Trifft genau meinen Geschmack.
>>>Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2019 (Shortlist)
>>>Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2019 (Shortlist)<<<
Meine Begegnung mit diesem Buch möchte ich wie folgt beschreiben: Stellt euch vor, ihr habt ein Blind Date. Die Person, mit der ihr euch treffen werdet, ist euch nicht bekannt, aber ihr habt eine grobe Vorstellung von ihr, vielleicht, weil ihr ahnt, wer sie sein könnte, vielleicht, weil ihr ein bestimmtes Bild vor Augen habt. Jedenfalls stimmt euch eure Vorahnung optimistisch. Dann kommt ihr zum Date und stellt fest, dass es sich doch um eine ganz andere Person handelt. Ihr seid im ersten Moment enttäuscht, bleibt aber doch und nehmt das Date an. Schon nach kurzer Zeit stellt ihr fest, dass die euch zuvor unbekannte Person sehr nett und interessant ist. Ihr redet, tauscht euch aus, ihr "klickt" - das Date wird ein voller Erfolg und am Ende seid ihr überglücklich und gleichzeitig traurig, weil der Abend zu Ende ist.
So in etwa war das mit "Brüder" und mir. Nach Lesen des Klappentextes hatte ich so eine Art Parallelgeschichte über zwei Halbbrüder erwartet, die sich sich zufällig (?) treffen und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede erforschen. Oder sowas in der Art. Bisschen Familiendrama, bisschen Exotik, bisschen Ostalgie - beide Brüder wuchsen in der DDR auf, haben je eine weiße Mutter und einen schwarzen Vater, also wird sicher Rassismus oder Identitätsfindung im sozialistischen Bauernstaat und der Nach-Wende-Zeit das beherrschende Thema sein? Und dann kam alles anders. Nicht ganz anders, aber ziemlich.
Erste Überraschung: Frau Thomae erzählt ihre Geschichten hintereinander. Nicht nur strukturell, also erste Hälfte Mick, der stets getriebene Lebemann, der Berufsjugendliche, der Nicht-Festleger und Nie-Ankommer, zweite Hälfte Gabriel, der Geordnete, Geerdete, Gemachte.
Auch zeitlich folgen die Geschichten aufeinander. Micks Geschichte beginnt tatsächlich in seiner DDR-Jugend, lässt sich dann aber schnell auf die Zeit nach der Wende ein, mit unserem Hauptcharakter als Animateur der Berliner Technoszene der 90er Jahre, von Party zu Party und Frau zu Frau. Bis zum großen Crash. Der echt bitter ist. Gabriels Strang setzt zeitlich danach ein, und hat, grundsätzlich irgendwie ähnlich, dann aber doch ganz anders, eher den großen Bogen vom Aufbau bis zum Niedergang der perfekten Illusion, möglicherweise bedingt durch eine identitätsleere Midlifecrisis, zum Inhalt. Auch Gabriel erleidet einen Crash - der zu den denkwürdigsten Ausrastern zählt, die ich überhaupt je gelesen habe.
Dritte Überraschung: Die unterschiedlichen Erzählweisen. Micks Part springt zwischen verschiedenen Erzählstimmen in dritter Person hin und her. Zwar übernimmt Mick den überwiegenden Part, doch es kommen zahlreiche weitere Personen zu Gehör, kleinere und größere Rollen, die teils nur Kurzauftritte haben, trotzdem sehr genau gezeichnet sind. Hat mich hier und da an die Erzählweise meiner geliebten Reihe "Das Leben des Vernon Subutex" erinnert, auch wenn Frau Thomae weit weniger zynisch/böse als Frau Despentes schreibt (was nicht heißen soll, dass Frau Thomae nicht dahin geht, wo es weh tut, denn das tut sie durchaus).
Im zweiten Teil sind es Gabriel und seine Frau Fleur, die abwechselnd aus der Ich-Stimme ihre eigene und gemeinsame Geschichte wiedererzählen, was sich im Laufe der Erzählung zu einem sehr intimen und hintergründigen Beziehungsporträt auswächst, das mir alleine als Geschichte schon gereicht hätte. Ich kann trotzdem nicht sagen, welcher Teil mir besser gefallen hat, beeindruckt haben mich beide auf ihre ganz eigene Art.
Diese drei Besonderheiten haben das Buch für mich sehr interessant und gleichzeitig sehr zugänglich gemacht. Hatte ich anfangs mehr Parallelen erwartet - die sich in den Geschichten der beiden Halbbrüder, so unterschiedlich sie auch sein mögen, durchaus finden lassen - waren es vor allem diese "gleichzeitigen" Unterschiede, die mich mit jeder Seite mehr begeistert haben.
Jackie Thomae schreibt genau so, wie ich es liebe. Sie erschafft Charaktere, die echt sind, die Macken haben, Ecken und Kanten, die real sind. Die den Plot, die Geschichte bestimmen und vorantreiben, durch ihre Echtheit. Weil sie manchmal richtig ätzend sind. Weil sie Angst haben. Weil sie richtig Mist bauen - und sich nicht mal dafür schämen. Oder rechtfertigen. Und sie Beziehungen jeglicher Art durchleben und -leuchten: Paare, Freunde, Bekannte, Eltern-Kind, Kind-Eltern, andere Verwandschaftsverhältnisse.
Jackie Thomae packt zahlreiche Themen aufs Tableau, große Themen, einige davon habe ich bereits erwähnt: Identität, Herkunft, Rassismus, Liebe, Treue, Selbstfindung, Zwänge. Und sie erzählt davon - aber stets auf erfrischende Art und "Nebenbei"-Weise. Hier kommt kein Holzhammer zum Einsatz, eher eine freundliche Einladung, sich doch mal neben Frau Thomae zu setzen und mit ihr zu sinnieren und subtil zu hinterfragen: Und, wie ist das bei dir so? Erzähl doch mal!
Es gibt da noch zwei, drei Specials, die das Werk weiter würzen. Zum einen dieses herrliche Bonmot, das im Teil über Mick vorkommt, den man durchaus als "schwanzgesteuert" bezeichnen kann. Das wird er mit folgenden Worten angesprochen: "[...]Du bist so schwanzgesteuert wie ein Typ, den sich eine verbitterte Frau ausgedacht hat." Ha! Sehr schön. Auch schön: Irgendwann kommt auch Idris, der Vater der beiden Halbbrüder mal ins Bild. Und schließlich der Epilog, hach, was soll ich sagen - ich hatte wirklich Tränen in den Augen. Die letzten Seiten haben mich den Roman endgültig lieben lassen, denn das Ende war - für mich - absolut perfekt.
Tl;dr: Ein wunderbares Leseerlebnis. Jackie Thomae erzählt unaufgeregt und doch aufwühlend. Eine beeindruckende, unaufgesetzte, facettenreiche Charakterstudie, mit Themen und Inhalten, die sehr aktuell sind, das Buch aber eher subtil begleiten als permanent bestimmen. Ich hab's sehr gerne gelesen, für mich ganz genau das Richtige.