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Veröffentlicht am 10.11.2019

Start einer mitreißenden Familiensaga in der Hamburger Speicherstadt

Der Duft der weiten Welt
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Mina Deharde hat den "Kaffee im Blut" und verbringt seit ihrer Kindheit viel Zeit im Kontor ihres Vaters in Hamburgs Speicherstadt. Trotzdem ist es ihr nicht möglich in seine Fußstapfen zu treten und den ...

Mina Deharde hat den "Kaffee im Blut" und verbringt seit ihrer Kindheit viel Zeit im Kontor ihres Vaters in Hamburgs Speicherstadt. Trotzdem ist es ihr nicht möglich in seine Fußstapfen zu treten und den Kaffeekontor eines Tages zu übernehmen. Wir schreiben nämlich das Jahr 1912, eine Zeit, in der Frauen an der Seite ihres Ehemannes oder unter der Obhut des Vaters stehen. Sie sind weder befugt ein Geschäft zu führen, noch die Handelskammer zu betreten. Doch Mina möchte weder heiraten, noch hinter einem Mann zurückstehen, sondern Medizin studieren oder den Kontor ihres Vaters übernehmen. Handarbeiten oder Haushaltsführung interessiert sie nicht die Bohne. Karl Deharde ist zwar ein eher moderner Mann, doch als Geschäftsführerin sieht er seine Tochter nicht und schickt sie auf ein Pensionat für höhere Töchter. Als Minas Vater erkrankt, sieht sie die Chance sich im Kontor noch mehr einzubinden und unersetzlich zu werden. Doch dann spitzen sich die Ereignisse zu und Mina steht vor einer großen Entscheidung...

Fenja Lüders gibt dem Leser einen interessanten Einblick in die Familiengeschichte der Dehardes, dem Kaffeehandel und den Konventionen der damaligen Zeit. Schonungslos zeigt sie auf, auf welche Rolle die Frau zu dieser Zeit reduziert wurde. Minas Wünsche sind uninteressant. Hauptziel ist die Heirat mit einem Geschäftsmann, der den Kontor weiterführen kann. Die damaligen Lebensumstände sind fundiert recherchiert und dargestellt. Als Leserin der heutigen Zeit wurde mir beim Lesen wieder sehr bewusst, wie froh wir über die Errungenschaften der letzten hundert Jahre sein können.
Ebenso bekommt man als Leser einen großartigen Einblick in die Welt des Handels und der Kaffeehändler zu dieser Zeit, sowie der Speicherstadt und dem Hafenviertel Hamburgs.

Charaktere:
Mina ist eine sehr sympathische Protagonistin, die in den gesellschaftlichen Konventionen dieser Zeit feststeckt und versucht daraus das Beste zu machen. Einige Schicksalsschläge lassen sie schneller erwachsen werden. Mina macht eine große Entwicklung durch und wird vom Backfisch zu einer jungen Frau mit hohem Verantwortungsbewusstsein.
Ihr Vater spielt eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Er nennt sie liebevoll "sein Wunschmädchen". Minas jüngere Schwester Agnes ist im ersten Teil der Trilogie noch nicht sehr präsent. Sie ist der Liebling der strengen Großmutter, die nach wie vor an den alten Konventionen festhält und Anstand und Tugend predigt.
Aber auch die Nebenfiguren, wie Fräulein Brinkmann, die Hauslehrerin der beiden Mädchen oder Irma von Gusnar, Minas quirlige beste Freundin im Pensionat, sind wunderbar lebendig dargestellt. Von Irma hätte ich gerne noch mehr gelesen und hoffe sie im zweiten Teil wiederzutreffen.
Eine größere Rolle spielt hingegen Edo Blumenthal, der Minas Vater im Kontor zu Hand geht. Mit ihm verbindet Mina eine enge Freundschaft aus der Liebe wird. Edo sieht seine Zukunft jedoch in Amerika und möchte mit Mina auswandern.
Sein Ziehbruder Heiko, ein einfacher Arbeiter, sieht die Kluft zwischen Arm und Reich. Er unterstützt die Gedanken der Sozialdemokraten, die für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit eintreten.
Mit Leutnant Frederik Lohmayer kommt ein weiterer spannender Charakter hinzu, der ebenfalls bei Karl Deharde in die Welt des Kaffees eingeführt wird. Der zweite Sohn eines Kaffeeplantagenbesitzers aus Guatemala erhofft sich Chancen bei Mina und ihrem Vater.

