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Veröffentlicht am 14.10.2019

Superspannendes, hintersinniges Psychoduell

Wisting und der Tag der Vermissten
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Seit dem Verschwinden von Katharina Haugen sind 24 Jahre vergangen. Der Fall wurde nie gelöst und lässt Kriminalhauptkommissar William Wisting keine Ruhe. Seit dieser Zeit trifft er sich jedes Jahr am ...

Seit dem Verschwinden von Katharina Haugen sind 24 Jahre vergangen. Der Fall wurde nie gelöst und lässt Kriminalhauptkommissar William Wisting keine Ruhe. Seit dieser Zeit trifft er sich jedes Jahr am Tag des Verschwindens mit dem Hauptverdächtigen, Katharinas Ehemann Martin Haugen. In diesem Jahr ist jedoch ist alles anders: An besagten Tag ist Martin Haugen verschwunden, und im Kommissariat taucht Adrian Stiller von einer EU-Sondereinheit auf, der einen anderen Cold Case neu aufrollt, und zwar das Verschwinden von Nadja Krogh. In diesem sind neue Spuren aufgetaucht, und alles deutet auf eine Involviertheit Martin Haugens hin. Stiller weiß um die Verbindung Wistings zu Haugen und möchte ihn für seine Zwecke einspannen. Bald entspinnt sich ein Psychoduell zwischen den verschiedenen Akteuren, und auch Wistings Tochter Line wird von Stiller eingespannt…

Sehr, sehr spannender, kompakt geschriebener Thriller mit dichter Atmosphäre, starken Hauptfiguren und vor allem einem charismatischen Ermittler, der von der ersten Zeile an fesselt. Das Buch lebt nicht so sehr von blutigen Einzelheiten, sondern baut die Spannung sehr bedächtig, aber stetig auf und setzt dabei auf die Interaktion der Protagonisten und dabei vor allem auf das Psychoduell zwischen Wisting und seinem Hauptverdächtigen Haugen. Besonders nervenaufreibend sind seine Treffen mit ihm und sein Wochenendtrip zu Haugens einsamer Hütte. Man erwartet eigentlich ständig, dass etwas passiert und ist in ständiger Hab-Acht-Stellung, und irgendwann weiß man nicht mehr, wer eigentlich wen manipuliert. Auch weil Wisting so eine dermaßen sympathische, menschliche und authentische Figur ist, lebt man immens mit ihm mit und bangt und zittert um ihn. Aber auch Adrian Stiller und Line Wisting sind starke und vielschichtige Charaktere. Adrian war mir nicht wirklich sympathisch, er ist ungeheuer manipulativ, perfektionistisch, unkollegial, auf seinen Vorteil bedacht und er tut alles, was seiner Karriere förderlich ist. Ich hatte ihn immer im Verdacht, falsch zu spielen, und fand ihn kühl und unnahbar. Andererseits zeichnen ihn seine Hartnäckigkeit und sein unbedingter Wille der uneingeschränkten Aufklärung aus, dem er alles andere unterordnet. Erst Lines Recherche über ihn ganz am Ende macht ihn ein wenig menschlich. Line wiederum, die vierte Hauptfigur im Bunde, ist ebenfalls wieder ein sehr individueller Charakter, sie beeindruckte mich mit ihrer Eigenwilligkeit und akribischen Recherche. Alle Figuren haben sehr gut herausgearbeitete Persönlichkeiten, sind hervorragend in ihrem Job und tun alles dafür, dass endlich die Wahrheit ans Licht kommt.
Es ist kein whodunnit-Krimi im klassischen Sinne, es gibt keine mehreren Verdächtigen und damit die klassische Ermittlungsarbeit. Der Fokus liegt ganz klar auf Wisting und Haugen, und die Geschichte konzentriert sich stark auf die Frage, was wirklich geschah und wenn, wie hängen die beiden Cold Cases zusammen. Nach und nach erfährt der Leser durch die verschiedenen Handlungsstränge – Wisting/Haugen, Stiller und Line –, was wirklich geschah, und erhält zudem tiefe Einblicke in Gedankenwelt und Arbeitsweise der einzelnen Protagonisten. Die beiden Methoden, auf der einen Seite das In-die-Enge-Treiben, auf der anderen Lines Versuch, die Geschehnisse zu rekonstruieren, mit alten Zeugen zu sprechen und so Vergangenes ans Licht zu bringen, laufen zunächst unabhängig voneinander, bis sie sich schließlich zum großen Ganzen zusammenfügen.

