„Ist unsere Mutter die Frau, die uns zur Welt bringt, oder ist es die, die uns am meisten von allen liebt?“
Inhalt
Tante Lydia schreibt als Hologramm vom Hause Ardua an den geneigten Leser und lässt ihn teilhaben an den inneren Verstrickungen des Staates Gilead, den sie selbst als eine der Gründerinnen mit aufgebaut hat. Doch die Gegenwart macht deutlich, dass es in Gilead mächtig brodelt, dass immer mehr Menschen, diesen totalitären Staat boykottieren oder daraus flüchten, kaum jemand glaubt wirklich noch an das was gepredigt wird. Und Tante Lydia ist sich dessen bewusst, das sie nicht nur als eine mächtige Frau in die Geschichte Gileads eingehen möchte, sondern auch in dessen Untergang – das soll ihre ganz persönliche Rache werden und die muss gut geplant werden. Mittel zum Zweck sind dabei die beiden jungen Frauen Nicole und Agnes. Erstere ist als Baby aus Gilead entführt worden und lebte seitdem in Kanada unter dem Schutz einer Geheimorganisation, zweitere ist in Gilead aufgewachsen und möchte sich nun als eine Anwärterin auf die Rolle einer Tante profilieren. Doch Tante Lydia kennt das Geheimnis dieser beiden Frauen und nutzt ihr Wissen und alle Verbindungen, um zum entscheidenden Dolchstoß gegen das Terrorregime auszuholen …
Meinung
Über 30 Jahren nach dem Erscheinen des Klassikers „Der Report der Magd“ möchte die kanadische Autorin Margaret Atwood die Geschichte des Staates Gilead weitererzählen, doch diesmal wählt sie nicht die enge Perspektive einer direkt Betroffenen, die hilflos dem Terrorregime ausgesetzt ist, sondern sie etabliert mehrere Erzählstimmen, die umso besser das System und seine Funktionsweise beleuchten. Während mir „Der Report der Magd“ sehr düster und beklemmend erschien, dominiert in ihrem neuen Buch eine gewisse Aufbruchstimmung, die sprachlich zwar nicht ganz so literarisch umgesetzt wird, dafür aber viel moderner und spannender geschrieben wurde.
Ein besonderes Augenmerk wird auf die Gestaltung der Erzählung gelegt, so richtet sich die einzige Mitverantwortliche Lydia als eine starke aber ambivalente Protagonistin direkt an den Leser, indem sie bis ins kleinste Detail ausführt, wer welche Machtposition erfüllt und wie sie geschützt wird. Ganz deutlich wird außerdem, welche inneren Gefahren dem Reich drohen und das Gilead ein Pulverfass ist, welches eines Tages mit einem großen Knall zerfallen wird. Und ihre Intrigen, Geheimnisse und Ränkespiele werden diesen Ort mit all seinen Fesseln sprengen. Die beiden jungen Frauen Nicole und Agnes die wechselseitig in Zeugenaussagen ihre persönlichen Erlebnisse schildern, runden das Gesamtbild ab und führen den Leser durch den Verlauf der Geschichte.
Besonders imponiert hat mir dieser etwas andere Blick auf Gilead, weil sich vieles aus einer anderen Sicht darstellt als bisher gekannt. Gerade die Geschichte des Staates, ihre Machenschaften, ihr verkorkstes Weltbild und die nicht vorhandene Rechtsstaatlichkeit kommen in diesem Buch voll zur Geltung. Was aber noch viel unterhaltsamer war, sind die Ränkespiele, die Lügengeschichten, die Bosheit verborgen hinter einem gut gemeinten Ratschlag und nicht zu vergessen das hohe Erzähltempo, dem man nur allzu gerne folgt.
Ganz sicher ist es von Vorteil, wenn man die Leidensgeschichte der Magd Desfred aus dem vorherigen Band „Der Report der Magd“ bereits kennt und sich dann an die wirklich zahlreichen Verstrickungen zwischen damals und heute erinnern kann. Erst dadurch bekommt die Geschichte die entsprechende Tiefe und man fühlt sich schneller als ein Teil jenes Systems, ohne es tatsächlich zu kennen. Auch die Rolle der Frauen wird differenziert betrachtet, je nachdem welche Position sie in ihrem Gesellschaftssystem einnehmen, können sie ganz unterschiedlich wirken. Doch eins ist klar erkennbar: Egal wer man ist, egal was man tut, Gilead wird dich bestrafen, zermürben oder töten!
Fazit
Das war ein absoluter Lesegenuss, der von mir glatte 5 Sterne bekommt und sich als ein weiteres Jahreshighlight mit den entsprechenden Lorbeeren schmücken darf. Ein Spannungsroman, wirklich gute Unterhaltungsliteratur mit sehr vielen Punkten zum Nachdenken und vielen Einblicken in ein mysteriöses System der Willkürherrschaft. Darüber hinaus gelingt es den Protagonistinnen nicht nur menschlich zu wirken, sondern auch eine gewisse Entwicklung innerhalb dieser Buchdeckel zu durchlaufen. Nicht jeder, der willkürlich herrscht ist von Grund auf Böse und verblendet, nicht jeder der freiwillig dient, erkennt nicht die Schwächen des Systems und nicht jeder, der seine Vergangenheit nicht kennt, ist nicht in der Lage die Zukunft positiv zu verändern. Vieles ist eine Frage der richtigen Zeit und des gemeinsamen Zusammenspiels verschiedener Kräfte. Bleibt nur noch zu sagen: „Lest dieses Buch!“