Schreibstil:
Fenja Lüders hat einen wunderbaren flüssigen Schreibstil, der mich von Anfang an gefesselt hat Man fliegt durch die Seiten. Auch wenn einige Handlungen leicht vorherhsehbar sind, gibt es immer wieder unerwartete Wendungen, die mich überraschten. Der Roman wird aus der Sicht von Mina in der 3. Person erzählt.
Die bildhaften Beschreibungen der Hamburger Speicherstadt, die ich selbst erst letztes Jahr mit eigenen Augen sehen durfte, sind absolut gelungen.

Fazit:
Der Start einer mitreißenden Familiensaga, die in der Hamburger Speicherstadt spielt und mich bereits mit Band 1 überzeugen konnte. Die stimmige Handlung, tolle Recherche und facettenreiche Charaktere, die sich alle weiterentwickeln, runden die Geschichte ab. Ich freue mich schon auf den Folgeband, auf den wir leider bis Juni 2020 warten müssen. Von mir gibt es eine Leseempfehlung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Geschichte
  • Erzählstil
  • Atmosphäre
  • Thema
Veröffentlicht am 03.11.2019

Spannender und bittersüßer Roman, den ich gerne weiterempfehle!

Als wir den Himmel berührten
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Im Roman von Marie Leander, eine deutsche Autorin, die unter Pseudonym schreibt (leider habe ich keine Ahnung wer dahinter stecken könnte, sonst würde ich mir gleich auch ihre anderen Bücher holen), sind ...

Im Roman von Marie Leander, eine deutsche Autorin, die unter Pseudonym schreibt (leider habe ich keine Ahnung wer dahinter stecken könnte, sonst würde ich mir gleich auch ihre anderen Bücher holen), sind wir in Marseille in Südfrankreich.
Wir schreiben das Jahr 1940. Die Deutschen haben Paris eingenommen und Frankreich geteilt. Der Nord-Westen wurde besetzt, der Süden wird vom Vichy Regime verwaltet. Viele Menschen sind auf der Flucht Richtung Marseille, wo noch Schiffe nach Übersee auslaufen. Zu dieser Zeit sitzt der einheimische Maler Nicolas Guyot am Hafen und malt. Ihm fällt ein Pärchen auf, das zwischen den verzweifelten Menschen auf der Flucht, unbekümmert herum flaniert. Ihm fasziniert die bildhübsche junge Frau an der Seite eines etwas älteren Mannes. Umso überraschter ist Nicolas, als genau diese Frau am nächsten Tag plötzlich vor ihm steht und ihn bittet sie zu portraitieren. Seit dem Tod seiner Frau malt Nicolas keine Portraits mehr. Doch Juline lässt nicht locker, denn sie möchte das Bild ihrem Mann schenken. Noch ahnt Nicolas nicht, welches Geheimnis die beiden bewahren und wie schnell er Julines Charme erliegt...