Fazit: Ein in meinen Augen hochspannender Thriller mit einer ungewöhnlichen Erzählstruktur, herausragenden Charakteren und einem Psychoduell, das es in sich hat. Ich kannte William Wisting bislang noch nicht – grober Fehler! Der vorliegende Band macht Lust auf Mehr, angeheizt wird die Neugier noch durch eine Leseprobe für Band 2, welcher im Januar nächsten Jahres erscheinen wird. Für alle Fans des hintersinnigen, psychologischen Thrillers ein Muss!

Veröffentlicht am 18.09.2019

Wer Wind sät, wird Sturm ernten

Tagebuch meines Verschwindens
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In dem schwedischen Dorf Ormberg finden 2009 drei Teenager, Anders, Kenny und Malin, das Skelett eines Kindes. Der Fall bleibt ungelöst. Acht Jahre später werden einige Cold Cases wieder aufgenommen, darunter ...

In dem schwedischen Dorf Ormberg finden 2009 drei Teenager, Anders, Kenny und Malin, das Skelett eines Kindes. Der Fall bleibt ungelöst. Acht Jahre später werden einige Cold Cases wieder aufgenommen, darunter eben dieser Leichenfund, und Malin, inzwischen Polizistin, wird ebenfalls ins Team berufen, da sie hervorragende Ortskenntnisse hat. Zum Team gehören auch Profilerin Hanne und Ermittler Peter, die auch privat ein Paar sind. Die Ermittlungen stagnieren, als eines Tages Hanne verwirrt im Wald aufgefunden wird und Peter verschwunden ist. Hanne kann sich an nichts erinnern, und bei den Bewohnern des Dorfes stoßen Malin und ihre Kollegen auf eine Mauer des Schweigens…

Tagebuch meines Verschwindens ist ein ungewöhnlicher Thriller, bei dem es sehr lange dauert, bis sich scheibchenweise die Mosaiksteinchen ineinanderfügen. Es ist nicht nur ein Whodunnit-Krimi, sondern Psychogramm einer Dorfgemeinschaft und einzelner ihrer Mitglieder. Tatsächlich sind die Hintergründe so komplex und es tauchen immer wieder neue Wendungen auf, dass man als Leser mehrfach aufs Glatteis geführt wird. „Klassische“ Ermittlungsarbeit findet an sich kaum statt, stattdessen erfährt man aus verschiedenen Perspektiven von Malin, dem Jungen Jake sowie Hanne – zunächst in Form ihres Tagebuchs -, was passiert. Die Spannung lebt meines Erachtens stark von der Tatsache, dass sich Hanne nicht erinnern kann und dass das Tagebuch, in dem sie alles notiert, für die Ermittler nicht zugänglich ist und sie daher das Verschwinden Peters und seine Ermittlungsergebnisse nicht nachvollziehen können. Die Autorin macht dies sehr geschickt, denn auch der Leser, der zwar das Tagebuch mitliest, weiß dadurch nicht mehr als die Ermittler.

