trifft, beeinflusst nicht nur ihr Schicksal eminent, sondern auch das ihres Exmannes Karenin, ihres Geliebten Wronski und ihrer Kinder. Der kleine Serjosha leidet sehr darunter, dass seine Mama für ihn nach der Trennung „gestorben“ ist und das obwohl sie offensichtlich noch lebt.
Das Lesen von Klassikern beweist einem immer wieder warum die Klassiker Klassiker sind: sie haben einem etwas zu sagen – und das unabhänging von der Zeit, in der sie verfasst worden sind. Was „Anna Karenina“ dem Leser von heute zu sagen hat muss natürlich jeder für sich selbst entscheiden, aber ich denke dass jeder etwas an diesem Roman finden wird, das gewisse „Etwas“ hat er in jedem Fall.

Veröffentlicht am 17.09.2019

Klassische Essays über die Liebe

Über die Liebe
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„Über die Liebe“ ist der ambitionierte Versuch des Schriftstellers Henri Beyle alias Stendhal ein Thema, das alle Menschen eminent betrifft und beschäftigt in all seinen Facetten zu behandeln. In seinen ...

„Über die Liebe“ ist der ambitionierte Versuch des Schriftstellers Henri Beyle alias Stendhal ein Thema, das alle Menschen eminent betrifft und beschäftigt in all seinen Facetten zu behandeln. In seinen Essays geht es ihm zunächst darum die Liebe in ihren psychologischen Aspekten zu betrachten, es geht um die verschiedenen Arten der Liebe, ihre Anfänge und Voraussetzungen, ihre unterschiedlichen Gesichter und Ausprägungen. Was bewirkt Schönheit für die Liebe? Ist sie so etwas wie eine Visitenkarte bei Frauen, bestimmt sie deren Marktwert? Wie unterschiedlich lieben Männer und Frauen? Gibt es Liebe auf den ersten Blick und wie wichtig ist Intimität für das Zusammensein, was bedeutet Eifersucht, kann einer mehr lieben als der andere? Diese Fragen sind wahrscheinlich so alt wie die Liebe selbst, aber vor dem Hintergrund des 19. Jahrhunderts, in dem die romantische Liebe erst richtig Einzug in die Breite der Gesellschaft hält, man nicht mehr nur Konvenienzehen eingehen will, sondern sich bewusst für ein Individuum entscheiden kann, das nicht mehr aus gesellschaftlichem Interesse gewählt wird - in diese Zeit gehören die Essays von Stendhal. Man muss das Buch also vor dem Hintergrund seiner Entstehungszeit (1822 ist das Buch erschienen, 1826, 1834 und 1842 verfasste der Autor neue Vorreden dazu) betrachten, auch wenn viele Aussagen und Fragen die er stellt allgemeingültig und zeitlos sind. Natürlich ist auch das zweite Buch in Hinblick auf den Horizont der Zeit zu lesen, in der Stendhal es geschrieben hat. Dort geht es um die Ausprägungen und Charakteristika der Liebe in den verschiedenen Nationen, immer wieder gespickt mit Entlehnungen aus Memoiren anderer oder den eigenen Erfahrungen. Interessant sind auch noch die zum Schluss angefügten Fragmente, die teilweise aphoristisch kurz, teilweise auch eine halbe bis ganze Seite lang sind. Es sind die von Stendhal aufgefundenen Notizen, die er sich zum Thema gemacht hatte und sonst nirgendwo unterbringen konnte.

Was mir sehr gefallen hat an diesem – ja man kann es schon sagen – Sachbuch über die Liebe ist die teilweise sehr ironische Sicht der Dinge, die Stendhal zu Tage treten lässt. Aussagen wie: „Sehr oft ist es das beste, ohne eine Miene zu verziehen, abzuwarten, bis der Nebenbuhler durch seine eignen Torheiten dem geliebten Wesen fade geworden ist.“, S. 191), augenzwinkernde Selbstironie („Aber da mir der Himmel die schriftstellerische Begabung versagt hat…“, S. 71) oder Seitenhiebe auf literarische Bestseller der Zeit (wie z.B. „Seit langer Zeit habe ich nicht mehr Richardsons langweilige Clarissa gelesen;“, S. 90) und gesellschaftliche Moden („Dreiviertel aller Liebesbriefchen in Wien wie in London sind französisch geschrieben oder voll Anspielungen und auch Zitaten auf Französisch und Gott weiß was für ein Französisch.“, S. 156) haben beim Lesen dieser nicht ganz einfach zu verdauenden Traktate ein Lächeln auf meine Lippen gezaubert.
Stendhal hat in einer seiner Vorreden von 1834 geschrieben dass dies ein Buch für „nur für hundert Leser“ sei. Ich kann ihm da nur rechtgeben, denn anstatt theoretisch über die Liebe zu lesen ist es für mich persönlich ein größeres Vergnügnen Stendhals Romane an die Hand zu nehmen. Dennoch: das Buch hat als historische Betrachtung des Phänomens „Liebe“ durchaus seine Berechtigung und wenn man sich aus soziologischem Interesse damit beschäftigt ist es in jedem Fall eine Lektüre wert. Dem „normalen“ Leser allerdings würde ich eher Stendhals „Rot und Schwarz“ empfehlen, damit er seine theoretischen Ansichten zu Liebe und Macht, Kirche und Staat literarisch verpackt genießen kann („Die Karatuse von Parma“ ist wohl noch geeigneter, den Roman habe ich allerdings selbst noch nicht gelesen).

