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Veröffentlicht am 22.04.2020

Kein schlechtes Buch, aber die Begeisterung blieb leider aus – habe mir mehr von diesem Buchpreis-Gewinner erhofft!

HERKUNFT
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

„Herkunft“ ist eine Mischung aus Autobiografie und fiktionalem Roman, die sich mit der Flucht des Autors aus dem ehemaligen Jugoslawien, mit seinen Erinnerungen, seiner ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

„Herkunft“ ist eine Mischung aus Autobiografie und fiktionalem Roman, die sich mit der Flucht des Autors aus dem ehemaligen Jugoslawien, mit seinen Erinnerungen, seiner Kindheit und Jugend und seiner Familie (besonders mit seiner dementen Großmutter) beschäftigt.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, Du-Erzähler, Präteritum
Perspektive: männliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis sehr kurz
Tiere im Buch: Eine treue Ziege wird auf den Mond geschossen, wo sie stirbt, eine Taube stirbt bei einem Fahrrad-Unfall, Fleisch (bzw. Lamm) wird gegessen und es wird beschrieben, wie eine Schlange getötet wird.
Triggerwarnung: Rassismus, Flucht, Tod von Menschen und Tieren, Krieg, Gewalt, Vergewaltigung

Warum dieses Buch?

„Herkunft“ hat letztes Jahr (2019) den Deutschen Buchpreis gewonnen und sowohl von den LeserInnen als auch im Feuilleton viel Lob erhalten. Deswegen musste ich das Buch unbedingt lesen!

Meine Meinung

Einstieg (2 Sterne)

„Fiktion, wie ich sie mir denke, sagte ich, ist ein offenes System aus Erfindung, Wahrnehmung und Erinnerung, das sich am wirklich Geschehenen reibt –“ E-Book, Position 201

In diesen Roman hineinzukommen, fühlte sich für mich an wie Arbeit. Die ersten Kapitel ließen sich schnell und flüssig lesen, trotzdem fand ich keinen richtigen Zugang zum Buch und empfand den Einstieg als langwierig und schwierig.

Schreibstil & Humor (3 Lilien)

„In Bosnien hat es geschossen am 24. August 1992, in Heidelberg hat es geregnet.“ E-Book, Position 1412

Der Autor schreibt flüssig und angenehm lesbar. Seine Sprache ist einfach, teilweise auch locker und mündlich geprägt, wodurch das Buch stellenweise wirkt, als würde jemand einem gerade am Lagerfeuer eine Geschichte erzählen. Es gibt einige schöne, kreative und poetische Sätze und Vergleiche, und ich liebe es, wie der Autor über Sprache reflektiert und philosophiert und mit ihr experimentiert. Auch den subtilen Humor und den ironischen Unterton mochte ich sehr. Trotzdem konnte mich die Sprache nie ganz erreichen, mitreißen, überzeugen und begeistern.

Inhalt, Themen & Ende (3 Lilien)

„Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft.“ E-Book, Position 360

Thematisch konzentriert sich der Autor in „Herkunft“ auf seine Familie, seine Erinnerungen an die Flucht und die ersten schwierigen Jahre in Deutschland, auf geschichtliche Fakten und das komplexe Konzept der „Herkunft“. Diese Themen werden teilweise tiefgehend behandelt, manches bleibt aber auch oberflächlich, weil die Kapitel sehr kurz sind. Eindringlich, sehr authentisch und berührend fand ich die Schilderungen des Zustandes der dementen Großmutter, deren Gesundheitszustand sich immer weiter verschlechtert. Diese Beschreibungen haben mich echt betroffen und traurig gemacht, weil auch ich schon mit dieser Krankheit in Berührung kam. Sehr gut gefallen hat mir auch der innovative Schlussteil – es hat mich sehr überrascht, einen solchen in einem anspruchsvollen literarischen Werk zu finden! Ich fand es spannend und unheimlich erfrischend, dass ich mir mein eigenes Ende aussuchen durfte.

Die meisten Leute, die dieses Buch lesen, scheinen hingerissen zu sein und kommen ins Schwärmen. Nach den vielen positiven Rezensionen und dem Gewinn des Buchpreises waren meine Erwartungen sehr hoch. Ich habe mir ein großartiges Buch erhofft, das mir richtig gut gefällt. Leider war die Enttäuschung beim Lesen dann umso größer. Mir ist bewusst, dass ich mit meiner Meinung so ziemlich alleine bin. Ich möchte mich aber von den vielen positiven Bewertungen nicht einschüchtern lassen, denn auch in dieser Rezension will ich ehrlich sein. Die Wahrheit ist: Ich fand irgendwie keinen richtigen Zugang zur Geschichte (sie erreichte mich nur so halb) und Begeisterung wollte sich auch nicht einstellen. Obwohl es meiner Meinung nach einige schöne, gelungene und auch berührende Kapitel gab, wollte sich einfach kein Lesesog einstellen. Kapitel für Kapitel, in ganz kleinen Happen, arbeitete ich das eigentlich nicht sehr umfangreiche Buch pflichtbewusst ab – in der Hoffnung, dass es mich irgendwann schon noch packen und ebenso begeistern würde wie die anderen LeserInnen – und musste bis fast zum Ende zwingen, weiterzulesen. Lesespaß war leider über weite Strecken nicht vorhanden.

Das episodenhafte, unzusammenhängende, sprunghafte Erzählen voller Abschweifungen, die oft verwirrende Chronologie mit ihren Zeitsprüngen und das Fehlen einer linearen Handlung machten es mir schwer, in die Geschichte einzutauchen und sie zu genießen. Die Mischung aus Geschichten über die Familie und persönlichen Erinnerungen fand ich stellenweise gelungen, stellenweise langatmig. Ich verstehe, dass es für den Autor spannend und wichtig war, die eigene Familiengeschichte zu erforschen und für die Ewigkeit festzuhalten. Manche Anekdoten fand ich auch durchaus sehr interessant, witzig oder charmant. Jedoch ist es nicht meine Familie, über die der Autor schreibt. Für mich hatten die Schilderungen nicht die gleiche emotionale und persönliche Bedeutung wie für ihn, wodurch oft mein Interesse schwand. Auch die geschichtlichen Abhandlungen und Einschübe hätte man spannender formulieren können. Mich konnten sie nicht packen, sondern ich langweilte mich stellenweise sehr. Mich konnte dieser Roman leider nicht so überraschen, begeistern, berühren, zum Nachdenken bringen und überzeugen, wie ich mir das von einem Buchpreis-Gewinner und hochgelobten Buch gewünscht hätte. Geschmäcker sind verschieden – meinen konnte Saša Stanišić mit „Herkunft“ leider nicht treffen.

„Ohne Abschweifung wären meine Geschichten überhaupt nicht meine. Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens.“ E-Book, Position 414

Protagonist (5 Lilien ♥) & Figuren (3 Lilien)

„Heute erinnert sich Großmutter mal an Gavrilo, mal sagt der Name ihr nichts. Über ihr Jetzt hat sich ein Schleier aus Damals gelegt.“ E-Book, Position 533

Den Protagonisten des Romans fand ich unheimlich sympathisch und liebenswert. Ich mochte seine intelligente, aber auch unaufgeregte, lockere und humorvolle Art und habe ihn sehr gerne begleitet. Auch seine Reflexionen, seine Offenheit und seine Fähigkeit, über sich selbst zu lachen und sich über kuriose Eigenheiten beider Kulturen liebevoll (und niemals bösartig) zu amüsieren, haben mir sehr gut gefallen!

Die anderen Figuren sind meiner Meinung nach mit einigen Ausnahmen – die Großmutter ist z. B. sehr liebevoll ausgearbeitet und wirkt authentisch und dreidimensional – nicht so gut gelungen. Durch die Vielzahl an Figuren, die allerdings in einzelnen Episoden nur ganz kurz vorkommen und nicht näher beschrieben werden, bleiben viele von ihnen (besonders die FreundInnen des Protagonisten) leider sehr blass. Ich konnte leider keine Beziehung zu ihnen aufbauen oder mit ihnen mitfühlen, was ich sehr schade finde. Manchmal habe ich sie sogar miteinander verwechselt.

