Vom ersten Teil dieses Buches war ich begeistert. Der Schreibstil ist ansprechend und bildhaft, dabei trotzdem nordisch zurückhaltend. Wir begegnen gleich zu Beginn dem Mädchen Vera und ihrer Mutter, die als Flüchtlinge aus Ostpreußen im Alten Land ein Zimmer auf einem Bauernhof zugewiesen bekommen und - wie leider die Flüchtlinge jener Zeit überhaupt - feindselig empfangen werden. "Flüchtlingspack" sind diese Menschen, die so Schreckliches erlebt haben. Am Ende des Buches wird dies so schlicht und doch so eindringlich geschildert - die Mütter, die nach einer solchen Flucht keine richtigen Mütter mehr sein konnten, die sprachlos wurden, die das Erlebte in sich vergruben. Die Kinder, die bei einem vereisten Fluß nicht mehr ans Eislaufen denken, sondern an Menschen und Pferde, die auf der Flucht von Tieffliegern beschossen werden, erfrieren, im eisigen Meer qualvoll ertrinken. Dieser Teil der Geschichte wird uns ganz hervorragend geschildert und hat in heutiger Zeit, in der wieder Flüchtlinge diffamiert und teils dämonisiert werden, erschreckende Aktualität. Wie sehr das Trauma der Flucht aus Ostpreußen fortwirkt, über Jahrzehnte und Generationen hinweg, das zeigt uns "Altes Land", und als Enkelin einer aus Ostpreußen geflüchteten Großmutter berührte mich dieses Thema auch ganz persönlich. Die Eindringlichkeit geschieht gänzlich ohne Pathos, ebenso wie die Schilderung des Kriegstraumas des aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Karl, dessen Leiden bis zum Ende seines langen Lebens immer wieder in die Geschichte einflochten werden.
Vera und Karl sind aber nur zwei der recht vielen Personen, denen wir in "Altes Land" begegnen, ihre Traumata nur ein Fokus dieser Geschichte, die viele Themen aufgreift und sie deshalb manchmal nicht ganz vollständig erzählt. Einerseits ist das Buch bemerkenswert konzipiert - die Autorin wechselt geschickt zwischen verschiedenen Zeitebenen und zahlreichen Charakteren, schildert diverse Perspektiven, und dies auf weniger als 300 Seiten. Dadurch kommt aber eben auch mancher Charakter, manche Geschichte zu kurz.
Laut Klappentext sind Vera und Anne, "zwei Einzelgängerinnen", die Hauptpersonen. Sie bilden auch den roten Faden, gehen aber manchmal in der Vielzahl der Personen unter. Gerade Anne ist meines Erachtens keine gut gewählte Protagonistin. Fast eigenschaftslos selbstmitleidet sie sich durch das Buch. Anne sagt wenig, tut wenig, ist eine Art Schatten im Hintergrund der Geschichte, mit permanent mißmutig zusammengepressten Lippen - so erschien sie mir beim Lesen jedenfalls. Ich konnte für sie deshalb weder Interesse noch Mitgefühl aufbringen - wobei sie das Mitgefühl ja schon reichlich für sich selbst hat und die meisten in ihrem Umfeld nicht mag. In Anne findet sich das zweite Hauptthema des Romans - das Aufeinanderprallen von Stadt- und Landleben. Wir begegnen ihr zu Beginn in der Welt der Latte-Macchiato-Übermütter. Diese sind herrlich treffend geschildert, ich habe an manchen Stellen lachen müssen angesichts der mit beißendem Humor dargestellten Mütter, für die ihr Nachwuchs das Zentrum des Universums darstellt und die erwarten, daß das restliche Universum das gefälligst auch so sieht. Allerdings entwickelt sich hier dann wenig weiter - wir lernen im Laufe des Buches fast nur noch Menschen kennen, die allesamt Vorurteile gegen die anderen haben. Was am Anfang also noch amüsant ist, nutzt sich dann rasch ab, weil immer wieder mit den gleichen Werkzeugen gearbeitet wird und man irgendwann schon weiß, jetzt kommt wieder eine bissige Beschreibung einer Gruppe von Menschen und ihrer Lebenseinstellung. Das funktioniert meines Erachtens, wenn es ein Element einer facettenreichen Geschichte ist, aber nicht, wenn es überbenutzt wird.
So sind die aufs Land gezogenen oder zu Landpartien kommenden Städter alle ein wenig dümmlich-überheblich, idealisieren das Landleben, verstehen die Strukturen nicht und blicken auf die Bauern herab. Die Bauern sind alle ein wenig starrsinnig, gehen das Landleben mit der unsentimentalen, manchmal naturzerstörenden, Art jener an, die hier seit Generationen ihren Lebensunterhalt verdienen und blicken auf die Städter herab, auf Vegetarier, auf weniger traditionelle Erziehungsarten. Die Landkindergärtnerin blickt auf die Stadtmutter herab, die Stadtmutter auf die Landkindergärtnerin, usw. Da hier kaum Weiterentwicklung erfolgt und so viel mit Stereotypen gearbeitet wird, wurde das, was anfänglich noch unterhaltsam war, rasch langweilig.
Nachdem das erste Drittel ein gutes Erzähltempo hat und ich es fast in einem Rutsch durchlas, folgten dann viele langatmige Passagen und zahlreiche Wiederholungen. Gerade letztere wurden zunehmend ärgerlich. Während viele interessante Aspekte unerzählt bleiben, wird viel Nebensächliches ausführlich dargestellt. Es gibt auch hier noch interessante und berührende Momente, gerade die fast wortlose Zuneigung zwischen Vera und ihrem Nachbarn, die unaufdringliche Art, in der sie einander beistehen, ist hervorragend geschildert. Aber leider nahm das Lesevergnügen aufgrund der genannten Punkte immer weiter ab, erlebte mit der Rückbesinnung auf das Thema der Ostpreußenflucht und -herkunft zum Ende hin wieder einen Aufschwung. Insgesamt war "Altes Land" also ein gemischtes Vergnügen für mich.