ein intensiver Roman über Familie, Kunst, Wahrnehmung und Abhängigkeit
Je tiefer das WasserEdith und Mae sind 16 bzw. 14 Jahre alt, als ihr Leben eine rasante Wendung nimmt. Ihre Mutter Marianne wollte sich das Leben nehmen. Edith findet sie mit einem Strick um den Hals. Gerade noch rechtzeitig. ...
Edith und Mae sind 16 bzw. 14 Jahre alt, als ihr Leben eine rasante Wendung nimmt. Ihre Mutter Marianne wollte sich das Leben nehmen. Edith findet sie mit einem Strick um den Hals. Gerade noch rechtzeitig. Und dann wird die alleinerziehende Mutter in eine Nervenklinik eingewiesen. Die beiden Kinder bleiben zurück und müssen nun zu ihrem Vater nach New York. Er ist ein bekannter Schriftsteller und hat die Familie vor etwa 12 Jahren im Stich gelassen. Für Edith bricht die Welt zusammen. Er ist ein Fremder und sie möchte wieder zurück zu ihrer Mutter, ihr helfen und für sie da sein, doch man lässt sie nicht. Der Umzug zu ihrem Vater gleicht für sie einem Verrat und wie sich herausstellt scheint auch er an dieser Situation nicht ganz unschuldig zu sein. Für Mae hingegen ist das alles wie ein Befreiungsschlag. Sie will von ihrer Mutter nichts mehr wissen und geht im Kampf um die Aufmerksamkeit ihres Vaters förmlich auf. Es kommt zum Bruch und die beiden Geschwister schlagen komplett gegensätzliche Wege ein. Edith unternimmt einen Rettungsversuch und gibt alles mögliche um wieder zurück zu ihrer Mutter zu kommen. Und Mae verrennt sich in etwas, das ihr bald noch zum Verhängnis werden soll …
“Ich weiß nicht, wie viel Edie von alldem wusste. Sie sagte immer, ich wäre Moms Liebling, aber das ist nicht wahr. Es war eher so, dass Mom mich als Erweiterung ihrer selbst sah, während Edie die Freiheit hatte, ganz sie selbst zu sein. […] Ich musste so weit wie möglich von ihr wegkommen, sonst hätte sie mich verschlungen.”
Dieser Roman schildert nun die Tragik innerhalb der Familie, teilweise aus verschiedenen Zeiten und Perspektiven. Wir lernen die Gedankenwelt der beiden Kinder kennen, aber auch die Ansichten ihrer Bekannten und Verwandten in Bezug auf die Geschehnisse. Dabei springt die Erzählung zwischen Briefen aus der Kennlernzeit von Marianne und Dennis, dem Jahr des Geschehens und Rückblicken bzw. Anmerkungen und Erinnerungen einzelner Beteiligter aus der heutigen Zeit. Nach und nach setzt sich so ein Bild zusammen, das so einiges erklärt, umreißt, aber auch sehr bewegt. Es ist eine Mischung aus Wirklichkeit und individueller Wahrnehmung, die immer wieder von Kunst, Liebe, Wahn und Inspiration durchbrochen wird. Während des Lesens war es für mich eine Art Achterbahnfahrt, geprägt von der Angst vor dem was kommt und dem Unbedingt-wissen-wollen wie es weiter geht. Katya Apekina liefert hier eine vielschichtige und aus vielen Perspektiven aufbauende Geschichte, deren Protagonisten einiges erleben, aber nicht alles wird auserzählt. Es bleibt sehr viel Spielraum für die eigenen Gedanken und einiges dröselt sich erst im weiteren Verlauf auf. So war ich dann teilweise erstaunt, teilweise überschlagend im Weiterlesen, manchmal mit den Protagonistinnen betrübt, manchmal eher skeptisch und manchmal auch einfach überrascht und puh… Dieses Leseerlebnis war toll und irgendwie habe ich seit langem mal wieder auf so ein durch und durch faszinierendes und begeisterndes Buch gewartet. Und hier ist es nun.
Vom Ablauf her erinnert es mich an ein Verhör bzw. so ein Puzzle aus einzelnen Fragmenten einer Tätergeschichte. Und Täter gibt es sogar zahlreich, denn im Grunde läuft bei allen Beteiligten der Familie so einiges schief – psychisch, traumatisch, zwischenmenschlich. Im Fokus stehen dabei die beiden Mädchen, Edith und Mae. Edith versucht ihr Bild über die Mutter so lange wie möglich aufrecht zu halten, kämpft für die Nähe und Bindung zu ihr und scheint wie mit einem Tunnelblick keine anderen Ansichten und Möglichkeiten zuzulassen. Sie will ihre Mutter wieder haben, bei sich ‘tragen’. Nur von ihrem Vater, der sie vor 12 Jahren einfach so sitzen gelassen hat, will sie so gar nichts wissen. Sie scheint sauer auf ihn zu sein, ähnlich wie auf alle anderen Menschen in ihrem Umfeld. Und bei Mae ist es eben genau anders herum. Man merkt recht schnell, es muss noch irgendetwas anderes vorgefallen sein. Sie verrennt sich immer mehr in einer Art Fanatismus und nimmt im Kampf um die Aufmerksamkeit ihres Vaters nahezu alles in Kauf und dann… nun ja. Dann passiert eben das, wovor alle gewarnt haben. Damals schon. Und als Leser guckt man nun so kopfschüttelnd und fasziniert zu und kann einfach nicht einschreiten, noch im gleichen Moment alles verstehen. Zumindest mir erging es dabei so.
Neben dieser extremen Bindungsgeschichte/diesem Aufmerksamkeitswahn durchdringt diesen Roman dann immer wieder die Kunst, die Literatur, die Fotografie, die Musenhaftigkeit und Inspiration den Gedankenstrom. Teilweise sind es ‘meine’ Abschnitte und Gedanken, die sich in diesen sehr klaren, direkten Zeilen wiederfinden. Die Besonderheit der Fotografie und des ‘Sehens’ zum Beispiel. Hierüber könnte ich stundenlang schwafeln und Apekina schafft es ihre Gedanken in die Geschichte einfließen zu lassen, auf wenige Zeilen zu beschränken und doch den Kern der Essenz zu verdeutlichen. Es ist dabei aber kein hochliterarischer oder gar anstrengender Text. Apekina schreibt wunderbar leicht, normal menschlich und gedanklich voller Spitzen, aufbrausender Wut und Trauer und dennoch lässt sie sehr viel Spielraum für die eigenen Gedanken des Lesers, der nach und nach das Bild hinter dem Puzzle ergründet.
Mich hat dieser Roman begeistert verschlungen und auf eine abwechslungsreiche Reise entführt. Ich hoffe nun, dass ihr zu diesem Buch einen Zugang findet und Ähnliches, Faszinierendes und Tolles entdecken könnt, denn Apekina zeigt hier sehr eindrucksvoll wie kräftezehrend die Kunst, Beziehungen oder gar Egoismus sein können. Eine überraschend große Leseempfehlung, leicht ungewöhnlich und doch absolut toll.