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Veröffentlicht am 05.01.2020

Freiheit!

Juni 53
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Der 17. Juni – 36 Jahre lang Nationalfeiertag in der Bundesrepublik Deutschland als Gedenken an den Volksaufstand in der DDR 1953, heute fast vergessen. An dieses Ereignis erinnert Frank Goldammer in seinem ...

Der 17. Juni – 36 Jahre lang Nationalfeiertag in der Bundesrepublik Deutschland als Gedenken an den Volksaufstand in der DDR 1953, heute fast vergessen. An dieses Ereignis erinnert Frank Goldammer in seinem 368-seitigen historischen Kriminalroman „Juni 53“, erschienen im Dezember 2019 bei dtv.
Gerade an diesen geschichtsträchtigen Tagen wird – nun schon zum fünften Mal – Max Heller von der Dresdener Kripo an den Ort eines grausamen Verbrechens gerufen: Im VEB Rohrisolation findet man in einem Behälter – mit Glaswolle gestopft wie eine Gans – den Leichnam des ehemaligen Firmeneigentümers, Martin Baumgart. Außerdem gilt ein weiterer Mitarbeiter, Gerd Kruppa, als vermisst. Doch man macht dem Kripobeamten die Ermittlungen nicht leicht; die Mitarbeiter des MfS sähen am liebsten ein politisches Motiv für den Mord, um Querulanten und Aufständische inhaftieren zu können. Dennoch geht der parteilose Heller seinen eigenen Weg und stößt dabei auf Widerstand. Ebenfalls privat steht er vor großen Problemen. Haben er und seine Familie in der noch jungen DDR eine Zukunft? Soll er bleiben oder gehen?
Mich persönlich hat beim Lesen eher das historische Ambiente als der Kriminalfall an sich angesprochen. Wie für die DDR-Politik typisch, wird der Täter erst einmal in den Reihen der politischen Gegner gesucht. Doch auch Bezüge zur noch nicht lange zurückliegenden nationalsozialistischen Vergangenheit werden hergestellt, es werden viele Verdächtige und Motive angeführt, sodass sich der ganze Fall unübersichtlich gestaltet. Hier hat der Autor eindeutig des Guten zu viel getan, um den Spannungsbogen aufrechtzuerhalten. Manchmal ist weniger eben doch mehr. Überzeugen und überraschen indes kann die Lösung des Falls, was für manche Widrigkeiten beim Lesen entschädigt und mich dann doch befriedigt zurückgelassen hat.