Schon der Klappentext hat mein Interesse geweckt, jedoch muss ich zugeben, dass ich anfangs noch etwas skeptisch war. Hier kann alles mögliche drinnenstecken... Doch schon nach den ersten Seiten hat mich die Geschichte rund um Nicolas, Juline und ihrem Mann Georg gefangen genommen.
Marie Leander erzählt mit viel Herzblut über den nicht immer einfachen Lebensweg ihrer drei Protagonisten. Dabei spielt die Zeit des Romans eine große Rolle. Der historische Hintergrund und das Erstärken der nationalsozialsitischen Ideen im Süden Frankreichs, auch durch die eigenen Landsleute, wird unheimlich gut transportiert. Das Schicksal vieler Flüchtlinge, wie auch mutigen Fluchthelfern, ist nur eines der vielen Themen, die die Autorin hier aufbereitet, jedoch der rote Faden der Geschichte.
Aber auch das Künstlerleben und die damit verbundene Bohéme kommt nicht zu kurz und steht im krassen Gegensatz zu den Flüchtlingen. Hier spürt man allerdings schon die schleichende Einmischung der Parteimitglieder, die die Künstler in ihrer Form beschränken wollen. Die Atmosphäre der damaligen Zeit ist hervorragend eingefangen.

Die Autorin hat einen wunderbaren Schreibstil. Sie schreibt bildhaft und voller Dynamik. Man fliegt durch die fast 600 Seiten und man fiebert mit den Protagnisten mit. Die Charaktere sind sehr facettenreich und lebendig dargestellt. Man begleitet sie durch Höhen und Tiefen, zittert mit ihnen um ihr Leben und nimmt gemeinsam große Herausforderungen an. Ich lebte mit den Figuren richtig mit und fühlte mich direkt im Geschehen.

Das Schicksal der drei Hauptprotaginisten ist bittersüß. Nicolas widmet sich seit dem Tod seiner Frau Tag und Nacht der Malerei. Sie ist sein Antrieb und sein Halt im Leben. Nicolas ist aber auch der typische Künstler, der die Nacht zum Tag macht und oftmals vergisst seine Miete pünktlich zu zahlen. Das Angebot seine Bilder bei einer Vernissage auszustellen, soll ihm helfen seiner permanenten Geldnot Herr zu werden.
Juline ist eine sehr starke Persönlichkeit. Sie weiß was sie will und steht treu zu ihrer Gesinnung. Sie setzt sich als Widerstandskämpferin ein und riskiert dabei mehr als nur ihr Leben.
Georg ist mit Juline auf Hochzeitsreise, während in Paris die Deutschen die Stadt besetzt haben. Die Beiden können nicht mehr zurück, denn Georg lebt mit Schweizer Pass unter falscher Identität.
Die Nebencharaktere sind ebenfalls sehr ausdrucksstark gezeichnet. Vorallem die Besitzerin eines Nachtlokales und gute Freundin von Nicolas ist mir dabei sehr ans Herz gewachsen. Alle Figuren besitzen eine Vielfalt an Charaktereigenschaften.

Auch die Schauplätze rund um Marseille sind wunderbar eingefangen und sehr anschaulich beschrieben.
Dazu kommt eine bittersüße Liebesgeschichte, die jedoch ohne Kitsch auskommt. Eine gelungene Mischung aus Romantik, Spannung und Historie.
Im Nachwort erzählt die Autorin noch wie sie auf die Idee kam diesen Roman zu schreiben und über den historisch belegten Journalisten Varian Fry, der in Marseille ein Rettungsnetzwerk aufbaute, mit dem er vielen Menschen die Flucht aus Europa ermöglichte.

Fazit:
Der Roman von Marie Leander bietet dem Leser eine spannende Reise voller Emotionen und führt ihn in die Zeit des Zweiten Weltkrieges und der Erstärkung des Nationalsozialismusses im Süden Frankreichs. Tolle facettenreiche Figuren und ein lebendiger und bildhafter Schreibstil runden die Erzählung perfekt ab.
Dieser wunderbare Roman sollte noch viel mehr Leser und mehr Aufmerksamkeit erhalten! Ich empfehle ihn deshalb sehr gerne weiter!

Veröffentlicht am 13.10.2019

Der bisher beste Teil der Reihe

Stille Havel
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In seinem vierten Band rund um Hauptkommissar Toni Sanftleben geht Tim Pieper neue Wege. Erstmals gibt es einen Vergangenheitsstrang, der zur Zeit des Zweiten Weltkrieges spielt.

Zuvor wird allerdings ...