Ich finde die Ausgabe editorisch wirklich gut, die zahlreichen Extras wie das ausführliche „Inhaltsverzeichnis“, die „Daten zu Leben und Werk“ und vor allem der Beitrag aus dem Kindler’schen Literaturlexikon sind dem Leser, der stärker in die Materie eintauchen möchte ein hilfreiches Kompendium. An der verwendeten Übersetzung von Franz Hessel aus dem Jahr 1921 habe ich ebenfalls nichts auszusetzen, ich finde sie trifft den Ton, allerdings könnte man angesichts des Alters der Übersetzung mal an eine neue denken.

Veröffentlicht am 17.09.2019

Historischer Krimi vom Feinsten!

Die geheime Braut
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Wittenberg 1528: Die beiden Nonnen Susanna und Binea sind auf der Flucht. Nachdem im Zuge der Reformation immer mehr Klöster geschlossen werden verlieren auch die beiden ehemaligen Nonnen ihr sicheres ...

Wittenberg 1528: Die beiden Nonnen Susanna und Binea sind auf der Flucht. Nachdem im Zuge der Reformation immer mehr Klöster geschlossen werden verlieren auch die beiden ehemaligen Nonnen ihr sicheres Refugium und versuchen gemeinsam eine neue Bleibe, eine neue Aufgabe zu finden bzw. sich überhaupt erstmal durchzubringen. Bei einem versuchten Diebstahl treffen sie auf den jungen Maler Jan Seman aus der Werkstatt von Lucas Cranach, dem berühmten Maler der deutschen Renaissance. Er bringt die beiden nach Wittenberg, wo sie zunächst als Mägde bei der nicht minder berühmten Familie Luther anfangen können. Luthers Frau Katharina von Bora weiß sich als ehemalige Nonne mit dem Schicksal der Frauen zu identifizieren und nimmt sie im "Schwarzen Kloster" auf, das der Kurfürst den Luthers wenige Jahr zuvor überlassen hatte. Auch Lucas Cranach, Ratsherr und viel beschäftigter Maler, bekommt die Reformation zu spüren. Nachdem "Heiligenbilder" kaum noch gefragt sind konzentriert sich der Maler mit seiner Werkstatt vermehrt als Hofmaler auf den Adel und nimmt sonstige Auftragskunst an, auch die griechische Mythologie ist wieder en vogue. Eines Tages ereilt ihn ein besonderer Auftrag von einem maskierten Mann. Er soll die drei Grazien, die Töchter des Zeus (Aglaia, Thalia & Euphrosyne) auf einem Gemälde vereinigen. Zunächst eine einfach erscheinende Aufgabe, die allerdings an eine Bedingung geknüpft ist. Real existierende Frauen müssen ihm nackt Modell stehen, nach und nach soll er erfahren, wer die Frauen sind. Als erstes soll Aglaia portraitiert werden - und Jan Seman, der bei Frauen beliebt ist, bekommt die Aufgabe die Frauen davon zu überzeugen sich nackt malen zu lassen...
Im Wittenberger Frauenhaus bekommt derweil die Hurenwirtin Griet Besuch von ihrem unangenehmen Patron. Außerdem nimmt sie ein junges Mädchen bei sich auf, das ihre Eltern verloren hat. Die kecke Marlein wächst ihr ans Herz - soll sie sie tatsächlich als Hure bei sich arbeiten lassen?