Sehr eindrücklich ist die Atmosphäre der noch jungen sozialistischen Republik eingefangen: Die Menschen stöhnen ob der schwierigen Versorgungslage und der immer weiter steigenden Arbeitsnormen, die kaum noch ein Mensch erfüllen kann. Auch freie Wahlen fordern die Bürger, sodass die Lage schließlich eskaliert und der Aufstand vom 17. Juni blutig niedergeschlagen wird. Der Ton der Parteibonzen ist rau und unterscheidet sich nur wenig von dem der Nationalsozialisten, Befragungen von Verdächtigen werden kombiniert mit Folter und haben einzig das Ziel, Geständnisse zu erpressen. In diesem Ambiente fällt es Heller schwer, objektive Ermittlungen zu betreiben – vor allem, da Ranghöhere und Mitarbeiter zum großen Teil hinter der Regierung stehen oder zumindest versuchen, sich mit dem Regime zu arrangieren. Doch auch in die Familien treibt die Politik einen Keil, wie man dem Verhältnis Hellers zu seinem Sohn Klaus entnehmen kann; Letzterer steht voll und ganz hinter dem Staat, was zu einer zunehmenden Entfremdung führt. Hauptmann Bech, der sich immer wieder in die Ermittlungen einschaltet, verkörpert den linientreuen MfS-Mitarbeiter, der die Ermittlungen eher erschwert als unterstützt. Darüber hinaus gibt es in diesem Buch parallel die Menschen, die einfach nur versuchen, ihre Nische zu finden, verkörpert z.B. durch Hellers Mitarbeiter Odenbusch, der als junger Ehemann weiß, dass er sich mit den gegebenen Umständen abfinden muss, möchte er sich in diesem Staat eine Zukunft aufbauen. Und ja, natürlich begegnen uns ferner Personen, die der Partei eindeutig ablehnend gegenüberstehen – und dieses teuer bezahlen, was besonders bitter aufstößt, wenn es sich dabei auch noch um Menschen handelt, die schon unter den Nazis zu leiden hatten. Alles in allem präsentiert hier Goldammer ein Bild des jungen Staates, das mit all seinen Grausamkeiten und Beschönigungen realistisch und detailliert gemalt ist – und das eben nicht in Vergessenheit geraten sollte.
Das Ende des Buches legt nahe, dass es noch weitere Bände dieser Reihe geben wird. Dieses stimmt mich ein wenig nachdenklich bzw. kritisch, da ich persönlich für die Figur Heller keine Zukunft in der DDR sehe, sollte er sich der Staatsmacht nicht anpassen, was wiederum schade wäre.
Insgesamt sei zusammengefasst, dass Frank Goldammer mit „Juni 53“ einen Kriminalroman vorlegt, der zeitgeschichtlich hoch interessant und authentisch ist und somit ein Stück deutscher Geschichte lebendig werden lässt, das man nicht oft genug erinnern kann. Auch wenn mich der Kriminalfall an sich nicht völlig überzeugen konnte, empfehle ich das Buch gerne zur Lektüre weiter.