Den Titel des Buches kann man auf mehrere Aspekte der Geschichte anwenden – vieles verschwindet, Personen und Dinge, doch am erschütterndsten ist das Verschwinden von Hannes Gedächtnis. Das Tagebuch macht deutlich, wie verzweifelt sie ist und wie die Krankheit auch ihre Persönlichkeit verändert. Doch auch Malins und Jakes Innenleben wird intensiv beleuchtet, neben diesen dreien schienen mir die anderen Protagonisten eher schwach dargestellt zu sein. Diese drei sind ganz klar die Hauptpersonen, auf ihnen liegt der Fokus. Über Malin und Jake erfährt man zudem, wie die Dorfgemeinschaft funktioniert, und über allem hängt eine alles in allem düstere Atmosphäre, voller Geheimnisse und ein großes unangenehmes Schweigen, wie es nicht aus Zusammenhalt und Sympathie, sondern aus Misstrauen entsteht. Alle drei machen Entwicklungen durch und erfahren Schicksalsschläge, wobei Jake mir am besten gefallen hat, da er die positivste Wandlung erfährt. Der Fall selber – das tote Mädchen, das Verschwinden Peters – scheint mitunter ein klein wenig in den Hintergrund zu geraten ob dieser starken Präsenz der drei, doch plötzlich, wenn man es gar nicht erwartet, taucht wieder eine neue Entwicklung, eine neue Spur oder Entdeckung auf, und auch durch die persönliche Involviertheit Malins und die sukzessive Annäherung an die Lösung bleibt die Spannung auf einem sehr hohem Niveau. Für mich jedenfalls kamen die vielen Wendungen und die Lösung überraschend und ich fand die Erzählweise der Autorin sehr packend.

Fazit: Ein gelungener Psychothriller mit drei starken Protagonisten, die den Leser in ihren Bann ziehen. Wer blutige Leichen oder Psychoduelle zwischen Ermittler und Täter sucht, wird hier nicht fündig. Stattdessen erwartet ihn ein ungewöhnliches Psychogramm eines Dorfes und die nachdenklich machende Erkenntnis, dass Ormberg in uns allen ist.

Veröffentlicht am 02.09.2019

Wunderbare Geschichte von Freundschaft und vielem mehr

Ein neues Blau
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Berlin, 1985: Schülerin Anja, bei der zurzeit einiges im Argen liegt, wird von ihrem Vertrauenslehrer angehalten, sich bei der alten Dame Lili Kuhn zu melden und sich als deren Gesellschafterin zu bewerben. ...

Berlin, 1985: Schülerin Anja, bei der zurzeit einiges im Argen liegt, wird von ihrem Vertrauenslehrer angehalten, sich bei der alten Dame Lili Kuhn zu melden und sich als deren Gesellschafterin zu bewerben. Die ist einigermaßen überrascht, lässt sich aber darauf ein. Lili erzählt aus ihrem bewegten Leben, ihren jüdischen Wurzeln, weiht Anja in die Geheimnisse der Porzellanherstellung und in die japanische Teezeremonie ein. Die beiden ungleichen Frauen beginnen sich behutsam aneinander anzunähern, und nach anfänglichem Widerwillen werden für
beide die Besuche immer wichtiger und helfen jeder von ihnen, ihren inneren Frieden zu finden.

Lustig, traurig, berührend, packend, erschütternd – es gibt fast keine Emotion, die dieses Buch nicht auslöst. Obwohl der Erzählstil des Autors teilweise eher sachlich und reduziert wirkt und er sich keinerlei überflüssiger Bemerkungen schuldig macht, so trifft er doch immer den richtigen Ton, ohne schwülstig oder verkrampft zu werden. Gekonnt wechselt er die Perspektive und erzählt im Wechsel aus der Sicht Anjas, in der Ich-Form, die Geschehnisse in der Gegenwart und als allwissender Erzähler aus der Sicht Lilis deren Leben von 1919 bis 1932. Dies tut er im Falle der Anja-Perspektive eher flapsig-jugendlich und im Falle der Lili-Perspektive gehoben-literarisch. Der Leser erhält zudem in dem Maße, in dem Anja von Dritten mehr aus Lilis Leben erfährt, ebenfalls weitere Informationen über diese Zeit hinaus. Mitunter meint man geradezu, dass der allwissende Erzähler das Geschehen ironisch kommentiert. Jedenfalls entsteht so nach und nach das Bild einer außergewöhnlichen Frau und ihres ungewöhnlichen Lebens, in welchem Porzellan eine große Rolle spielt und die Farbe Blau sich wie ein roter Faden durchzieht. Es geht jedoch nicht um eine lückenlose Biografie oder eine nüchterne Schilderung von Ereignissen. Es geht um Liebe und Freundschaft, Familienbande, Treue über den Tod hinaus, Mut und Stärke, sein Leben in die Hand zu nehmen und nicht zuletzt um die Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln und Vergebung.