Spannung & Atmosphäre (2 Lilien)

„‘Wann kann ich nach Hause?‘
‚Du bist zu Hause, Oma.‘“ E-Book, Position 1994

Ich fand die atmosphärischen Beschreibungen der Schauplätze sehr gelungen und überzeugend, aber leider gibt es im Buch durch die episodenhafte Erzählweise keinen Spannungsbogen. Ich empfand „Herkunft“ leider als sehr langatmig und hätte es mehrmals am liebsten abgebrochen, weil es mich nicht erreichen und zum Weiterlesen motivieren konnte.

Feministischer Blickwinkel (5 Lilien ♥)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Beleidigung in einer anderen Sprache (Kur++), ich fi+++ deine Mutter, Hu++

Was die feministische Analyse betrifft, bekommt der Autor für sein Buch alle Punkte. Der Roman besteht den Bechdel-Test, und die wenigen frauenfeindlichen Beleidigungen kann ich verzeihen, weil sie von rebellischen Jugendlichen ausgesprochen werden. In vielen von Männern geschriebenen Autobiografien und Romanen spielen Frauen nur am Rande eine Rolle, aber scheinen kein Eigenleben zu haben. In „Herkunft“ ist das anders: Das Buch enthält viele starke weibliche Figuren, die ihrer Zeit zum Teil sogar weit voraus und sehr modern waren. Besonders die Großmütter sind hier positiv hervorzuheben. Immer wieder wird mit Geschlechterstereotypen gebrochen, sie werden nur selten reproduziert. Außerdem werden Sexismus und Gleichberechtigung angesprochen, was mir sehr gut gefallen hat. Ich habe dadurch Saša Stanišić als modernen, sympathischen Autor abgespeichert, dem ich sicher in Zukunft noch eine Chance geben werde!

Mein Fazit

Nach den positiven Rezensionen und dem Gewinn des Buchpreises waren meine Erwartungen sehr hoch, umso größer war dann auch meine Enttäuschung. Dabei mochte ich den flüssigen, teilweise mündlichen geprägten Schreibstil, den Humor, die vereinzelten schönen, poetischen Sätze und die Reflexionen und Sprachexperimente des Autors eigentlich. Trotzdem konnte mich seine Sprache nie ganz erreichen, mitreißen und begeistern. Den Protagonisten des Romans fand ich hingegen unheimlich sympathisch und liebenswert. Ich mochte seine intelligente, unaufgeregte Art und seine Fähigkeit, sich über kuriose Eigenheiten beider Kulturen liebevoll zu amüsieren. Die anderen Figuren bleiben leider mit einigen Ausnahmen blass. Was die feministische Analyse betrifft, bekommt der Autor aufgrund seiner starken weiblichen Figuren alle Punkte! Ich fand die atmosphärischen Beschreibungen der Schauplätze gelungen, doch insgesamt empfand ich „Herkunft“ leider als sehr langatmig und hätte es stellenweise am liebsten abgebrochen. Das episodenhafte Erzählen, die Zeitsprünge und das Fehlen einer linearen Handlung machten es mir schwer, in die Geschichte einzutauchen und sie zu genießen. Die Mischung aus Geschichten über die Familie, persönlichen Erinnerungen, Reflexionen und geschichtlichen Einschüben fand ich stellenweise tiefgründig, gelungen, berührend, interessant, charmant und witzig, stellenweise aber auch oberflächlich und sehr zäh. Sehr gut gefallen hat mir der innovative und erfrischende Schlussteil. Kurz: Mich konnte dieser Roman leider nicht so überraschen, begeistern, berühren, zum Nachdenken bringen und überzeugen, wie ich mir das von einem Buchpreis-Gewinner und hochgelobten Buch gewünscht hätte. Geschmäcker sind glücklicherweise verschieden – meinen konnte Saša Stanišić mit „Herkunft“ aber leider nicht treffen. Ich werde das Buch zwar nicht zum Geburtstag verschenken, trotzdem würde ich euch empfehlen, ihm eine Chance zu geben, da es so vielen Menschen so gut gefallen hat. Ich selbst werde dem Autor bestimmt auch noch eine Chance geben!

Bewertung

Idee: 4 Lilien
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Lilien
Umsetzung: 3 Lilien
Worldbuilding: 3 Lilien
Einstieg: 2 Lilien
Ende / Auflösung: 5 Lilien ♥
Schreibstil: 3 Lilien
Protagonist: 5 Lilien ♥
Figuren: 3 Lilien
Spannung: 2 Lilien
Atmosphäre: 4 Lilien
Emotionale Involviertheit: 3 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 5 Lilien ♥

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir drei Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 06.03.2020

Beklemmende Schilderungen des Krieges mit sehr blassen weiblichen Figuren, aber starkem letzten Viertel - davor leider langatmig

Winterbienen
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Vorsicht: Die Rezension enthält leichte Spoiler!

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): nicht bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: ...

Vorsicht: Die Rezension enthält leichte Spoiler!

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): nicht bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: keine! ♥

Inhalt

Es sind die letzten Monate des Krieges, während der Egidius Arimond in der Eifel seine Gedanken und seinen Alltag in einem Notizbuch festhält – nur weiß das zu diesem Zeitpunkt niemand. Aufgrund seiner Epilepsie wurde er als untauglich eingestuft und muss daher im Gegensatz zu seinem Bruder, der als Pilot kämpft, nicht in den Krieg ziehen. Egidius kümmert sich um seine Tiere, unterhält Affären mit verschiedenen Frauen aus dem Dorf und liebt es, seine Bienen zu beobachten. Um sich etwas dazuzuverdienen und sich so weiter die lebenswichtigen Medikamente gegen seine Krankheit leisten zu können, schmuggelt er in Bienenstöcken Juden über die belgische Grenze. Doch der Krieg erreicht langsam die Eifel und die illegalen Fahrten zur Grenze werden immer gefährlicher…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, kurz figuraler Erzähler, Präsens
Perspektive: männliche Perspektive
Kapitellänge: sehr kurz
Tiere im Buch: +/- Einerseits isst der Protagonist kein Fleisch und kümmert sich sehr gut und liebevoll um seine Tiere, andererseits entnimmt er Honig und tötet unfruchtbare Königinnen und kranke Larven. Außerdem gibt es Beschreibungen von Soldaten, die Tiere essen und töten (Schweine, Katzen, Hunde). Eine Ratte und unzählige Drohnen werden von Bienen grausam getötet. Bienenvölker werden bei Bombenangriffen getötet und jemand trägt einen Echtfellmantel.

Warum dieses Buch?

Da das Buch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019 war und viele gute Kritiken erhalten hat, wurde ich neugierig und wollte den Roman auch lesen. Zudem interessierten mich sowohl die Kriegs- als auch die Bienenthematik.

Meine Meinung

Aller Anfang ist schwer (Einstieg: 1 Lilie)

Der Einstieg fiel mir leider sehr schwer – es dauerte länger als bis zur Hälfte des Buches, bis ich zumindest halbwegs in der Geschichte angekommen war. Ich hatte lange Zeit das Gefühl, mich durch das Buch zu quälen, kam nur langsam voran und spielte immer wieder mit dem Gedanken, die Lektüre abzubrechen.

Ruhige, nüchterne Unaufgeregtheit (Schreibstil: 3 Lilien)

„Tagsüber summen Bienen auf eine andere Weise als in der Nacht, und im Sommer anders als m Winter; ihr Chor klingt wie eine gleichmäßig schwingende Melodie, die von ihren zarten Flügelchen erzeugt wird.“ E-Book, Position 540

Norbert Scheuers Schreibstil ist von längeren, angenehm anspruchsvollen Satzstrukturen und einer gleichzeitig einfachen, authentisch alltäglichen Wortwahl geprägt. Einerseits fand ich den ruhigen, unaufgeregten Schreibstil des Autors angenehm und liebte die liebevollen Beschreibungen der Bienenvölker, andererseits war er mir oft auch zu nüchtern und emotionslos. Zudem empfand ich ihn über weite Strecken des Buches als sehr zäh und langatmig. Das lag vor allem an den inhaltlichen Wiederholungen und den häufigen und detaillierten Beschreibungen des Wetters.