Zunächst muss ich sagen dass dieser Roman einen perfekt symmetrischen, fast schon klassischen Aufbau hat. Form und Inhalt stimmen also perfekt überein und das trägt zum positiven Leseerlebnis absolut bei. Dass das besagte Gemälde auch noch vorn und hinten in sehr guter Qualität abgedruckt ist, ist ebenfalls sehr hilfreich, denn man schaut beim Lesen doch ganz gerne mal nach und hat dann ein Aha-Erlebnis wenn man das Beschriebene im Bild vorfindet.

Die Charaktere und handelnden Figuren sind von der Anzahl genau richtig für die Krimihandlung, die sich nach und nach entwickelt.
Es mischen sich fiktive Figuren (Susanna, Binea, Jan Seman, Griet...) mit historischen Persönlichkeiten (der Kurfürst und seine Frau, Luther, Katharina von Bora, Cranach, Melanchthon...), was den besonderen Reiz des Romans mitunter ausmacht. Dabei ist auf Seiten der historischen Persönlichkeiten nichts "weit hergeholt". Wie die promovierte Historikerin Brigitte Riebe im Nachwort schreibt sind die Schicksale der Nonnen in dieser Zeit oder das Vorhandensein eines Frauenhauses in Wittenberg geschichtliche Realität.

Was mich am meisten begeistert hat war die Atmosphäre, die Brigitte Riebe erzählerisch heraufbeschwört. Das Geheimnisvolle (wie schon im Einstein-Zitat als Motto) schwebt über der Handlung, die überaus realitätsnah, fast schon filmisch, vermittelt wird. Man ist als Leser so mittendrin, dass man sich seber im dunklen Schloss des Kurfürsten, den geheimnisvollen Auftraggeber belauschend, wähnt oder den Geruch wahrnimmt, den die Lebzelterin mit ihren Kerzen und Lebkuchen erzeugt. Auch ist die Reformation überall zu spüren und dass sie es paradoxer Weise nicht geschafft die Welt zu entzaubern (wie es im Nachwort heißt), sondern im Gegenteil bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts ein verstärkter Volksaberglaube zu herrschen schien.
Die Abwesenheit des katholischen Prunks stellt eine Leere her, die umso geheimnisvoller erscheint, man hat ständig das Gefühl: da war doch etwas, hinter all dem neuen, Gottesfürchtigen "Nichts" steht ein riesen Fragezeichen... Das Wittenberg dieser Zeit ist ein wirklich toller Schauplatz, den ich noch nirgends so eindrücklich beschrieben gefunden habe.

Rundherum kann ich sagen dass "Die geheime Braut" ein rundum gelungener historischer Roman mit Krimielementen ist, dem ich nur jedem ans Herz legen kann und der mir immer in Erinnerung bleiben wird.

Veröffentlicht am 17.09.2019

History-Mystery

Die Gebeine von Avalon
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Bei diesem Mix aus dem History und Mystery-Genre (mit einer Prise Thriller) handelt es sich um den ambitionierten und, wie ich finde äußerst gelungenen Versuch, ein Geheimnis aus der tiefen Vergangenheit ...