Obwohl die Geschichte eine der leisen Töne ist und ohne große Action daherkommt, fesselt sie doch ungemein und besticht durch ihre außergewöhnlichen Charaktere. Lili ist eine unglaubliche Persönlichkeit, und ihr Leben und ihre Erlebnisse machen einmal mehr die Schrecken des Nationalsozialismus deutlich. Für eine Frau in jener Zeit macht sie ungewöhnliche Dinge und hat dabei nicht wenige Schicksalsschläge zu ertragen. Dabei steht ihr zu jeder Zeit ein ebenso faszinierender Mensch zur Seite: ihr lebenslanger Beschützer und Vaterersatz Takeshi, von dem man gerne mehr erfahren hätte. Diese absolute Verbundenheit berührt sehr und macht einen Großteil des Reizes dieser wunderbaren Geschichte aus. Mich berührte aber noch mehr, wie Anja sich entwickelt, wie sie nach anfänglichem Missmut immer mehr in die Welt Lilis eintaucht, sich ihrer eigenen Wurzeln bewusst wird, ihre Gegenwart und Verhalten hinterfragt und schließlich lebenswichtige Entscheidungen trifft. Sie wird vom verstörten, sich schuldig fühlenden Kind zur verantwortungsbewussten jungen Frau, die ihren Weg geht.

Fazit: Ein wunderbares Buch und jedem zur Lektüre wärmstens ans Herz gelegt. Berührt einen im tiefsten Innern und hallt lange nach. Wer starke und vielschichtige Frauenfiguren liebt und sich für Bindungen interessiert, wird dieses Buch lieben!

Veröffentlicht am 12.08.2019

Herausragender Thriller – Für alle Thriller-Fans ein absolutes Muss!

Der Kastanienmann
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Naia Thulin ist Ermittlerin bei der Kopenhagener Mordkommission und würde lieber heute als morgen in die neu gegründete Cyber-Crime-Abteilung NC3 wechseln, als sie zu einem grausigen Tatort gerufen wird: ...

Naia Thulin ist Ermittlerin bei der Kopenhagener Mordkommission und würde lieber heute als morgen in die neu gegründete Cyber-Crime-Abteilung NC3 wechseln, als sie zu einem grausigen Tatort gerufen wird: Auf einem Kinderspielplatz wird die grausam misshandelte und verstümmelte Leiche einer jungen Frau gefunden. Am Tatort: Ein Kastanienmännchen mit den Fingerabdrücken der seit einem Jahr verschwundenen Tochter der Sozialministerin Rosa Hartung, die just wieder in ihr Amt zurückgekehrt ist. Thulin bekommt den von Interpol geschassten Ermittler Mark Hess zur Seite gestellt, mehr Verstärkung ist nicht drin. Hess ist ihr zunächst keine große Hilfe, er lässt sich kaum bei den Ermittlungen blicken. Doch dann wird eine zweite Leiche gefunden, genauso misshandelt und verstümmelt, und auch bei ihr wird ein Kastanienmännchen mit denselben Fingerabdrücken gefunden. Thulin und Hess verbeißen sich zunehmend in einen Fall, der nicht nur ein riesiges Medienecho hervorruft, sondern ihnen auch sonst mehr abverlangt als alles, was sie in ihrer Laufbahn bislang erlebt haben…