Bienen, Krieg, Affären und Frauen als leblose Requisiten (Inhalt, Themen & Ende: 3 Lilien)

„Ich verheimliche ihr, dass es immer gefährlicher wird wegen der Feindflieger, die nun alles angreifen, was sie sehen; selbst spielende Kinder und auf den Feldern arbeitende Bauern werden gejagt.“ E-Book, Position 1918

In der Danksagung verrät der Autor, dass seine Geschichte auf den wahren Tagebuchaufzeichnungen eines Lehrers aus Krall basiert. Diese Tatsache lässt den Roman noch einmal in einem ganz anderen Licht erscheinen. Man merkt an der langen Lektüreliste mit zahlreichen Literaturtipps für Interessierte, dass der Autor sorgfältig recherchiert hat. Tatsächlich fand ich die Beschreibungen des komplexen Verhaltens der Bienen hoch interessant. Ich konnte viel dazulernen und war beeindruckt und fasziniert von der Kommunikation, dem Zusammenleben und den unglaublichen Leistungen der Bienen. Am Ende gibt es übrigens ein hilfreiches Glossar mit Fachausdrücken aus der Imkerei.

Norbert Scheuers Roman behandelt Themen wie Einsamkeit, Angst, Krieg, Krankheit und Natur tiefgründig, aber über weite Strecken auch langatmig. Beeindruckt hat mich der Mut des Protagonisten, der in entscheidenden Momenten selbstlos sein Leben riskiert, um ein anderes zu retten. Besonders gegen Ende haben mich die ungeschönten Schilderungen des Krieges, von Tod und Leid, der Bombardierungen und der Brutalität der deutschen Soldaten wirklich schockiert, deprimiert und sehr betroffen gemacht. Durch die Lektüre werden die eigenen Probleme relativiert und man empfindet große Dankbarkeit, in Frieden leben zu dürfen.

Auch das Liebesleben von Egidius, das durch unzählige, scheinbar bedeutungslose Affären geprägt ist, spielt – leider – eine große Rolle. Auch wenn ich im Vorhinein nicht gewusst hätte, wer dieses Buch geschrieben hat, wäre mir beim Lesen irgendwann der Begriff „alter, weißer Mann“ durch den Kopf geschossen. Der Roman mit seinem Frauenheld, dem alle Frauen zu Füßen zu liegen scheinen, mutet wie eine männliche Fantasie an. Egidius schmachtet Frauen an und scheint sie nur für ihr Aussehen zu begehren, sich aber (mit einer Ausnahme) nicht für ihre Gefühle oder Gedanken zu interessieren. Das gruselige Sammeln von Lockenwicklern seiner Eroberungen kann man sich noch schönreden (vielleicht braucht er immer wieder neue für die Fahrten zur Grenze), aber er versucht sogar seine Cousine zu küssen und tröstet sich sofort mit einer anderen, wenn eine Frau mal nicht will. Oft wirkte es, als wären Frauen für Egidius austauschbare Objekte, wodurch er mir sehr unsympathisch wurde. Er nutzt es zudem schamlos aus, dass die meisten Männer im Krieg sind und wirkte auf mich stellenweise sehr egoistisch. So hofft er zum Beispiel, dass Marias Mann schnell wieder an die Front muss, damit er wieder mit ihr schlafen kann. Problematisch finde ich zudem auch, dass das Buch den Bechdel-Test nicht besteht und dass bis auf Maria keine der Frauen ein Eigenleben zu haben scheint. Sie wirken alle wie leblose Requisiten, die nur dazu da sind, die Geschichte des Helden auszuschmücken. Für eine solche nicht mehr zeitgemäße Vernachlässigung der weiblichen Figuren gibt es natürlich Punkteabzug!

Erst gegen Ende konnte mich das Buch, dem vielleicht auch aufgrund der fast vollkommen fehlenden Dialoge (was natürlich in einem Tagebuch authentisch ist) eine gewisse Lebendigkeit fehlt, emotional aufwühlen und berühren. Den Schluss empfand ich (in Kombination mit der Danksagung, die unbedingt gelesen werden sollte) als sehr stark und erinnerungswürdig, wodurch mein Urteil etwas milder ausfiel. Im Nachhinein hat sich das Durchhalten doch gelohnt.

„[…] jedes Volk hat seinen eigenen Duft und seine besondere Melodie, ein leises an- und abschwellendes Raunen, als würden sich zahllose Stimmen leise und vertraut unterhalten.“ E-Book, Position 708

Es ist kompliziert (Protagonist: 3,5 Lilien & Figuren: 1,5 Lilien)

Obwohl mir Egidius stellenweise sehr unsympathisch war, mochte ich viele Seiten an ihm wirklich gern. Ich schätzte seine Ruhe, seine Freundlichkeit, seine Liebe zu seinen Bienen und sein großes Herz für Menschen in Gefahr. Gegen Ende, als es ihm gesundheitlich immer schlechter ging, merkte ich, dass er mir doch in gewisser Weise ans Herz gewachsen war, weil er mir doch sehr leidtat und weil ich gehofft habe, dass es für ihn ein gutes Ende geben wird. Schade fand ich, wie schon weiter oben erwähnt, dass alle Frauen im Buch sehr blass und austauschbar bleiben.

Ein großartiges letztes Viertel als Belohnung fürs Durchhalten (Spannung & Atmosphäre: 2 Lilien)

Leider empfand ich das Buch trotz der sehr kurzen Kapitel, die die Lektüre immerhin ein bisschen beschleunigten, und trotz punktuell spannender Momente bis weit über die Hälfte als sehr langatmig. Erst im letzten Viertel des Buches, als die unmittelbaren Kriegsauswirkungen immer schlimmer und erschreckender werden und als auch Egidius zunehmend mit seinen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat, stieg die Spannungskurve an. Die letzten Seiten konnten mich emotional erreichen und für mich noch einmal viel retten, trotzdem sind die spannungslosen Seiten davor natürlich nicht vergessen. Auch atmosphärisch hat mich das Buch erst gegen Ende richtig überzeugen können.

Viel Luft nach oben (Feministischer Blickwinkel: 1 Lilie)

Die Geschlechterstereotypen verzeihe ich bis zu einem gewissen Grad, weil der Roman in einer anderen Zeit spielt. Zusätzlich zum nicht bestandenen Bechdel-Test und den blassen weiblichen Figuren haben mich aber noch einige weitere Dinge gestört: Eine Frau mit Spinnenphobie wird als hysterisch bezeichnet, ein Geistlicher vergewaltigt eine Magd, was in keiner Weise kritisiert wird. Gestört hat mich auch ein sehr seltsamer Gedanke von Egidius. Er hofft in einem Satz, dass eine junge Frau, die von mehreren Soldaten vergewaltigt wurde und deren Baby (das sich auf ihrem Rücken in einem Rucksack befand) dabei getötet wurde, doch hoffentlich irgendwann vergessen könne, was ihr angetan wurde. Wie bitte? Ich fragte mich unweigerlich, ob eine weibliche Autorin jemals einen solchen Satz formulieren würde und konnte ehrlich nur den Kopf schütteln. Es wird deutlich: einer feministischen Analyse hält diese Geschichte nicht stand.