In seinem vierten Band rund um Hauptkommissar Toni Sanftleben geht Tim Pieper neue Wege. Erstmals gibt es einen Vergangenheitsstrang, der zur Zeit des Zweiten Weltkrieges spielt.

Zuvor wird allerdings die Leiche des Kunsthändlers Helmut Lothroth im Potsdamer Park Sanssouci gefunden. Auf seinem Handy befinden sich Fotos eines Gemäldes, welches ein Frauenportrait mit Gesichtsschleier zeigt, das im Museum Barberini ausgestellt wird. Außerdem sind Bilder einer Villa an der Havel zu sehen. Welches Interesse hatte Lothroth am Gemälde und an der Villa? Und wer ist die Frau hinter dem Schleier?
Toni Sanftleben versucht Licht in den Mordfall zu bringen, jedoch ist sein Team rund um Phong und Gesa nicht wirklich gut aufeinander zu sprechen, was die Ermittlungen erschwert. Seit Phong versucht abzunehmen und sich nur mehr gesund ernährt, müssen die anderen mit seinen Launen klarkommen. Das macht die Ermittlungen nicht gerade einfacher, denn er verhält sich sogar Toni gegenüber äußerst anmaßend. Zusätzlich wird die Geschichte rund um Lothroth komplexer, der sich sehr für die Raubkunst aus dem Zweiten Weltkrieg zu interessieren schien. Als Toni Marie Hellström, die jetzige Besitzerin der Havelvilla kennenlernt, ist er von ihr fasziniert. Marie scheint die geheimnisvolle Frau auf dem Gemälde zu erkennen, gibt jedoch kaum etwas preis. Verschweigt sie etwas?
Verdächtig ist ebenfalls ein weiterer Kunsthändler, der sich in den heutigen rechtsextremen Kreisen herumzutreiben scheint und eine Museumsdirektorin, die sich hineter zwei verscheidenen Nachnamen zu verstecken scheint.

Im zweiten Handlungsstrang befinden wir uns im Jahre 1938 und lernen die junge Lydia kennen, die ein berühmter Filmstar werden möchte. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen möchte sie dem Mief der Kneipe ihrers Vaters entkommen. Deutsche Schauspielerinnen sind kurz vor dem Zweiten Weltkrieg gesucht, denn die UFA in Babelsberg nützt diese vorwiegend für Propagandafilmchen. Lydia fällt dabei Reichsminister Joseph Goebbles ins Auge, der kleinen Filmsterchen nur zur gerne weiterhilft, wenn sie sich erkenntlich zeigen. Die auf der einen Seite noch sehr naive Lydia weiß jedoch genau, dass sie nie wieder in die ärmlichen Verhältnisse von früher zurück will. Allerdings rechnet sie nicht mit all den weiteren Konsequenzen...

Der geschichtlche Hintergrund ist großartig recherchiert und obwohl ich sehr viele Romane aus dieser Zeit lese, habe ich auch in diesem Krimi von Tim Pieper wieder etwas Neues gelernt, nämlich dass Goebbels sehr wohl seine Finger bei der UFA im Spiel hatte bzw. diese nicht bei sich lassen konnte und die Besetzungen und den Status der Filmlieblinge teilweise in sein Gebiet fiel. Hier bekommt der Leser einen tollen Einblick in die Geschichte der UFA zur Zeit des Nationalsozialismus.
Der Wechsel zwischen den beiden Zeitsträngen wird gekonnt dargestellt. Die beiden Handlungsstränge halten sich dabei gekonnt die Waage.

Die Charaktere sind vielschichtig und fast jeder verdächtig. Alle Figuren scheinen zwei Gesichter zu haben - sogar Phong ;)
Toni hingegen hadert noch immer mit seiner Vergangenheit, versucht jedoch endlich frei davon zu werden. Ob es ihm glückt, müsst ihr selbst lesen!