SUPERMEGAGIGA-spannender Thriller, mehr geht nicht!! Dieses Buch hat alles und viel mehr, was ein herausragender Thriller braucht: eigenwillige Ermittler, einen spannenden Plot, düstere Atmosphäre, einen komplexen Fall mit vielen überraschenden Wendungen und einen faszinierenden Täter. Dazu allesamt vielschichtige Charaktere und einen immens packenden Schreibstil. Dem als Drehbuch-Autor bekannten Verfasser ist ein herausragendes Thriller-Debüt gelungen, das seinesgleichen sucht und sich in die Reihe der erfolgreichen Skandinavien-Thriller nicht nur einreiht, sondern sie in meinen Augen anführt. Über einen Zeitraum von einem Monat im Herbst – ohne den circa dreißig Jahre zuvor spielenden Prolog – hält ein Serienmörder die Kopenhagener Kriminalermittler in Atem, der ihnen immer einen Schritt voraus ist und sie nach Strich und Faden manipuliert. In sehr kleinen Schritten und häppchenweise sammeln Thulin und Hess Puzzleteile, die zunächst kein einheitliches Bild ergeben, und es dauert lange, bis sich der Schleier hebt und einige schreckliche Dinge ans Licht kommen, die in der Vergangenheit liegen und sich lange Zeit ihrer Aufdeckung verweigern.

Obwohl sich die Erzählperspektiven auf Thulin, Hess und auch auf Rosa Hartung konzentrieren, die den meisten Anteil haben, so gibt es doch sehr viele weitere Perspektivwechsel, die die Spannung ungemein erhöhen. Besonders die aus Opfersicht erzählten Passagen gehen unter die Haut, und der Autor spart auch nicht an blutigen Details, bleibt aber immer sachlich. Seine Sprache ist geradezu nüchtern und eher wenig detailverliebt, er lässt dadurch viel Raum für Fantasie und in keinem Moment Langweile aufkommen. Die Geschichte fesselt einfach von der ersten Zeile an und die Spannung steigert sich stetig. Sowohl Motiv als auch Täter bleiben lange Zeit im Dunkeln, und besonders bei letzterem kam für mich die Auflösung sehr überraschend. Der Täter selbst erhält keine Erzählplattform, er ist aber natürlich sehr präsent in seinem Wirken, und dadurch ist die Geschichte eher ein whodunnit-Thriller als ein Psychogramm. Sie lebt sowohl von der herausragenden Intelligenz des Täters als auch von der verbissenen und hartnäckigen Arbeit der beiden ungleichen Ermittler Thulin und Hess.

Thulin, der man in manchen Situationen fast schon autistische Züge bescheinigen könnte, hatte sofort meine Loyalität und Sympathie. Sie ist jung, ehrgeizig, eigenwillig, intelligent, unprätentiös, zurückhaltend. Als alleinerziehende Mutter versucht sie Job und Privatleben mehr schlecht als recht unter einen Hut zu bringen. Sie ist eine Vollblut-Ermittlerin, die die Aufklärung eines Falles über alles stellt. Ich fand sehr wohltuend, dass ihr Privatleben zwar Thema, aber nie überherrschend war. Deshalb kann sie mit Hess auch zunächst nichts anfangen, dieser sammelte durch seine Einstellung auch bei mir keine Sympathiepunkte. Man merkt ihm seine Unlust regelrecht an, er will an sich erst einmal nur seine Zeit absitzen, bis er wieder bei Interpol tätig werden darf. Auch das trägt natürlich zum Spannungsaufbau bei. Wie soll ein solches Ermittlerteam erfolgreich zusammenarbeiten? Nach und nach erweist sich Hess aber nicht nur als Mann mit vielen ungewöhnlichen Talenten und außergewöhnlichen Methoden, der hervorragend um die Ecke denken und sich in Menschen hineinversetzen kann, sondern auch als derjenige, der nicht aufgibt und weswegen auch Thulin letztlich am Ball bleibt.