Mein Fazit

Wäre der ganze Roman so stark und überzeugend wie sein letztes Viertel, würde er von mir alle fünf Sterne bekommen. Leider hat mich das von LeserInnen und KritikerInnen hoch gelobte „Winterbienen“ aber insgesamt enttäuscht. Der Einstieg ins Buch fiel mir sehr schwer. Einerseits fand ich den ruhigen, unaufgeregten Schreibstil des Autors angenehm und liebte die Beschreibungen der Bienenvölker, andererseits war er mir oft auch zu nüchtern, emotionslos und langatmig. Begeistern und faszinieren konnten mich die hoch interessanten, lehrreichen Beschreibungen des komplexen Verhaltens der Bienen. Norbert Scheuers Roman behandelt Themen wie Einsamkeit, Angst, Krieg, Krankheit und Natur tiefgründig. Beeindruckt hat mich der Mut des Protagonisten, der selbstlos sein Leben riskiert, um ein anderes zu retten. Besonders gegen Ende haben mich die ungeschönten Schilderungen des Krieges schockiert, deprimiert und sehr betroffen gemacht. Auch das Liebesleben von Egidius, das durch zahlreiche, scheinbar bedeutungslose Affären geprägt ist, spielt – leider – eine große Rolle. Der Roman mit seinem Helden, dem alle Frauen zu Füßen zu liegen scheinen, mutet wie eine männliche Fantasie an. Egidius scheint die Frauen nur für ihr Aussehen zu begehren, sich aber nicht für ihre Gefühle oder Gedanken zu interessieren. Oft wirkte es, als wären Frauen für Egidius austauschbare Objekte, wodurch er mir sehr unsympathisch wurde. Problematisch finde ich zudem auch, dass bis auf Maria keine der Frauen ein Eigenleben zu haben scheint. Sie wirken alle wie leblose Requisiten, die nur dazu da sind, die Geschichte des Helden auszuschmücken. Für eine solche nicht mehr zeitgemäße Vernachlässigung der weiblichen Figuren gibt es natürlich Punkteabzug! Obwohl mir Egidius stellenweise sehr unsympathisch war, mochte ich viele Seiten an ihm wirklich gern. Ich schätzte seine Ruhe, seine Freundlichkeit, seine Liebe zu seinen Bienen und sein großes Herz für Menschen in Gefahr. Gegen Ende merkte ich, dass er mir doch in gewisser Weise ans Herz gewachsen war. Leider empfand ich das Buch trotz der sehr kurzen Kapitel und trotz punktuell spannender Momente bis weit über die Hälfte als sehr langatmig. Ich hatte lange Zeit das Gefühl, mich durch das Buch zu quälen, kam nur langsam voran und spielte immer wieder mit dem Gedanken, die Lektüre abzubrechen. Das großartige letzte Viertel, das mich endlich emotional erreichen und noch einmal viel retten konnte, und den Schluss fand ich dann aber sehr stark und erinnerungswürdig, wodurch mein Urteil etwas milder ausfiel. Im Nachhinein hat sich das Durchhalten für mich doch gelohnt. Eine Leseempfehlung kann ich trotzdem nicht aussprechen.

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Lilien
Umsetzung: 3 Lilien
Worldbuilding: 4 Lilien
Einstieg: 1 Lilie
Schreibstil: 3 Lilien
Protagonist: 3,5 Lilien
Nebenfiguren: 1,5 Lilien
Spannung: 2 Lilien
Atmosphäre: 2,5 Lilien
Ende / Auflösung: 5 Lilien ♥
Emotionale Involviertheit: 3 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 1 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir drei Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.02.2020

Düsterer, angenehm geschriebener Pageturner, dem es leider an Tiefe & dreidimensionalen, sympathischen Figuren fehlt

Vicious - Das Böse in uns
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Spoilerfreie Rezension!

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): nicht bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: keine! ♥

Inhalt

Als ...

Spoilerfreie Rezension!

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): nicht bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: keine! ♥

Inhalt

Als junge Medizinstudenten haben sich Eli und Victor mit extraOrdinären Menschen – Menschen, die nach einer Nahtoderfahrung Superkräfte entwickelt haben – beschäftigt und einige im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährliche Experimente durchgeführt. Immer besessener forschten sie an dem Thema, bis sie versuchten, selbst zu solchen extraOrdinären Personen zu werden. Seitdem ist viel passiert. Nach zehn Jahren gelingt Victor endlich der Ausbruch aus dem Gefängnis, in dem wegen Eli gelandet ist – und er hat nur ein Ziel: Rache…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #1 (Auftakt) der „Villains“-Reihe
Verlag: FISCHER Tor
Seitenzahl: 400
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: weibliche und männliche Perspektive (mehrere)
Kapitellänge: kurz
Tiere im Buch: + Im Buch wird ein Hund angefahren und zweimal getötet (einmal aus Versehen und einmal aus Gnade), beide Male wird er jedoch wiederbelebt. Er wird von einem Mädchen liebevoll umsorgt. Zusätzlich wird ein Hamster wiederbelebt.

Warum dieses Buch?

Da ich düstere Geschichten liebe, machten mich Cover, Titel und Klappentext sofort neugierig. Außerdem hatte ich schon viel Gutes in Buchcommunitys über das Buch gehört.

Meine Meinung

Einstieg (5 Lilien ♥)

Der Einstieg ist mir sofort und problemlos gelungen. Schon nach dem ersten Kapitel, in dem ein kleines Mädchen und ein Mann eine Leiche auf einem Friedhof ausgraben, ist die Neugier geweckt und man will wissen, wie es weitergeht.

Schreibstil & Dialoge (5 Lilien ♥)

„Die wichtigen Momente sind nicht immer lang und bedeutungsschwer. Zwischen einem Schluck und dem nächsten beging Victor den größten Fehler seines Lebens, und er bestand nur aus einem Satz. Vier kleine Wörter.
‚Ich gehe als Erster.‘“ E-Book, Position 607

Den schnörkellosen Schreibstil von V. E. Schwab fand ich sehr flüssig und unheimlich angenehm. Für junge Erwachsene oder ältere Jugendliche (das ist meiner Meinung nach die Zielgruppe) ist er perfekt geeignet: Er ist anschaulich, einfach, dabei aber nicht oberflächlich. So lässt sich das Buch wahnsinnig schnell lesen. Ich bin nur so durch die Seiten geflogen!

Inhalt, Themen & Ende (3 Lilien)

V. E. Schwabs Idee für diesen Racheroman ist vielleicht nicht ganz neu, jedoch gelingt es der Autorin, bekannte Handlungsstrukturen so zusammenzufügen und mit eigenen Einfällen zu ergänzen, dass ein spürbar eigenes Werk dabei herausgekommen ist. Im Vorfeld hatte ich so viel Gutes über diesen angeblich ungewöhnlichen Fantasy-Roman gehört, dass meine Erwartungen sehr hoch waren. Leider kann ich den Hype nicht wirklich nachvollziehen – deshalb folgt eine „unpopular opinion“.

Die Autorin erzählt das Buch nicht chronologisch, sondern auf vielen verschiedenen Zeitebenen. Zahlreiche Rückblenden erklären nach und nach wie es zur Feindschaft zwischen Eli und Victor kam. Mich hat beeindruckt (hierfür ein großes Lob!), dass es trotz der vielen Zeitsprünge niemals verwirrend wurde – die Orientierung war überhaupt kein Problem, ich wusste immer sofort, wo ich mich in der Geschichte befinde. Ich hatte mir das Buch viel brutaler vorgestellt, als es schlussendlich war. Es gibt leichte Folterszenen und einige Morde, keiner davon ist aber besonders brutal oder grausam. Dennoch sollte das Buch aufgrund der gewissenlosen ProtagonistInnen frühestens von älteren Jugendlichen (vielleicht 16 aufwärts) gelesen werden – auch wenn ich persönlich keine Empfehlung für Teenager aussprechen würde. Es gibt meiner Meinung nach bessere und vor allem moralisch weniger fragwürdige Bücher, von denen Jugendliche tatsächlich profitieren können.

Die Geschichte, die oftmals Cliffhanger und gelungene dramatische, filmische (manchmal auch etwas klischeehafte) Szenen enthält, steuert unaufhaltsam auf ein Ziel zu, es gibt keine Nebenhandlungen, nichts Unerwartetes neben dem Rachemotiv. Hier hat mir irgendwie etwas gefehlt, das Buch fühlte sich für mich etwas flach an – es hat mich nicht beeindruckt und ließ mich mit einem unbefriedigten „Wozu hab ich das eigentlich gelesen?“-Gefühl zurück, obwohl mir das Ende eigentlich sehr gut gefallen hat.

Der Roman begann meiner Meinung nach sehr stark – ich dachte sogar im ersten Drittel, dass ich ein neues Lieblingsbuch vor mir habe. Leider ließ er im Anschluss nach, weil die Autorin es versäumte, in die Tiefe zu gehen. Viele ihrer durchaus interessanten Themen wie Tod, Freundschaft, Schuld, Familie, Außenseitertum und die Frage, was gut und was böse ist, werden großteils leider nur oberflächlich behandelt. Ein größerer Logikfehler ist mir auch aufgefallen. Das Potential der Geschichte konnte leider nicht vollständig genutzt werden.