Fazit:
Der beste Krimi von Tim Pieper und ein absoluter Pageturner, den ich nur empfehlen kann! Hervorragend durchdacht, kurzweilig, spannend und fesselnd! Großartig!

Veröffentlicht am 08.10.2019

Grandioser zweiter Teil

Die Schwestern vom Ku'damm: Wunderbare Zeiten
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Nach dem ersten Band rund um die Thalheim Schwestern, der während des Zweiten Weltkrieges spielte, befinden wir uns nun im zweiten Teil in der Nachkriegszeit in Berlin 1952. Es sind die Jahre des Aufschwungs ...

Nach dem ersten Band rund um die Thalheim Schwestern, der während des Zweiten Weltkrieges spielte, befinden wir uns nun im zweiten Teil in der Nachkriegszeit in Berlin 1952. Es sind die Jahre des Aufschwungs und des Wiederaufbaus, aber auch die Jahre, die die Spaltung des Landes vorantreiben.
Das Kaufhaus Thalheim ist wieder eines der führenden Modegeschäfte Berlins. Rike ist bemüht alles weiterhin am Laufen zu halten und kümmert sich neben ihrer Familie auch um die neuersten Modeerscheinungen. Doch als Oskar aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, übergibt Friedrich Thalheim seinem Sohn die Geschäftsführung und missachtet Rikes jahrelanger Bemühungen das Kaufhaus zu halten. Oskar hingegen interessiert sich kaum für die Geschäfte und feiert lieber die Nächte durch.

Diesmal steht Silvie im Mittelpunkt. Während ich sie im ersten Band als eher flatterhaft und noch sehr unreif empfand, wuchs sie mir in "Wunderbare Jahre" richtig ans Herz. Sie ist selbstbewusst, erfolgreich und steht mit beiden Beinen im Leben. Ihre Karriere als Rundfunkredakteurin bei RIAS bekommt mit ihrer neuen Sendung "Stimmen" einen Höhenflug. Als Rike sie bittet sich ebenfalls im Kaufhaus zu engagieren und mitzuarbeiten steht Silvie vor einer schwierigen Entscheidung. Lässt sich ihr Engagement beim Radio mit dem Kaufhaus verbinden? Und wie wird ihre weitere Zukunft aussehen? Silvie möchte weiterhin ihr Leben genießen, denn auch bei ihr hat der Krieg Spuren hinterlassen. Auf der anderen Seite fühlt sie sich Oskar und der Familie sehr verbunden. Immer wieder geht ihr der Satz "Kein Mann, kein Haus, kein Kind" im Kopf herum, als ihr dreißigster Geburtstag immer näher rückt. Die große Liebe...wo bleibt sie?
Und während der wirtschaftliche Aufschwung vorangeht, gibt es im Hause Thalheim viele Turbulenzen und Schicksalsschläge zu verkraften...
Oskar ist schwer traumatisiert, Rike reibt sich zwischen Familie und Arbeit auf und Nesthäkchen Florentine lädt der Familie zusätzliche Probleme auf. Sie rebelliert auf ganzer Linie. Silvie versucht zu vermitteln und wächst immer mehr an ihren Aufgaben.

Die historischen Begebenheiten, vorallem die politischen Veränderungen zwischen Ost und West, hat die Autorin wieder wunderbar eingefangen. Während ich schon sehr viele Romane gelesen habe, die zur Zeit der beiden Weltkriege spielen, waren es erst wenige, die sich mit der Nachkriegszeit in Deutschland beschäftigen. Als Österreicherin und zu dieser Zeit noch nicht geboren, bekam ich diese Epoche der Spaltung Deutschlands nicht wirklich mit. Deswegen ist es umso interessanter mehr über diesen Zeitraum zu erfahren. Aber nicht nur die politischen Veränderungen, wie der Aufstand in Ungarn, werden in die Geschichte miteingebaut, sondern auch kulturelle und wirtschaftliche Ereignisse. Die neuartigen Musikrichtungen aus den USA, wie der Swing, Jazz, Blues und der Rock'n'Roll werden in Deutschland immer heimischer. Aber auch historische Personen spielen eine Rolle. Man begegnet Grace Kelly, Billy Wilder, Hildegard Knef, Marilyn Monroe und erlebt das Wunder von Bern hautnah mit. Ebenso findet die Frankfurter Buchmesse in einigen Kapiteln Platz.