Bei diesem Mix aus dem History und Mystery-Genre (mit einer Prise Thriller) handelt es sich um den ambitionierten und, wie ich finde äußerst gelungenen Versuch, ein Geheimnis aus der tiefen Vergangenheit (in diesem Fall der mystischen Vorzeit Britanniens) durch eine historische Figur aus der ebenfalls tiefen, aber nicht ganz so lange vergangenen Vergangenheit (dem England des 16. Jahrhunderts) zu lösen.
Der Hofwissenschaftler der jungen Königin Elizabeth Tudor (zum Zeitpunkt der Handlung erst 2 Jahre auf dem Thron), Dr. John Dee, wird mit der schier unlösbaren Aufgabe konfrontiert, die seit der Auflösung der Klöster verschollenen Gebeine ihres „Vorfahren“ König Artus aus Glastonbury nach London zu holen, um ihre Regentschaft gegen ihre Feinde und Gegner abzusichern , aber auch, wegen ihrer Ängste und ihres Aberglaubens. In einer Zeit, in der die neue Religion, der Protestantismus, von Staatswegen wieder durchgesetzt wird und es dennoch unterschwellig im ganzen Volk brodelt, einem Volk, dass sich seine eigenen Götter sucht, dem Aberglauben anhängt und in der Höflinge bereit sind die Religion wie die Kleidung zu wechseln, ist es für den Wissenschaftler Dee ein Canossagang in die einstige Hochburg des britischen Katholizismus und gleichzeitig des vorchristlichen Heidentums zu gehen. Er trifft auf ehemalige Mönche, Kräuterfrauen und Reliquienhändler und muss einen grausamen Ritualmord an einem Diener seiner Königin erleben, um näher zum Geheimnis der „Gebeine von Avalon“ zu gelangen.
Was an diesem Buch so besonders ist und mich absolut anspricht: obwohl es um Altes und Abgelebtes geht, also um Jahrhunderte alte Knochen, um das Zurücklassen des Überholten (sei es um Religion oder den Aberglauben, der sich in Hexenverbrennungen etc. geäußert hat) und schließlich um das ultimative Nicht-Sein, den Tod (zartbesaitete Leser – zu denen ich mich auch zähle – müssen sich hin und wieder auf äußerst morbide und teilweise grausame Szenarien einstellen) und die Angst davor (das „memento mori“-Motiv wird oft anzitiert), atmet dieser Roman auf jeder Seite Lebendigkeit. Rickman schafft es wie kaum ein anderer das Glastonbury des 16. Jahrhunderts so greifbar werden zu lassen, als wäre man selbst ein Teil dieser Stadt, die – durch die zerstörte Abtei repräsentiert – nur noch ein Anachronismus ihrer Selbst ist. Man spürt förmlich die kalte Luft des Februarmorgens, wenn der Schmied seine Pferde beschlägt, man isst mit Dr. John Dee die verschrumpelten Winteräpfel auf dem Markt und spürt schließlich die unwirklich schleierhafte Atmosphäre, den Spirit an diesem Ort, der etwas ganz Besonders ist.
John Dee ist in der Überlieferung eine eher dunkle Gestalt, die sich der Alchemie und Astrologie verschrieben hat. Diese Vorstellung von ihm geht aber ganz und gar nicht mit der sympathisch-menschlichen Charakterisierung von ihm durch Phil Rickman einher. Dr. Dee ist Anfang dreißig und beschreibt sich selbst ganz faustisch als einer, der zwar viel Wissen angesammelt, aber wenig erlebt hat und mit Menschen nicht so gut umzugehen weiß. Sehr bescheiden lebt er trotz seiner (unbezahlten) Eigenschaft als Haus- und Hofwissenschaftler der Königin mit seiner Mutter zusammen auf dem Land, die spärlichen erotischen Kenntnisse hat er bei der heimischen Magd gesammelt. Im ruinenhaften Glastonbury begegnet er nun bewusstseinserweiternden Zuständen und: der Liebe.
Das Gegenteil von Dee ist der großsprecherische Sir Robert Dudley, Geliebter, Höfling und Oberstallmeister der Königin, der Dee auf seiner Reise nach Glastonbury begleitet und unfreiwillig durch Krankheit in die Rolle des Untätigen gelangt. Auch er ist trotz seiner vielen Fehler und inneren Zerrissenheit (er schwankt zwischen der Liebe zu seiner Frau Amy und der zur Königin) sympathisch charakterisiert. Die beiden geben ein fast schon amüsantes neuzeitliches „Ermittler-Duo“ ab, ihre lebendigen Dialoge sind ein sehr schöner Nebenaspekt des Buches.
Außerdem: Rickman schafft es bei aller schwierigen Thematik sowohl Lesbarkeit zu erzeugen als auch den: „Muss-weiterlesen“-Effekt zu kreieren – und das ohne spektakuläre Cliffhanger (wobei die Kapitel sehr gut in sich strukturiert und angenehm kurz sind). Einfach die Story an sich ist so gut, dass man unbedingt wissen möchte, wie es weitergeht und was Dr. Dee auf die Spuren der Gebeine von Artus bringen wird.
Zum Schluss noch ein Lob für die geniale Covergestaltung mit dem erhabenen haptischen Titel und überhaupt den Softumschlag, der beim Lesen sehr angenehm ist und auch nachher im Regel viel hermacht.
Ich bin froh dieses Buch gelesen zu haben und kann es nur allen empfehlen, die gerne durch das Zwielicht dringen und sich für historische Mysterien interessieren: 5 Sterne!

Veröffentlicht am 13.09.2019

Grandioser Historienroman!

Die Königin der Weißen Rose
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Seit ich im Theater alle 8 Königsdramen von Shakespeare gesehen habe hat mich eine richtige Begeisterung für das England des 15. Jahrhunderts und die Geschichte der Rosenkriege erfasst. Die Faszination ...