ProtagonistInnen & Figuren (2-3 Lilien)

„‘Ich habe keine Ahnung, wer du bist, aber du bist nicht Victor. Du bis etwas, das in seine Haut gekrochen ist. Ein Teufel in Menschengestalt.‘“ E-Book, Position 1566

Bei der Figurenzeichnung weist das Buch meiner Meinung nach leider die größten Schwächen auf. Die ProtagonistInnen und Nebencharaktere (die sich fast nur aus AntiheldInnen / AntagonistInnen zusammensetzen) wirkten auf mich flach, aufgrund ihrer Gewissenlosigkeit und ihres Egoismus unsympathisch und irgendwie wie leere Hüllen. Sie hatten nichts Lebendiges, Authentisches an sich, und nichts, was mich dazu gebracht hätte, mit ihnen mitzufühlen oder mitzufiebern. Ihr Schicksal blieb mir bis auf wenige Ausnahmen (Sydney und Mitch) egal. Sie schienen nur durch ihre Bösartigkeit definiert zu werden – das Buch wirbt ja sogar damit – aber wenn sie sonst nichts Interessantes an sich haben, reicht mir das leider nicht. Hier fehlten mir Tiefe, eine gewisse Liebenswürdigkeit (oder zumindest etwas Besonderes, Einmaliges) und das gewisse Etwas. Hat die Autorin wirklich erwartet, dass ich mich mit Serena, Eli oder Victor identifizieren kann?

Spannung & Atmosphäre (3-4 Lilien)

Das Buch beginnt und endet spannend – leider gibt es im Mittelteil einen Durchhänger, bei der die Geschichte an Tempo verliert. Meiner Meinung nach hätten dem Buch mehr unerwartete Wendungen gutgetan, denn es konnte mich nur selten überraschen und war etwas vorhersehbar. Dennoch fand ich „Vicious“ unterhaltsam und wollte immer wissen, wie es weitergeht. Die oftmals sehr kurzen Kapitel, die aus verschiedenen Perspektiven erzählt werden, machen das Buch auf jeden Fall zum Pageturner, weil man sich immer wieder denkt: „Das nächste Kapitel ist so kurz, das lese ich noch!“ Ein wunderbarer Teufelskreis! Auch die düstere Grundstimmung hat mir gefallen, auch wenn es noch ein bisschen mehr hätte sein dürfen.

Feministischer Blickwinkel (3 Lilien)

Was die Hauptfiguren betrifft, ist das Geschlechterverhältnis ausgeglichen. Sobald man sich jedoch bei den Nebencharakteren umsieht, wird deutlich, dass hier mehr männliche Personen vorkommen. Was hätte zum Beispiel dagegen gesprochen, eine weibliche Professorin unterrichten zu lassen, PolizistINNEN ins Buch zu schreiben oder den weiblichen extraOrdinären Menschen eine größere Rolle zu geben? Antwort: Nichts! Ansonsten wird jedoch großteils auf Geschlechterstereotypen verzichtet. Es gibt zum Beispiel einen sehr muskulösen, hart aussehenden Mann mit einer sanften Seele und einer Vorliebe für Schokomilch. Was ich an diesem Buch auch sehr schätze, ist, dass darin keine einzige frauenfeindliche Beleidigung vorkommt. Leider besteht das Buch jedoch den Bechdel-Test nicht, weil von den einzigen beiden weiblichen Hauptfiguren eine noch ein Kind und keine erwachsene Frau ist. Dieses Problem hätte man durch mehr weibliche Nebenpersonen lösen können.

Mein Fazit

„Vicious“ ist ein düsterer Fantasy-Roman, über den ich im Vorhinein viel Gutes gehört hatte und an den ich daher hohe Erwartungen hatte, die leider nicht erfüllt wurden. Überzeugen konnte mich der schnörkellose, angenehme, flüssig lesbare, anschauliche und für Jugendliche (ab 16) und junge Erwachsene perfekte geeignete Schreibstil. Ich bin deshalb nur so durch die Seiten geflogen! V. E. Schwabs Idee für diesen Racheroman ist vielleicht nicht ganz neu, jedoch ergänzt die Autorin gekonnt bekannte Handlungsstrukturen mit interessanten eigenen Einfällen. Der Roman beginnt sehr stark – ich dachte sogar im ersten Drittel, dass ich ein neues Lieblingsbuch vor mir habe. Leider lässt er dann nach, weil die Autorin es versäumt, bei interessanten Themen wie Tod, Freundschaft, Schuld, Familie, Außenseitertum und der Frage, was gut und was böse ist, in die Tiefe zu gehen. Ein größerer Logikfehler ist mir auch aufgefallen. Kurz: Das Potential der Geschichte konnte leider nicht vollständig genutzt werden. Bei der Figurenzeichnung weist das Buch meiner Meinung nach leider die größten Schwächen auf. Die ProtagonistInnen und Nebencharaktere wirkten auf mich flach, aufgrund ihrer Gewissenlosigkeit und ihres Egoismus unsympathisch und wie leere Hüllen. Sie hatten nichts an sich, was mich dazu gebracht hätte, mit ihnen mitzufühlen oder mitzufiebern. Ihr Schicksal blieb mir bis auf wenige Ausnahmen (Sydney und Mitch) egal. Sie schienen nur durch ihre Bösartigkeit definiert zu werden - hier fehlten mir Tiefe, eine gewisse Liebenswürdigkeit oder zumindest etwas Besonderes, das gewisse Etwas. Das Buch beginnt und endet spannend – leider gibt es im Mittelteil einen Durchhänger, bei der die Geschichte an Tempo verliert. Dennoch fand ich „Vicious“ unterhaltsam und wollte immer wissen, wie es weitergeht. Ich hatte mir das Buch zwar viel brutaler vorgestellt, als es schlussendlich war, dennoch sollte das Buch aufgrund der gewissenlosen ProtagonistInnen frühestens von älteren Jugendlichen (vielleicht 16 aufwärts) gelesen werden. Ich persönlich würde allerdings keine Empfehlung für Teenager aussprechen. Insgesamt ist „Vicious“ für mich ein Buch, das okay ist und das man lesen kann, das man aber nicht gelesen haben muss.

Bewertung

Idee: 4 Lilien
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Lilien
Umsetzung: 3 Lilien
Worldbuilding: 4 Lilien
Einstieg: 5 Lilien ♥
Schreibstil: 5 Lilien ♥
ProtagonistInnen: 2-3 Lilien
Nebenfiguren: 3 Lilien
Spannung: 3-4 Lilien
Atmosphäre: 3-4 Lilien
Ende / Auflösung: 5 Lilien
Emotionale Involviertheit: 2-3 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 3 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir drei Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 08.10.2019

Tolle Idee, aber viel verschenktes Potential & langatmige Umsetzung

Cold Storage - Es tötet
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In David Koepps Science-Fiction-Thriller „Cold Storage – Es tötet“ geht es um einen tödlichen Pilz, der (bis auf eine kleine Probe, die für Forschungszwecke genommen ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In David Koepps Science-Fiction-Thriller „Cold Storage – Es tötet“ geht es um einen tödlichen Pilz, der (bis auf eine kleine Probe, die für Forschungszwecke genommen wurde) 1987 gerade noch rechtzeitig vernichtet werden konnte. Im Jahr 2019 hören Teacake und seine Kollegin Naomi während ihrer Nachtschicht in einem Lagerhaus plötzlich ein leises Piepsen, das sie ins vierte Untergeschoss führt – ein Stockwerk, das es eigentlich gar nicht geben dürfte. Dort unten wartet der Pilz, der die gesamte Menschheit vernichten könnte, nur noch auf die passende Gelegenheit, das Lagerhaus zu verlassen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: HarperCollins
Seitenzahl: 336
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: männliche und weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: -! Das Buch ist für TierliebhaberInnen nicht immer einfach zu ertragen, da einige Tiere verletzt oder getötet werden. Eine Hirschkuh und eine Katze werden erschossen – bei der Hirschkuh ist es ein Gnadenschuss, der jedoch zuerst schiefgeht und dem Tier weitere Schmerzen bereitet, die Katze muss sterben, weil der Sohn einer Familie findet, dass sie wegen ihres Alters und ihrer Krankheiten zu teuer ist (obwohl die Eltern das Tier über alles lieben). Dieser dumme, egoistische Mann hat mich so wütend gemacht! Es gibt zudem einen Rattenkönig (Ratten, die an den Schwänzen zusammengewachsen sind) – die Ratten werden mit einem Metallrohr „erlöst“.