Die Charaktere sind wunderbar authentisch und facettenreich. Ich lebte und fühlte mit jeder Figur mit, auch wenn ich sie nicht mochte oder verstehen konnte. Ich hatte jede vor Augen und fieberte den nächsten Ereignissen entgegen.
Mich hat der zweite Band dieser Trilogie vollkommen überzeugt und ich freue mich auf die finale Geschichte der Thalheim-Schwestern, in denen Florentine unsere Hauptprotagonistin ssein wird.

Schreibstil:
Der Schreibstil der Autorin hat mich wieder völlig in den Bann gezogen. Er ist ausdrucksstark und lebendig, bildhaft und ich fühlte mich mittendrin in der Zeit, in der der Roman spielt. Der Spannungsbogen steigt zum Ende hin kontinuierlich an und ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen.
Am Ende findet man eine Zeittabelle mit den wichtigsten zeitgeschichtlichen Informationen Berlin's von 1952 - 1957.

Fazit:
Ein grandioser zweiter Teil um die Thalheim-Schwestern, der meiner Meinung nach dem ersten Band überflügelt und mich komplett überzeugt hat. Zahlreiche Wendungen und ein sehr spannendes letztes Drittel ließen mich das Buch kaum aus der Hand legen! Ich empfehle diese Reihe wirklich gerne weiter und freue mich schon auf den finalen Band.

Veröffentlicht am 27.09.2019

Intensiv, vielschichtig, melancholisch, aber auch hoffnungsvoll und tiefgründig

Der Geschmack unseres Lebens
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Julia Fischers neuer Roman ist von Beginn an ein Buch, das auf der Zunge zergeht. Das liegt an all den beschriebenen Köstlichkeiten, die unsere Sinne ansprechen, wie auch an dem unvergleichlichem poetischen ...

Julia Fischers neuer Roman ist von Beginn an ein Buch, das auf der Zunge zergeht. Das liegt an all den beschriebenen Köstlichkeiten, die unsere Sinne ansprechen, wie auch an dem unvergleichlichem poetischen Schreibstil der Autorin, der einem sofort gefangen nimmt.
Aber nicht nur die Süße begleitet uns in der Geschichte rund um Ella Donati, sondern auch der bittere Geschmack des Lebens, der von persönlichen Verlusten und psychischen Krankheiten erzählt. Trotzalledem schwelgt man im intensiven und wohl persönlichsten Roman der Autorin, den man sicherlich nicht so schnell vergisst.

Als Leser begleiten wir Ella, eine junge Frau, die mit fünf Jahren ihre Mutter verloren hat. Ihr Bruder Danilo verlässt die Familie nach einem großen Streit mit dem Vater und verpflichtet sich zum Militär. Ella steht kurz vor ihrer Hochzeit, als ihr Vater an Krebs erkrankt und ihr Verlobter ein Jobangebot in den USA bekommt und annimmt. Ella soll nachkommen, doch sie fühlt sich verpflichtet den Vater zu pflegen. Nach seinem Tod muss die Haselnussplantage, die in jahrzehntelangem Familienbesitz war, verkauft werden. Ein neuerlicher herber Verlust für Ella. Ihren Traum eine eigene Chocolateria zu eröffnen, hat die mittlerweile alleinerziehende Mutter von Zwillingen aber nie aufgegeben. Im kleinen Städtchen Alba im Piemont, unweit ihrer alten Heimat, eröffnet sie im historischen Stadtkern ihre kleine, aber exquisite Chocolateria "La Cuccagna" (= Schlaraffenland). Und genau so fühlt man sich auch, wenn man ihr Geschäft betritt und einem der Duft von Schokolade in die Nase steigt. 32 Pralinensorten hat Ella in ihrem Sortiment, die gleiche Anzahl ihrer Lebensjahre und die ihrer Mutter, als diese starb. In der Bäckerei gegenüber hat Ella einstmals gelernt, jedoch sind die Barberis alles andere als gut auf Ella und Maresh, dem Besitzer des indischen Restaurents nebenan, zu sprechen und machen beiden das Leben schwer.
Als der neue Besitzer der Haselnussplantage ihrer Eltern, Michele Mariani, ihr ein geschäftliches Angebot macht und ihr Bruder Danilo wieder nach Hause zurückkehrt, gerät Ellas Leben erneut aus den Fugen. Während Danilo bei Mariani zu arbeiten begonnen hat und beim alten Trüffelsucher Salvatore wohnt, holt Ella die Vergangenheit ein....