Fazit: Für mich bis dato der beste Thriller des Jahres. Ein Buch, das einen noch beschäftigt, wenn man grade nicht drin liest, und zu dem man in dem Fall auch schnellstmöglich zurückkehren möchte. Authentische Atmosphäre und Charaktere, jede Figur vielschichtig und in seinem Aufbau und seiner Logik unglaublich durchdacht. Der Schluss setzt noch einen drauf und man fragt sich, ob wirklich alles vorbei ist. ich jedenfalls wünsche mir mehr davon!!!

Veröffentlicht am 22.07.2019

Krimi mit faszinierendem Ermittler und syrisches Gesellschaftsportrait

Die geheime Mission des Kardinals
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Kurz vor Ende seiner Pensionierung bekommt Kommissar Barudi aus dem syrischen Damaskus einen brisanten Fall auf den Tisch: Ein Gesandter des Vatikans wurde ermordet in einem Ölfass aufgefunden, das an ...

Kurz vor Ende seiner Pensionierung bekommt Kommissar Barudi aus dem syrischen Damaskus einen brisanten Fall auf den Tisch: Ein Gesandter des Vatikans wurde ermordet in einem Ölfass aufgefunden, das an die italienische Botschaft geliefert wurde. Der katholische Barudi muss aufpassen, denn der syrische Geheimdienst der islamischen Regierung hört und sieht alles. Um die politischen Beziehungen zu Italien nicht zu gefährden, bekommt er einen italienischen Kollegen an die Seite gestellt, Kommissar Mancini. Die beiden Männer verstehen sich auf Anhieb und beginnen gut getarnt in Wespennestern zu stochern…

Schlichtweg großartig. Der Autor versteht es meisterhaft, mit seiner bildhaften, mal poetischen, mal locker-flapsigen Sprache, seinen Dialogen und seinen lebendigen Figuren zu fesseln. Er ist nicht nur ein Sprachkünstler, sondern entwirft zudem einen spannenden Krimiplot in einem für uns exotischen, faszinierenden, für die handelnden Protagonisten jedoch schwierigen Umfeld. Dabei geht dies alles in Hand in Hand, den Figuren werden Sätze in den Mund gelegt, von denen nicht wenige eingerahmt an die Wand gehängt gehören. Die Beschreibungen des Lebens in Syrien und besonders in Damaskus und der Ermittlungsarbeit sind ebenso spannend zu lesen wie der Fall selbst. Fast nebenbei lernt der Leser einiges über die Situation im Land, wie die Menschen trotz Diktatur leben und lieben, immer auf der Hut vor Spitzeln, und wie die verschiedenen religiösen Gruppierungen um die Macht kämpfen. Die Kluft zwischen Stadt- und Landbevölkerung, die oft verarmt und Analphabeten und voller Aberglauben sind, wird überdeutlich. Der Autor beleuchtet politische und religiöse Aspekte, indem er seine Protagonisten Diskurse führen lässt, außerdem wechselt er zwischen Erzählperspektiven. Auf der einen Seite der allwissende Erzähler, auf der anderen Barudis Tagebuch, in welchem Barudi über sein Leben reflektiert, seine Erfahrungen und Gefühle, aber auch seine geheimsten Gedanken zum Fall und zu politischen und religiösen Fragen preis gibt. An sich ein klassischer whodunnit-Krimi, aber auch wieder nicht, denn zwar gibt es auch hier überraschende Wendungen, doch eher auf die leise Art, und das Ende führte bei mir als Leser zu einem lachenden, aber auch zu einem großen weinenden Auge. Der Roman ist vielmehr ein Gesellschaftsportrait und eine Hymne auf den aufrechten, aufgeklärten und liberalen Syrer, eine Geschichte um Freundschaft, Loyalität und Liebe.