Warum dieses Buch?

Nicht nur das Cover und der Klappentext haben mich sofort neugierig gemacht, sondern auch die Tatsache, dass der Autor als Drehbuchschreiber bei „Jurassic Park“ mitgewirkt hat – einem Film, den ich absolut liebe. Außerdem bin ich ein Fan von Endzeitszenarien: Egal ob es um Zombieapokalypsen, tödliche Viren oder den Zusammenbruch der Wasserversorgung geht - ich bin dabei! Spannung, sympathische Figuren und Humor wurden ebenfalls in der Buchbeschreibung versprochen - das Buch klang wie für mich gemacht!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Das Buch beginnt mit einem wunderbaren, herrlich Furcht einflößendem Prolog, den ich absolut großartig fand. Auch danach ist mir der Einstieg sehr schnell und gut gelungen, da der erste Teil der Handlung äußerst spannend und interessant ist.

Schreibstil (+/-)

Dass man bei „Cold Storage“ kein literarisches Meisterwerk erwarten darf, sondern dass Action und Horror im Vordergrund stehen, sollte einem im Vorhinein klar sein. Wenn man weiß, worauf man sich einlässt, ist der Schreibstil durchaus flüssig, einfach und angenehm zu lesen. Leider blieb mir die Sprache stellenweise aber auch zu oberflächlich und spannungsarm, mir war es oft zu viel „tell“ und zu wenig „show“. Zudem wurden manche Fachbegriffe nicht ausreichend erklärt, was ich manchmal etwas frustrierend fand.

Auf ganzer Linie überzeugt hat mich hingegen, dass eindrucksvoll gezeigt wurde, wie sich die Gedanken der Infizierten verändern, sobald sie mit dem Pilz in Berührung gekommen sind. Während im Körper gerade Chaos ausbricht, stillt der Pilz die Schmerzen und suggeriert seinen Opfern, dass alles in bester Ordnung ist. Da fragen sie sich zum Beispiel plötzlich vollkommen zusammenhanglos, wo der nächste Telefonmasten ist, ohne richtig zu verstehen, was eigentlich in ihnen vorgeht. Ihre Gedanken werden instinktgetrieben und animalisch. Der Autor verzichtet zunehmend auf Interpunktion und schildert die sprunghaften Gedanken der Betroffenen auf unheimliche Weise. Das fand ich großartig!

„Ich muss da rein die Tür ist zu ich muss da rein ich muss Tür ist zu“ Seite 217

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

David Koepp hatte ohne Frage eine sehr gute Idee und hat sehr genau recherchiert. Das sieht man an den vielen detaillierten und meist auch bis zu einem gewissen Grade glaubwürdigen Beschreibungen des Pilzes und der biochemischen Vorgänge. Der Autor hat in seinem Buch einen absolut Furcht einflößenden Pilz erschaffen, der unglaublich intelligent und anpassungsfähig ist und uns LeserInnen das Fürchten lehrt. Man kann nur hoffen, dass so ein Pilz niemals durch eine Mutation entsteht oder künstlich im Labor erschaffen wird. Sehr spannend fand ich auch, dass wir immer wieder Einblicke in die „Denkweise“ des Pilzes erhalten und dass die Geschichte daher in gewisser Weise auch aus seiner Sicht erzählt wird.

Dabei gleicht das Buch stellenweise einem Splatter-Film und enthält durchaus ironische Anspielungen auf das Genre und überzogene Szenen. Auch viele Action-Szenen gibt es – leider sind diese aber nicht halb so „herausragend“ und gelungen, wie dies im Klappentext versprochen wurde. Vielleicht habe ich einfach schon zu viele Filme dieser Art gesehen, aber die Kampfszenen konnten mir nicht viel mehr als ein müdes Lächeln entlocken. Während ich den ersten Teil, der in der Vergangenheit spielt, als absolut spannend und gelungen empfand, sank die Spannung leider in den Keller, als die Handlung in die Gegenwart sprang. Das liegt daran, dass sich die Geschichte immer wieder in langatmigen Beschreibungen des Lebens der Figuren verliert. Bis zum Ende erreicht die Geschichte nie mehr das Spannungslevel des Beginns. So ist ein Thriller entstanden, der insgesamt ganz nett zu lesen ist, der mich aber leider nicht ganz überzeugen konnte und mir (bis auf den Pilz selbst) sicher nicht lange in Erinnerung bleiben wird.

Der Humor, der auf der Buchrückseite angepriesen wurde, war eher spärlich gesät und traf nicht immer meinen Geschmack. Auch hier habe ich mir einfach mehr erwartet. Viele Themen wie Elternschaft, Eheprobleme, Depression etc. werden kurz angeschnitten, doch der Autor geht nur selten in die Tiefe – und wenn er es tut, dann auf eine langatmige Weise. Die Geschichte endet mit einem durchschnittlichen Schluss, der mich ebenfalls nicht in Begeisterungsstürme verfallen ließ.

„Im Grunde musste er sie vielmehr aufspüren, als ihr zufällig zu begegnen. Allerdings wirkte es immer ein wenig unheimlich, wenn man einer attraktiven Frau „zufällig“ begegnete und dabei total verschwitzt und außer Atem war.“ Seite 73

ProtagonistInnen & Figuren (+/-)

Auch die sehr sympathischen Figuren habe ich in diesem Buch vergeblich gesucht. Alle Hauptfiguren bis auf Naomi (die ich mochte) fand ich okay, sie waren mir „mittelsympathisch“, konnten mich aber nicht wirklich berühren. Vielleicht war ich deshalb ein wenig distanziert und habe nicht auf jeder Seite mitgefühlt und um das Leben der ProtagonistInnen gebangt. Teacake fand ich außerdem etwas nervig. Es fehlte mir oft das gewisse Etwas. Die Nebenfiguren blieben blass oder waren extrem unsympathisch.

„Es war immer dasselbe. Wenn Frauen klug genug waren, ihn zu durchschauen, waren sie auch klug genug, ihn nicht näher kennenzulernen.“ Seite 84

Spannung & Atmosphäre (-!)

Was Spannung und Atmosphäre betrifft, konnte der Autor im ersten, hoch interessanten und spannenden Teil absolut glänzen. Man versteht schnell, wie tödlich und eigentlich unbesiegbar dieser Pilz ist, und gruselt sich, als die SoldatInnen und die Wissenschaftlerin in der Wüste auf ein Dorf voller Leichen stoßen. Leider nimmt die Spannung im zweiten Teil schnell ab und bot nicht genügend unerwartete Wendungen und Spannungsmomente, um mich zu fesseln. Die Genre-Zuordnung „Thriller“ hat das Buch meiner Meinung nach nicht wirklich verdient. Schade, dass das Potential einer tollen Idee nicht ausgeschöpft werden konnte.

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Es gab ein paar Dinge, die mir gut gefallen haben: Ein Mann putzt, am Beginn ist Roberto einer Frau unterstellt, auch die Wissenschaftlerin ist weiblich, Sexismus wird angesprochen und Naomi ist eine sehr intelligente und starke Frau, die auch nach der Geburt ihres Kindes noch arbeitet und sich weiterbildet. Zudem hat Teacake zwei Mütter und das Buch besteht – wenn auch nur durch einen winzigen Dialog – sogar den Bechdel-Test.

Es hat aber auch einige Dinge gegeben, die mir überhaupt nicht gefallen haben: Zum einen gibt es vereinzelt frauenfeindliche Sprache wie „Hu+++sohn“ und „Teenagerschla+++“, zum anderen wird auch Machtmissbrauch thematisiert. Ein erwachsener Mann schläft mit Minderjährigen und ein Mann stalkt eine Frau. Immerhin reagiert sie angemessen wütend darauf und er sieht ein, dass er einen Fehler gemacht hat. Sehr aufgeregt haben mich die Gedanken eines Mannes, der sauer ist, weil er von seiner Frau „nicht bekam, was ihm zustand“. Was ist das bitte für ein ekelhaftes Anspruchsdenken? Niemandem steht Sex mit einer Frau zu – auch nicht in der Ehe! Rape Culture lässt grüßen!