Veröffentlicht am 15.12.2019

Eine kritische Auseinandersetzung mit der künstlichen Intelligenz

Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl
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Die meisten von uns bedienen sich ihrer tagtäglich: In Navigationssystemen zeigen sie uns den Weg, beim Onlineshopping unterbreiten sie uns auf uns abgestimmte Angebote, ja selbst Nachrichten werden von ...

Die meisten von uns bedienen sich ihrer tagtäglich: In Navigationssystemen zeigen sie uns den Weg, beim Onlineshopping unterbreiten sie uns auf uns abgestimmte Angebote, ja selbst Nachrichten werden von ihnen vorsortiert – Algorithmen. Ihnen zu entkommen ist all denen, die digitale Medien nutzen, heute kaum noch möglich. Und wie immer gilt: Des einen Freund, des andern Feind. Was die einen als Errungenschaft der modernen Gesellschaft feiern, beäugen andere – und zu denen zähle ich mich – eher kritisch. In ihrem 320-seitigen Sachbuch „Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl. Wo künstliche Intelligenz sich irrt, warum uns das betrifft und was wir dagegen tun können“, erschienen im Oktober 2019 bei Heyne, lässt Katharina Zweig Laien hinter die Kulissen der künstlichen Intelligenz blicken, erklärt, was sich hinter Begriffen wie „Algorithmus“, „Big Data“ oder „Computerintelligenz“ verbirgt, und gibt Leserinnen und Lesern Handwerkszeug mit auf den Weg, mit dieser Entwicklung mündig umzugehen.
Das Buch besteht aus insgesamt drei Teilen, ergänzt durch einen umfangreichen Anhang, bestehend aus „Anmerkungen“ und „Glossar“. Im ersten Teil gibt die Autorin den Leser/innen Werkzeug mit auf den Weg, anhand dessen es möglich sein sollte zu entscheiden, an welchen Stellen wir als Menschen beim Einsatz von Computerintelligenz einschreiten sollten. Im zweiten Teil, betitelt mit „Das kleine ABC der Informatik“, werden grundlegende Begriffe aus der Informatik sowie ihre Arbeitsweise erklärt. Abschließend beschäftigt sich die Autorin in einem dritten Teil mit den ethischen Fragen beim Einsatz von Algorithmen: Wo können sie uns helfen, unser Leben erleichtern? An welchen Stellen haben sie ihre Grenzen? Wie steht es um ihre „Moral“? In diesem letzten Teil gibt die Autorin uns Leser/innen auch ein m.E. wertvolles Tool, die sog. „Risikomatrix“, mit auf den Weg, anhand dessen man überprüfen kann, wie sinnvoll und vor allem gefährlich bestimmte Entscheidungssysteme sind. Hier stehen vor allem Systeme im Fokus, die schädlich für den einzelnen Menschen und das soziale Miteinander sind. Und hier sieht die Verfasserin auch den Punkt, an dem der Einfluss künstlicher Intelligenz auf jeden Fall eingeschränkt oder vermieden werden sollte, nämlich wenn es darum geht, „über Menschen“, „über Ressourcen, die Menschen betreffen“ oder „die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten von Personen“ (S. 25) zu entscheiden.
Katharina Zweigs Sprache ist leicht verständlich, und sie schafft es, auf den ersten Blick komplizierte Inhalte verständlich und kurzweilig zu kommunizieren. Anhand von Grafiken, vor allem aber von der Comic-Figur „KAI“ (der Name ist eine Zusammensetzung aus den Begriffen „künstliche Intelligenz“ und „artificial intelligence“), die mir allerdings gerade wegen ihres Comic-Stils weniger zusagt, wird das Geschriebene illustriert und verdeutlicht. Außerdem unterstützen zahlreiche Beispiele, beginnend mit Navigationssystemen bis hin zu Software wie „COMPAS“, die in den USA tatsächlich in Gerichten eingesetzt wird und Rückfälligkeitsvorhersagen von Strafgefangenen machen soll, Einblicke in die Möglichkeiten und Grenzen vom Einsatz vermeintlich intelligenter Computersysteme.
Letztlich haben Zweigs Ausführungen mich darin bestätigt, was ich schon immer geahnt habe: Eine „starke Computerintelligenz", die menschlichen Fähigkeiten entspricht oder diese gar überbietet, gibt es (bis jetzt) noch nicht. Alle Systeme sind so gut oder schlecht wie die Menschen und Daten, die dahinterstehen. Was auf der einen Seite beruhigen (oder einige auch frustrieren) mag, birgt auf der anderen Seite Gefahren in sich, nämlich die, dass Menschen durch solche Systeme in ihrer Freiheit und in ihrem Entwicklungspotenzial eingeschränkt und zum Spielball von Interessen anderer werden. Genau hier sollten wir als Menschen uns einmischen und wehren, wenn wir merken, dass dieses der Fall sein könnte.
Insgesamt präsentiert Katharina Zweig mit „Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl“ ein informatives, gut lesbares Buch, dass auch technisch weniger versierten Menschen einen Einblick in die Welt der künstlichen Intelligenz bietet und sie somit animiert, sich kritisch mit dem Thema auseinanderzusetzen und dort einzugreifen, wo es nötig scheint. Allen, die dieser Entwicklung nicht hilflos gegenübertreten möchten, kann ich nur dazu raten, zu diesem Buch zu greifen.