Das Hardcover kommt zunächst einmal sehr edel gebunden mit Lesezeichen und einem interessanten Schutzumschlag daher, der mich an die Ornamente einer Moschee erinnert. Unterteilt ist der Roman in 51 Kapitel mit treffenden Überschriften, einige zusätzlich mit dem Hinweis, dass es sich um Barudis Tagebuch handelt. Grundsätzlich verläuft die Handlung chronologisch, auch wenn mitunter bereits geschehene Dinge aus Barudis Perspektive kurz noch einmal erzählt werden, was aber keine Dopplung, sondern eine Ergänzung darstellt. Der Schreibstil ist sehr eingängig, ich als Leser war sofort in der Geschichte gefangen und lebte besonders mit Barudi stark mit. Barudi ist ein vielschichtiger Charakter, eine starke Persönlichkeit und ein vielseitiger Mensch mit vielen faszinierenden Eigenschaften. Er vereint großes Sach- und Fachwissen mit Menschenkenntnis und Intelligenz, ist loyal gegenüber seinen Mitarbeitern, durchaus analytisch, bedient sich aber oft einer orientalisch-blumigen Sprache und reflektiert ungeheuer viel über gesellschaftliche und politische Themen, über das Leben und die Liebe und über seine Mitmenschen. Die Dialoge im Roman sind spritzig und oft lang und behandeln häufig die Themen, die auch Barudi in seinem Tagebuch aufgreift. Manch einer könnte das langatmig finden, ich fand es aufgrund des für mich ungewöhnlichen Plots und des exotischen Umfelds, in dem Barudi ermittelt, faszinierend und spannend. Der Fall selbst gerät auch nie in den Hintergrund, er ist komplex und gestaltet sich schwierig, einfach weil Barudi und sein Kollege Mancini, der zu seinem Freund wird, bei verschiedenen religiösen Gemeinschaften und Gesellschaftsschichten ermitteln. Neben Barudi, der ganz klar die Hauptfigur ist, bei dem die Fäden zusammenlaufen, gab es aber auch bis in die Nebenfiguren hinein interessante Persönlichkeiten, denn keine ist blass oder einseitig gezeichnet, sondern teilweise so vielschichtig (für mich unter anderem Rebellenführer Scharif!), dass man gerne mehr über sie erfahren hätte. Besonders Mancini in Kombination mit Barudi, mit dem er ein erfolgreiches Team bildet, fand ich sehr gelungen, und seine humorvolle Art und unorthodoxen Methoden fand ich recht erfrischend. Hier bildet er einen guten Gegenpol zum überkorrekten, dem System Rechnung tragenden Barudi. Es kommt kein Thema zu kurz, weder der islamistische Terror, noch die Europapolitik, und besonders im Hinblick auf den andauernden Bürgerkrieg in Syrien ist dies zusätzlich erschütternd und hallt lange nach. Der Autor beweist nicht nur große Liebe zu seiner Heimat und ihren Menschen, sondern auch tiefe Einblicke in deren Seele und Traditionen. Er bleibt dabei liebevoll und charmant, und auch wenn er – durch Barudis Mund – klare und auch gefährliche Meinungen äußert, so tut er es doch mit einem Augenzwinkern, und gerade deshalb regt sein Buch zum Nachdenken an und wirkt noch lange nach.

Fazit: Ein toller Roman mit faszinierendem Plot und ebensolchen Charakteren und einer Sprache, die zu Herzen geht. Die Beschäftigung mit Syrien führt dazu, dass man vorgefasste Meinungen (und Vorurteile) überdenkt und einiges in einem anderen Licht sieht. Ein Buch, das man vielen empfehlen kann, nicht jedoch dem klassischen Krimi- und Thrillerleser, die vielleicht eher zerstückelte Leichen und klassische Detektivarbeit erwarten. Für mich jedoch ein erhellendes Buch, das ich nicht mehr aus der Hand legen wollte!