Mein Fazit

„Cold Storage“ ist ein Science-Fiction-Thriller, der insgesamt ganz nett zu lesen ist, von dem ich mir aber viel mehr erwartet habe und der mich leider nicht auf ganzer Linie überzeugen konnte. Einem herrlich Furcht einflößendem Prolog folgen ein hoch interessanter, spannender erster Teil und ein enttäuschender, zäher und langatmiger zweiter Teil. Das liegt daran, dass sich die Geschichte immer wieder in langatmigen Beschreibungen des Lebens der Figuren verliert. Bis zum Ende kann sich die Geschichte nicht mehr von diesem Spannungseinbruch erholen. „Cold Storage“ ist zwar kein literarisches Meisterwerk, aber der Schreibstil lässt sich flüssig und angenehm lesen. Leider blieb mir die Sprache stellenweise aber auch zu oberflächlich und spannungsarm, manche Fachbegriffe wurden nicht ausreichend erklärt. Auf ganzer Linie überzeugt hat mich hingegen, dass eindrucksvoll und auf faszinierende Weise gezeigt wurde, wie sich die Gedanken der Infizierten verändern, sobald sie mit dem Pilz in Berührung gekommen sind. David Koepp hatte ohne Frage eine sehr gute Idee und hat sehr genau recherchiert. Das sieht man an den vielen detaillierten Beschreibungen des Pilzes und der biochemischen Vorgänge. Der Autor hat in seinem Buch einen absolut Furcht einflößenden Pilz erschaffen, der unglaublich intelligent und anpassungsfähig ist. Sehr spannend fand ich auch, dass wir immer wieder Einblicke in die „Denkweise“ des Pilzes erhalten und die Geschichte daher in gewisser Weise auch aus seiner Sicht erzählt wird. Dabei gleicht das Buch stellenweise einem Splatter-Film und enthält durchaus ironische Anspielungen auf das Genre und überzogene Szenen. Auch Action-Szenen gibt es – leider sind diese aber nicht halb so „herausragend“, wie dies im Klappentext versprochen wurde. Der Humor, der in der Buchbeschreibung angepriesen wurde, war eher spärlich gesät und traf leider nicht immer meinen Geschmack. Viele Themen wie Elternschaft, Eheprobleme, Depression etc. werden kurz angeschnitten, doch leider geht der Autor meist nicht in die Tiefe. Alle Hauptfiguren bis auf Naomi (die ich mochte) fand ich okay, sie waren mir „mittelsympathisch“, konnten mich aber nicht berühren oder ganz überzeugen. Es fehlte mir oft das gewisse Etwas, die Nebenfiguren blieben zudem blass oder waren extrem unsympathisch. Kurz: „Cold Storage“ ist ein mittelmäßiges Buch, das mich leider nicht auf ganzer Linie überzeugen konnte und das mir bestimmt auch nicht lange in Erinnerung bleiben wird. Schade, dass das Potential einer tollen Idee nicht ausgeschöpft werden konnte.

Bewertung

Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Sterne
Umsetzung: 3 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 3,5 Sterne
ProtagonistInnen: 3 Sterne
Nebenfiguren: 2 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Atmosphäre: 2 Sterne
Ende / Auflösung: 3 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +/-

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt gerade so drei Lilien!

Veröffentlicht am 03.09.2019

Starker Beginn & wunderschöner Schreibstil, aber auf hohe Erwartungen folgte leider Ernüchterung

Washington Black
1

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Schon auf den ersten Seiten tauchen wir ein in eine Geschichte, die uns ins Jahre 1830 nach Barbados entführt. Auf einer Zuckerplantage ändert sich für die vielen SklavInnen ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Schon auf den ersten Seiten tauchen wir ein in eine Geschichte, die uns ins Jahre 1830 nach Barbados entführt. Auf einer Zuckerplantage ändert sich für die vielen SklavInnen alles, als der alte Besitzer stirbt und sein jünger, viel grausamerer Nachfolger seinen Dienst antritt. Auch das junge Leben von Washington ändert sich von heute auf morgen, als er zum Assistenten von Titch, dem Bruder des Besitzers, gemacht wird. Denn Titch ist ein Wissenschaftler, der an einem Wolkenkutter tüftelt, der bald fliegen soll. Als etwas Schlimmes passiert, beschließt Titch mit Washington zu fliehen. Es wird der erste Flug der Maschine sein - und das in einer finsteren, stürmischen Nacht...

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Eichborn
Seitenzahl: 512
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: männliche Perspektive
Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: -! Für TierliebhaberInnen ist dieses Buch nicht leicht zu ertragen: Es wird in diesem Buch viel Fleisch und Fisch gegessen, Tiere werden ausgestopft und in der Wildnis zum Zwecke einer Ausstellung gefangen. Viele werden absichtlich getötet, andere sterben versehentlich, weil die Bedingungen in den Aquarien nicht passen. Es wird gejagt, Tiere werden erschossen, mit toten Tieren wird pietätlos umgegangen und es gibt mindestens einen Fall von Tierquälerei. Das Bemühen von Wash, die Tiere gut zu versorgen und sich für eine lebendige Ausstellung einzusetzen, wiegt die zahlreichen problematischen Punkte keinesfalls auf.

Warum dieses Buch?

Über dieses Buch hatte ich im Vorfeld so viel Gutes gehört: Es war für Preise nominiert, wurde von verschiedenen Zeitschriften und Institutionen im englischsprachigen Raum zum „Buch des Jahres“ gekürt und war sogar eines der Lieblingsbücher von Ex-Präsident Obama. So viel Lob macht mich natürlich sofort neugierig, besonders da mich das letzte „Buch des Jahres“ – „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ – so begeistern konnte!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

„‘Wie ist das, Kit? Frei sein?‘ […]
‚Oh, Kind, das ist wie nichts in dieser Welt. Wenn du frei, du kannst machen, was du willst.‘“ E-Book, Position 161

Ich habe sehr schnell in die Geschichte gefunden. Man fühlt sofort mit dem jungen Washington mit, der bereits in seiner Kindheit als Sklave solche Grausamkeiten miterleben muss.

Schreibstil (♥)

„Er schien nicht gerade zu lächeln; in seinen Gesichtszügen lag eine Art unglückliche Heiterkeit, als freue sich jemand auf einer Beerdigung, eine lang nicht gesehene Tante zu treffen.“ E-Book, Position 2529

„Washington Black“ ist eine Geschichte, die in der ersten Person erzählt wird und in der wir als LeserInnen immer wieder direkt adressiert werden. Der Schreibstil ist mit Sicherheit die größte Stärke des Buches: Esi Edugyan schreibt sehr kraftvoll, angenehm und anschaulich, sodass ich sofort alles lebendig vor mir sehen konnte. Zudem ist ihre Sprache wunderschön – es gibt zahllose gelungene Vergleiche und Metaphern, weise Zitate und wunderbare Stellen, die man sich am liebsten alle rausschreiben möchte. Vor allem im ersten Teil schildert sie zudem Washingtons Gefühle – sein Misstrauen Titch gegenüber, seine Angst, seine Unsicherheit – sehr nuanciert und feinfühlig. Man hat sofort Mitleid mit ihm und ist erschüttert, was dieser Kinderseele alles angetan wird.

Lediglich bei den lateinischen Bezeichnungen für die Tiere hätte ich mir manchmal zusätzlich eine deutsche Übersetzung gewünscht, da ich viele der Lebewesen googeln musste.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

„Unter unserem neuen Master wurde es auf Faith zunehmend düster. […] James versuchte, wegzulaufen, also statuierten sie an ihm ein Exempel. Der Master befahl einem Aufseher, ihn vor unseren Augen bei lebendigem Leib zu verbrennen.“ E-Book, Position 139

Das Buch beginnt sehr stark mit Washingtons hartem Leben als Sklave auf der Zuckerplantage „Faith“ in Barbados. Nach dem Tod des alten Masters kommt ein jüngerer, viel grausamerer und sadistischer Mann an die Macht und nutzt diese aus, um seine Untergebenen zu quälen und ihnen jede Hoffnung zu rauben. Diese erste Hälfte des Buches konnte mich absolut überzeugen; sie war interessant, schockierend und hat mich immer wieder sehr wütend gemacht, da es solche erschreckenden Zustände früher wirklich gegeben hat.