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Veröffentlicht am 31.10.2019

Wir sind und bleiben eine Familie.

Ein Leben für die Kinder Tibets
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Tibet gehört zu den armen Regionen dieser Welt, was aber in den Medien weniger präsent ist. In der 288-seitigen und im Oktober 2019 bei Wörterseh erschienenen Biographie „Ein Leben für die Kinder Tibets. ...

Tibet gehört zu den armen Regionen dieser Welt, was aber in den Medien weniger präsent ist. In der 288-seitigen und im Oktober 2019 bei Wörterseh erschienenen Biographie „Ein Leben für die Kinder Tibets. Die unglaubliche Geschichte der Tendol Gyalzur“ berichtet Tanja Polli über den beherzten Einsatz einer aus Tibet stammenden Schweizerin für die Kinder ihrer Heimat – jenseits aller ethnischen, religiösen und politischen Grenzen.
Tendol ist noch ein Kind, als sie Ende der Fünfzigerjahre aus Tibet flieht. Über Indien und Deutschland, wo sie als eine der ersten Tibeterinnen eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert, kommt sie schließlich in die Schweiz, wo sie heiratet und eine Familie gründet. 1993 fliegt sie erstmals zurück nach Tibet und ist von der dort allgegenwärtigen Armut zutiefst betroffen. Auch wenn sie anfangs bei ihrer Familie auf Unverständnis stößt, kratzt sie ihre letzten Ersparnisse zusammen, um ein Waisenhaus zu gründen. Kurze Zeit später erfolgt die Gründung des Vereins „Kinderhilfswerk Tendol Gyalzur in Tibet“, der später in eine Stiftung umgewandelt werden soll. Fortan setzt sie ihre gesamten Kräfte ein, um den Kindern Tibets eine Zukunft zu bieten – schließlich unterstützt von ihrer Familie und europäischen Förderern.
Im Zentrum des ersten Buchteils stehen Tendols Flucht aus Tibet sowie ihr Einleben in Europa. Als sie nach Tibet zurückkehrt und ihre Hilfsorganisation gründet, stehen die Armut und die sozialen Bedingungen in dieser Himalaya-Region im Mittelpunkt. Der letzte Teil des Buches schließlich widmet sich vor allem bürokratischen und politischen Hürden, die nach und nach in einer Verstaatlichung der Waisenhäuser durch die chinesische Regierung münden, sowie dem Versuch der Familie Gyalzur, in Tibet wieder Fuß zu fassen.
Das Buch beleuchtete einige Episoden in Tendol Gyalzurs Leben detailliert, während andere eher im Nebenbei erwähnt werden. Dabei ist die Sprache flüssig zu lesen und – trotz des an sich bedrückenden Inhalts – eher sachlich. Als Leser/in erhält man einen guten Einblick ins Leben und Wirken dieser Tibeterin, ohne jedoch emotional zu ergriffen zu sein. Und das ist das, was ich von einem Sachbuch bzw. einer Biographie erwarte. Dennoch merkt man auf Schritt und Tritt, dass die Arbeit in Tibet für sie eine Herzensangelegenheit ist: Es ist eindrucksvoll zu lesen, mit welcher Kraft die Familie Gyalzur sich für „ihre“ Kinder einsetzt – egal ob sich Widrigkeiten kultureller oder politischer Natur auftun.
Durch die Probleme, auf die Tendol während ihres Einsatzes stößt, erfahren Leserinnen und Leser zudem Wissenswertes über die tibetische Kultur und Religion, die oft im drastischen Gegensatz zu mitteleuropäischen Empfindungen stehen: „Als (…) Tibeter unterstützt man Klöster und Lamas (…), die Idee der guten Tat aus Barmherzigkeit“ ist eine christliche Idee (S. 91). Auch der Aberglaube und die Angst vor bösen Geistern, wenn z.B. jemand an einer Depression erkrankt ist, erschweren das Helfen. Andererseits war es für mich interessant zu lesen, dass die Familie Gyalzur trotz ihrer Etablierung in Europa doch noch an tibetischen Traditionen hängt, so gibt der jüngere Sohn z.B. an, dass er nie eine Schweizerin ohne den Segen seiner Eltern geheiratet hätte – auch wenn dieser Segen Letzteren schwerfiel.
Bildtafeln im Inneren des Buches illustrieren und verdeutlichen das Gelesene, darüber hinaus bieten sie schöne Einblicke in die tibetische Landschaft.
Vor- und Nachwort der Gyalzur-Söhne lassen das Buch neben einem informativen zu einem sehr persönlichen werden: Hier wird den Leser/innen klar, was Tendols Einsatz auch der Familie, insbesondere den Söhnen, abverlangte; umso erfreulicher, dass die Gyalzurs und die Waisenkinder sich letztlich als eine große Familie verstehen und an einem Strang ziehen.
Leserinnen und Lesern, die einmal über den eigenen Tellerrand hinausschauen möchten und sich nicht nur für die exotischen Schönheiten fremder Länder interessieren, sondern auch gerade vor den Problemen ihre Augen nicht verschließen möchten, kann ich dieses Buch nur wärmstens empfehlen.

Veröffentlicht am 30.10.2019

Die Geschichte einer Obsession

Der Revolver
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Bei „Der Revolver“ handelt es sich um das Debüt des japanischen Schriftstellers Fuminori Nakamura. In Japan bereits erstmals im Jahre 2003 erschienen, brachte der Diogenes-Verlag dieses knapp 200-seitige ...