Seit ich im Theater alle 8 Königsdramen von Shakespeare gesehen habe hat mich eine richtige Begeisterung für das England des 15. Jahrhunderts und die Geschichte der Rosenkriege erfasst. Die Faszination für die Auseinandersetzung der beiden verwandten, von Edward III. (Plantagenet) abstammenden Königshäuser York (White Rose im Wappen) und Lancaster (Red Rose im Wappen) ist bis heute geblieben und ich versuche immer wieder historische Romane oder Sachbücher zu lesen, die sich damit befassen. Philippa Gregory ist mit einer Reihe zu dem aus den beiden Häusern hervorgehendem Hause Tudor ("The Other Boleyn Girl" wurde auch verfilmt) bekannt geworden. Aus dieser Reihe hatte ich nur "The Virgin's Lover" gelesen. 2009 erschien dann mit "The White Queen" das erste Buch, das sich mit dem Vorgängergeschlecht, den Plantegentes, auseinandersetzt, besser gesagt mit der ersten Regentschaft des Hauses York.
Edward IV errang seine Königswürde auf dem Schlachtfeld, stieß 1461 den "frommen" und schwächlichen König Heinrich VI. vom Thron und begründete damit die relativ kurze, bis 1485 andauernde Herrschaft des Hauses York auf dem englischen Thron, mit dessen Ende auch die Rosenkriege ad acta gelegt wurden.
Wie immer bei Philippa Gregory befasst sich auch "The White Queen" mit einer zentralen Frauenfigur dieser Zeit, nämlich der "weißen Königin" Elizabeth Woodville, die als eine der faszinierendsten Frauen ihrer Zeit verehrt wird. Elizabeth Woodville stammt aus einer zwar adeligen (ihr Vater war ein Earl Rivers, ihre Mutter von burgundischem Adel), dynastisch aber unbedeuteten Familie. Ihr Mann, John Grey, fiel 1461 für den Lancaster-König kämpfend bei der Schlacht von St. Albans. Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor. Edward IV verliebte sich in sie und heiratete sie 1464 heiratete Edward IV heimlich. Er brachte sie an seinen Hof, wo er zehn Kinder mit ihr haben sollte.
Soweit das historische Grundgerüst. Philippa Gregory macht daraus eine perspektisch individuelle Geschichte, sie erzählt die historischen Begebenheiten aus der Sicht von Elizabeth Woodville: die Heirat mit dem König, die unsichere Situation auf dem Thron, die vielen Schlachten, in denen sich Edward IV stellen und um seine Krone kämpfen muss. Wir erfahren etwas über ihre Beziehung zu den historisch verbürgten Mitgliedern des Hofstaats: Edwards Mutter Cecily, seine Brüder George und Richard, die beide mal für und mal gegen Edward kämpfen und natürlich zu Höflingen wie dem Earl of Warwick, dem "Königsmacher".
Das alles bekommt durch die Erzählperspektive eine Dreidimensionalität, die dem Leser das "als wäre man dabei"-Gefühl gibt. Aus den verbürgten Fakten werden Menschen aus Fleisch und Blut, die ganz eigene Charaktere besitzen. Da sind vor allem die Brüder George of Clarence und Richard (der spätere Richard III) zu nennen, die durch die Sicht von Elizabeth plötzlich ganz anders dargestellt werden als was man über sie im Hinterkopf zu haben meint. Und so wird auch nochmal die obligatorische Frage nach dem Tod der beiden Söhne von Elizabeth und Edward gestellt - der Prinzen im Tower, die 1483, dem Jahr der Machtergreifung Richards plötzlich verschwunden, wahrscheinlich auf seinen Befehl hin ermordert worden sind. Wahrscheinlich, denn auch daran gibt es Zweifel, aber die werden wohl nie mehr ganz geklärt werden. Interessant ist dass Gregory eine alternative Theorie einbringt ohne die historische Lesart ganz zu verwerfen. Es bleibt am Ende der Gedanke: hätte es so nicht tatsächlich sein können. Und das ist es, was Geschichte, so festgeschrieben sie auch scheint, immer spannend macht!
Ich fand das Buch hervorragend, auch Elizabeths familiärer Hang zur Magie hat mich nicht gestört! Gut zu wissen dass das dritte Buch der Reihe ("The Lady of the Rivers") von Elizabeths Mutter handelt und eigentlich chronologisch noch von "The White Queen" gelesen werden müsste. Das nächste Buch der Reihe, das ich schon auf Deutsch hier liegen habe, handelt von Margaret Beaufort, der Erbin des Hauses Lancaster, der "roten Königin"...
"The White Queen" wurde gerade von der BBC als Miniserie verfilmt und soll sehr sehenswert sein!