Ab der abenteuerlichen Flucht von der Plantage ging es für mich aber leider bergab. Ich bin eigentlich ein Fan von Genrevermischungen, da sie manchmal sehr erfrischende, neuartige Bücher hervorbringen, doch hier finde ich die Verbindung aus historischem Roman mit Gesellschaftskritik, Coming-of-Age-Roman und Abenteuerroman nicht ganz gelungen; vor allem der Mittelteil schwächelte. Das Buch entwickelte viele Längen, es übte keinen Sog auf mich aus. So musste ich mich immer wieder aktiv motivieren, weiterzulesen. Viele überraschende Wendungen fand ich zwar sehr gelungen, doch irgendwann wurden mir die „praktischen Zufälle“ zu zahlreich und die Vorkommnisse zu unrealistisch, sodass die Geschichte stellenweise unglaubwürdig, sogar ein bisschen lächerlich und so wirkte, als würde sie sich über Bücher dieser Art lustig machen. Zudem fehlte mir vor allem im Mittelteil die erzählerische Tiefe. Vieles wird schnell, etwas lieblos und recht emotionslos abgehandelt, manchmal wirkt der Roman wie eine lose verbundene Aneinanderreihung von Geschehnissen.

Im Buch geht es um viele Dinge: um Sklaverei und das Leid, das dadurch verursacht wurde, um Einsamkeit, Abhängigkeit, um Enttäuschungen, um die faszinierenden Veränderungen und neuen Erkenntnisse, die die Welt und Wissenschaft damals geprägt haben, um Heimat, Familie und Freiheit. Zusätzlich sensibilisiert die Autorin uns auch für Rassismus, der mir in nächster Zeit sicher verstärkt auffallen wird. Obwohl ihre Themen sehr interessant sind und obwohl die Gesellschaftskritik stellenweise auch sehr gut gelungen ist, gelingt es der Autorin leider nicht immer, in die Tiefe zu gehen. Besonders im Mittelteil fehlten mir oft Beschreibungen des Innenlebens und der Gefühle des jungen Washington. Beispielsweise ist er auf der Plantage aufgewachsen und sieht das zum ersten Mal Schnee. Ein Moment voller Staunen – würde man meinen. Der bedeutende Augenblick wird aber nur kurz in einem Nebensatz abgehandelt.

Leider führt die Autorin ihre Geschichte zu einem für mich mehr als unbefriedigenden, fast schon ärgerlichen Ende. Der Schluss lässt nämlich viel zu viel Interpretationsspielraum zu, ist viel zu offen. Er kann nämlich auf zwei gegensätzliche Weisen verstanden werden – und bei der wahrscheinlicheren Möglichkeit davon handelt der Protagonist nicht nur schäbig, sondern auch sehr unglaubwürdig. Zudem bleiben so viele Aspekte ungeklärt – es gibt zu viele lose Fäden, zu viele offene Fragen, zu viele Dinge, die uns zuerst als wichtig präsentiert werden, dann aber im Nichts enden. Mir kam es leider so vor, als würde das Buch zu früh enden, als würde uns etwas Wichtiges vorenthalten. Insgesamt habe ich mir von „Washington Black“ leider mehr erwartet. Schade, ich habe mir so gewünscht, dass mich das Buch begeistert!

Protagonist & Figuren (+/-)

„‘Halte dich an das, was du siehst, Washington, nicht daran, was du sehen sollst.‘“ E-Book, Position 742

Washington fand ich als Hauptfigur gut gelungen. Er ist sehr intelligent und hat großes Talent, wird aber sein ganzes Leben aufgrund seiner Hautfarbe diskriminiert und beleidigt. Er war mir sympathisch, auch wenn er manchmal etwas unglaubwürdig handelt. Richtig ans Herz gewachsen ist er mir aber leider nicht.

Die anderen Figuren sind großteils sehr gut gelungen und liebevoll ausgearbeitet, auch wenn sie nur kurz in Washs Leben verweilen; trotzdem hätte ich über manche gerne noch mehr erfahren. Sie haben meist äußerliche Besonderheiten, sodass man sie leicht auseinanderhalten kann und nicht so schnell vergisst.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Während der erste Abschnitt sehr atmosphärisch beschrieben war – ich konnte die Hitze fast auf der Haut spüren, hatte Zuckergeruch in der Nase – und für mich nicht nur schockierend, sondern auch sehr interessant und spannend war, konnte der Mittelteil bei mir, auch was diesen Aspekt betrifft, leider nicht punkten. Vieles wurde zu schnell abgehandelt, oft fehlten Details, sodass die Geschichte nicht ganz rund wirkte und sowohl Spannung als auch Atmosphäre fehlten. Dieser Sog, der am Anfang spürbar war, verschwand leider und wollte bis zum Schluss nicht mehr so richtig zurückkommen. Schade!

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Das Geschlechterverhältnis ist unausgewogen, was ich aber bei einem historischen Roman in gewisser Weise verzeihe. Den Bechdel-Test besteht das Buch leider ebenfalls nicht, da es kein kein Gespräch zwischen zwei weiblichen Figuren gibt, in denen nicht über einen Mann gesprochen wird. Einmal wird auch beschrieben, dass Männer Frauen anbieten wie „Hu+++“. Dennoch gibt es einige starke, selbstbewusste Frauenfiguren im Buch, die durchaus mit Geschlechterstereotypen brechen, weil sie entweder körperlich sehr stark sind oder sehr direkt sagen, was sie wollen. Immer wieder wird im Buch zudem Missbrauch durch die weißen Sklavenbesitzer angedeutet und kritisiert. Zusätzlich ist eine Figur taub (sie spricht mit Gebärdensprache), und es wird sogar angedeutet, dass zwei der Figuren schwul sind und eine Beziehung miteinander haben, was mir sehr gut gefallen hat, da mir Vielfältigkeit in Büchern sehr wichtig ist.

Mein Fazit

„Washington Black“ ist ein Buch, an das ich mit hohen Erwartungen herangegangen bin, das mich aber leider insgesamt ernüchtert und etwas enttäuscht zurücklässt. Der Schreibstil ist mit Sicherheit die größte Stärke des Buches: Esi Edugyan schreibt äußerst angenehm, sehr anschaulich, einfühlsam und wunderschön. Es gibt unzählige gelungene Vergleiche und sprachliche Bilder und weise Zitate, die man sich rausschreiben möchte. Der Protagonist und auch die anderen Figuren sind meiner Meinung nach ebenfalls gut gelungen, sie sind liebevoll ausgearbeitet; trotzdem hätte ich über manche gerne noch mehr erfahren. Nach einem starken ersten Abschnitt folgt ein schwacher Mittelteil, von dem sich das Buch auch im immerhin wieder etwas besseren letzten Viertel nicht mehr erholen kann. Im Mittelteil, der hastig und lieblos wirkte und mich emotional leider nicht erreichen konnte, fehlten mir vor allem erzählerische Tiefe, Spannung, Atmosphäre und Beschreibungen des Innenlebens und der Gefühle von Washington. Das Buch entwickelte viele Längen, es übte keinen Sog auf mich aus. So musste ich mich immer wieder aktiv motivieren, weiterzulesen. Mir wurden es zudem irgendwann zu viele „praktische Zufälle“ und unrealistische Vorkommnisse. Trotzdem gab es auch viele Passagen, die mich überzeugen konnten, weil in ihnen Themen wie Sklaverei, Enttäuschungen, Abhängigkeit, Heimat und Freiheit sehr gelungen und tiefgründig behandelt wurden. Zusätzlich sensibilisiert die Autorin uns mit ihrer Geschichte für Rassismus, der mir in nächster Zeit sicher verstärkt auffallen wird. Leider gipfelt die Geschichte dann in ein offenes, sehr unbefriedigendes Ende, das wirkt, als würde das Buch plötzlich abbrechen. Mir waren es zu viele lose Fäden, zu viele unbeantwortete Fragen, zu viele Dinge, die uns zuerst als wichtig präsentiert wurden, dann aber im Nichts endeten.

Bewertung

Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Sterne
Umsetzung: 3 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonist: 4 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Ende / Auflösung: 1 Stern
Emotionale Involviertheit: 3 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +/-

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt drei Lilien!

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  • Geschichte
  • Erzählstil
  • Atmosphäre