Bei „Der Revolver“ handelt es sich um das Debüt des japanischen Schriftstellers Fuminori Nakamura. In Japan bereits erstmals im Jahre 2003 erschienen, brachte der Diogenes-Verlag dieses knapp 200-seitige Werk im September 2019 heraus.
Als der Student Nishikawa an einem regnerischen Abend niedergeschlagen und lustlos durch die dunklen Gassen Tokios spaziert, macht er einen zufälligen Fund: Neben einer männlichen Leiche entdeckt er einen Revolver. Von der Schönheit dieser Waffe fasziniert, nimmt er sie an sich. Schon bald kreisen seine Gedanken einzig um dieses Objekt, und es reicht ihm nicht mehr nur, die Waffe in seinem Besitz zu wissen: Nein, er hat das Gefühl, sie auch gebrauchen zu müssen.
Mit „Der Revolver“ ist Nakamura ein über weite Strecken spannendes und düsteres Erstlingswerk gelungen. Von Anfang an sind Leserinnen und Leser in einer melancholischen Stimmung gefangen, der Spannungsbogen steigt von Seite zu Seite, um dann in einem aufwühlenden Finale zu enden. Außerdem stellt sich die Frage: Wie wird es mit diesem jungen Studenten, dem die Welt durchaus offenstand, weitergehen? Wird er auch noch seinem letzten Begehren folgen?
In diesem Roman stehen der Revolver und die Macht, die er auf entsprechend disponierte Menschen ausüben kann, im Mittelpunkt. Dennoch ist diese Waffe m.E. lediglich ein aus dramaturgischer Sicht geschickt gewähltes Symbol: Nach und nach entwickelt der ursprünglich einsame Student, dem jeder Sinn im Leben abhandengekommen ist, eine wahre Obsession für die Waffe. Gibt es nicht im Leben eines jeden Menschen Objekte der Begierde, die über Durststrecken hinwegtrösten sollen und sich ins Zentrum der Gedanken stellen? Meiner Meinung nach ja. Geschickt gewählt ist der Revolver dennoch, da er als Tötungswerkzeug eine für alle ersichtliche Katastrophe förmlich heraufbeschwört.
Nishikawa ist ein junger Mensch, der sich selbst noch nicht so richtig gefunden hat, der sich eher treiben lässt, durch sexuelle Eskapaden, die teils auszuarten drohen, versucht, seinem ansonsten eintönigen und sinnlosen Leben etwas Glanz zu verleihen. Glücklich wird er dadurch nicht. Im Alter von sechs Jahren adoptiert, verlief sein Leben trotz schwieriger Voraussetzungen in durchaus geordneten Bahnen. Und dennoch scheint ihm etwas zu fehlen: Immer wieder wird deutlich, wie gleichgültig ihm alles ist – bis eben der Revolver in sein Leben tritt. Zum einen kann man beim Lesen durchaus Mitleid empfinden, zum anderen präsentiert sich der junge Mann jedoch auch passiv und antriebslos, was ihn mir gerade im Zusammenhang mit seiner Fähigkeit zur Selbstreflexion eher unsympathisch macht. Auch fiel es mir an manchen Stellen, z.B. als er die Waffe erstmals auf einen Menschen richtet, schwer, seinen Gedanken zu folgen. Jedenfalls ist es gerade diese Sinnlosigkeit gepaart mit fehlender Initiative, die diesen jungen Mann ins Verderben führen könnte.
Der Roman ist aus der Ich-Perspektive geschildert, was den Leser/innen hilft, sich in den Protagonisten hineinzuversetzen, und Betroffenheit hervorruft. Die Sätze sind prägnant und zum größten Teil recht kurz, was die Konzentration auf das Wesentliche, nämlich die innere Entwicklung des Protagonisten, lenkt. An einigen Stellen wird jedoch die düstere, ergreifende Stimmung unterbrochen, was mir persönlich ein wenig von der Intensität des Lesens nahm.
Insgesamt ist „Der Revolver“ ein verstörendes Debüt, das die Verlorenheit eines jungen Menschen treffend darstellt und die Lesenden in seinen Bann zieht. Mich selbst hat das Buch neugierig gemacht auf weitere Werke dieses Autors, und ich empfehle es gerne zur Lektüre weiter.

Veröffentlicht am 06.10.2019

Eine Geschichte wie Porzellan – fein und herb.

Ein neues Blau
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Bei „Ein neues Blau“ handelt es sich um Tom Sallers zweiten Roman, der wiederum ein Stück deutscher Zeitgeschichte behandelt. Erschienen ist dieses 416-seitige Buch im August 2019 bei List.
Berlin 1985: ...