Was nach einem leichten Frauenroman aussieht, ist eine gefühlvolle Geschichte mit Tiefgang, die nicht nur die angenehmen Seiten des Lebens aufzeigt. Julia Fischer spricht Themen wie Trauerverarbeitung, Trennung, Verluste und psychische Krankheiten an. Trotzdem gibt es auch hoffnungsvolle und humorvolle Stellen, vorallem wenn von den "Neun vom Stadtplatz" die Rede ist. Diese illustre Runde alter Herren hat es faustdick hinter den Ohren und beeinflussen das Leben in Alba und ihrer Einwohner mehr als man denkt.

Bildgewaltig hat Julia Fischer auch den historischen Umzug mit dem Eselrennen in Alba beschrieben. Bei der Leserunde gab es zusätzlich jede Menge Fotos der Landschaft, dem Mittelalterfest, zur Pralinenherstellung und den Sehenswürdigkeiten der Umgebung. Ein Fest nicht nur für die Sinne, sondern auch fürs Auge. Neben der Schokolade und den Haselnüssen ist auch der Trüffel und die Trüffelmesse ein Thema.

Wie schon im Vorgängerroman wird auch in "Der Geschmack unseres Lebens" aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Dazwischen gibt es kurze Rückblenden in die Vergangenheit. Man erfährt mehr über Ellas Mutter und ihr Leben mit Depression, über Salvatores große Liebe Gianna und ihr gemeinsamer Kampf als Mitglied bei den Partisanen während des Zweiten Weltkrieges, man bekommt ebenso Einsichten in Danilos Kämpfe im Irak und in Afghanistan und sein Leben in der Abgeschiedenheit des Mairatales. Ein weiterer Rückblick in Form von Briefen geht zurück ins 18. Jahrhundert zur Zeit der Besetzung durch die Franzosen. Diese sind in kursiver Schrift geschrieben, um sich vom Rest anzuheben. All diese Informationen geben interessante Einblicke und führen schlussendlich zur Lösung des Familiengeheimnisses.
Ein Thema ist im Roman allerdings allgegenwärtig und zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht: Die Geschichte vom Zauberer von Oz.

Schreibstil:
Julia Fischers Schreibstil ist einnehmend, gefühlvoll und atmosphärisch, die Geschichte vielschichtig undvoller Tiefgang.
Die Charaktere sind sehr lebendig, warmherzig und facettenreich. Die Gefühls- und Gedankenwelt der Figuren wird sehr anschaulich dargestellt und man fiebert und lebt mit ihnen mit.
Die 43 eher kurzen Kapitel verführen zum "ein Kapitel geht noch" lesen ;)
Im Inneren der Klappbroschur findet man das Rezept für Haselnusstrüffel La Cuggana.

Fazit:
Ein Roman der leisen Töne, der die Sinne anspricht und einiges italienisches Flair verbreitet. Intensiv, vielschichtig, melancholisch, aber auch hoffnungsvoll und tiefgründig. Dieser Roman hat einfach alles, was man sich wünschen kann. Julia Fischers bisher persönlichstes und bestes Buch - ich empfehle es gern weiter!