Bei „Ein neues Blau“ handelt es sich um Tom Sallers zweiten Roman, der wiederum ein Stück deutscher Zeitgeschichte behandelt. Erschienen ist dieses 416-seitige Buch im August 2019 bei List.
Berlin 1985: Die mit sich selbst im Unreinen und widerspenstige Schülerin Anja wird von ihrem Lehrer animiert, sich nachmittags um die alte, einsame Lili Kuhn zu kümmern. Nach und nach kommen die beiden Frauen einander näher, es entwickelt sich zwischen ihnen eine Art Freundschaft, von der beide profitieren.
Berlin in den 1920-er und 30-er Jahren: Hier wächst die junge Lili Kuhn als Halbwaise gemeinsam mit ihrem Vater und dem Japaner Takeshi in wechselhaften Zeiten heran. Als sie Günther von Pechmann, den Direktor der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Berlin (KPM), kennenlernt, scheint sie ihre Berufung gefunden zu haben – bis mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ein neuer, schärferer Wind weht.
Der Roman handelt von zwei Frauen, die auf den ersten Blick ungleicher kaum sein könnten. Dennoch zeigen sie frappierende Ähnlichkeit: Beide haben vermeintlich Schuld auf sich geladen, beide haben jüdische Wurzeln … und beide sind fasziniert vom weißen Gold, auch wenn Anja erst des Anstoßes durch Lili bedarf, um dessen Faszination und „Coolness“ zu begreifen.
Entsprechend den Protagonistinnen, wird der Roman auf zwei Ebenen erzählt: zum einen das Jahr 1985. Anja avanciert zu Lilis Gesellschafterin und erfährt von ihr, das gilt auch für die Leser/innen, durch gemeinsame Gespräche viel über das Schicksal derselben. Doch nicht nur Lili selbst, auch der Psychotherapeut, den Anja aufgrund selbstverletzenden Verhaltens zwangsweise aufsucht, hilft dem Mädchen, zu sich selbst und zu seinen Wurzeln zu finden. Passend ist dieser Romanteil in der Ich-Perspektive und in moderner, teilweise fast schon schnoddriger Sprache verfasst. Unterbrochen wird die Handlung in der Gegenwart durch die Darstellung von Lilis Lebensweg in den Jahren 1919, als sie nach Berlin kommt, bis zum Jahr 1935, als Lili als Halbjüdin gezwungen ist, ihre Heimat zu verlassen. Hier dominiert eine fast schon poetisch anmutende, auf jeden Fall aber bildliche Erzählweise, die Stadt und Lilis Umfeld lebendig werden lässt. Geschickt lässt Tom Saller fiktive Gestalten mit historischen interagieren, genannt seien hier Marguerite Friedlaender und der oben schon erwähnte Günther von Pechmann. Künstlerische Freiheit, die sich der Autor genommen hat und ohne die ein solcher Roman nicht auskommt, wird in den Anmerkungen und den Quellenangaben knapp erläutert.
Im Gegensatz zu vielen Romanen, die das Schicksal der deutschen Juden und anderer als minderwertig bewerteten Gesellschaftsschichten (in diesem Roman vor allem moderne Künstler/innen und Kommunist/innen) in der Zeit des Nationalsozialismus thematisieren, kommt dieses Buch eher ruhig und auf den ersten Blick unspektakulär daher. Im Zentrum dieses Werkes stehen eindeutig das individuelle Schicksal und die persönliche Entwicklung der Protagonistinnen.
Neben den im Roman geschilderten Schicksalen erfahren Leserinnen und Leser viel Wissenswertes über Porzellankunst und –herstellung, japanische Teekultur, die jüdische Religion und dem Umgang mit entarteter Kunst unter den Nazischärgen.
Während ich den Roman über weite Strecken sehr interessiert gelesen habe, konnte dessen Ende mich nicht überzeugen. Hier verlaufen die Lösung der Schuldfrage und die Rückkehr Anjas zu ihren eigenen Wurzeln m.E. zu glatt, zu leicht. Doch dieses mag dem Wunsch der breiten Leserschaft nach einem harmonischen Ende geschuldet zu sein. Mir jedoch hat es einiges von der Faszination dieser Lektüre genommen.
Insgesamt ist „Ein neues Blau“ dennoch ein Roman, der über ein Stück deutscher Zeitgeschichte hinaus viel Lesens- und Wissenswertes zu bieten hat und den ich daher gerne weiterempfehle.