Snowden erzählt chronologisch, mit prägnanten Kapitelüberschriften. Dabei setzt er die Geschehnisse, Wahrnehmungen und Gefühle ständig in Relation zu späteren Empfindungen. Diese Reflektionen bilden eine große Stärke der Biografie.
Es ist ein sympathischer Zug, dass er sich nicht als Übermenschen darstellt. Zu Fehlern, die er z. B. unter dem Deckmantel der Anonymität über’s Internet begangen hat, steht er und betrachtet diese als Teil seiner persönlichen Entwicklung.
Ich halte es für eine gute Wahl des Übersetzers Kay Greiners, mit dem „Du“ zu arbeiten. Hierdurch fühlte ich mich adressiert, konnte mich hineindenken und -fühlen.
Sehr eindringlich und bildhaft finde ich angeführte laienkompatible Gleichnisse. Anspruchsvolle Technik, Funktionsweisen und Prozesse werden hierdurch verständlich und greifbar.
Zu Beginn geht Snowden auf die patriotische Prägung seiner Vorfahren ein und schlägt sodann den Bogen zu seiner Kindheit und Jugend. Sein Vater ermöglicht ihm im Alter von sechs Jahren erste Berührungspunkte mit Computern und do-it-yourself. Dies liest sich süß, witzig und fesselnd. Man nimmt daran teil, wie ihn die Technik anfangs überfordert, dann fordert, zunehmend fasziniert, mit Leidenschaft erfüllt und fortan prägt.
Er beschreibt zudem auf interessante Weise die Entwicklung vom nutzerorientierten zum kommerzorientierten Internet.
Des Weiteren beschreibt er seine Beobachtungen zu den Auswirkungen des 11. September 2001 auf Bevölkerung und Staatsapparat, dessen Zeuge er bei verschiedenen beruflichen Stationen wird. Schlimm muss es gewesen sein, als er begriff, dass es sehr wohl einen Unterschied macht, dem Staat oder der Gesellschaft zu dienen. Dieser schleichende Prozess, das Gefühl des Zerrissenwerdens, wird eindringlich geschildert. Erstaunlich, dass viele Bedienstete von der Massenüberwachung wussten, aber weggesehen oder zu ihrem eigenen Vorteil missbraucht haben.
Der Mittelteil ist versachlicht und wirkt streckenweise ein bisschen trocken. Das ist aber keine Kritik, sondern eine Feststellung. Snowden erläutert die Strukturen der US-Militär- und Geheimdienstbehörden und angegliederter Privatunternehmen und die Wirkungsweise der vielfältigen eingesetzten Programme. Ich nehme an, dies belegt die umfassende Expertise und gehört für Interessierte so dargestellt, auch wenn ich als Laie diesen hohen Detailierungsgrad nicht benötigt hätte. Deutlich wird im weiteren Verlauf, wenn auf das monatelange zielgerichtete Zusammentragen und Herausschmuggeln der sensiblen Informationen eingegangen wird, dass er große Risiken auf sich genommen hat. Er hätte ein privilegiertes Leben führen können, hat stattdessen idealistisch, mutig und uneigennützig gehandelt.
Als besonders reizvoll und gut nachvollziehbar empfinde ich den Abwägungsprozess, welche Form der Veröffentlichung er wählt (u. a. Bezüge zu Assange und Wikileaks), wo und gegenüber wem er sich offenbart. Spannend sind auch Einblicke zu darauf folgenden Tagen, selbst wenn man das Ergebnis kennt.
Der Fokus der Biografie liegt auf Snowdens Enthüllungen und vor allem dem Weg dahin. Zum Privatleben geht er auf das Kennenlernen von Lindsay ein, ansonsten kommen seine Freundin, Familie und Freundschaften nur beiläufig vor. In diesem Aspekt war phasenweise sogar der Hollywood-Film ergiebiger. Nichtsdestotrotz: Der elementare Beitrag dieser Mitmenschen, Edwards Snowdens Dankbarkeit und seine eigene Menschlichkeit kommen klar zum Ausdruck. Ich mag die uneitle Art und den hervorblitzenden Humor. Darin kann man sich auch selbst wiederfinden. Als bereichernde, packende Ergänzung empfand ich das vorletzte Kapitel, in dem Tagebucheinträge seiner Freundin wiedergegeben werden.
In Ausführungen zu Jahren im Exil, zum Status Quo und einem Ausblick hält sich Snowden bedeckt. Hierzu werden nur 3,5 Seiten geliefert, mit geringem Erkenntnisgewinn. Soll wohl heißen: Es lebe die Gedankenfreiheit, und es gilt, wachsam zu bleiben und sich auf vielfältigen Wegen informiert zu halten. Übrigens: Zu aktuellen politischen Geschehnissen (z. B. Trump, Hongkong) äußert sich Snowden verständlicherweise als Asylsuchender nicht explizit. Nichtsdestotrotz dürfte im größeren Kontext seine Meinung bei allen findigen Lesern angekommen sein.
Auch wenn die Fokussierung nicht ganz meinem Geschmack entspricht und das Allermeiste bereits bekannt ist, fünf Sterne für die packende, hochinteressante und flüssig lesbare Biografie eines der wichtigsten Freiheitskämpfer unserer Zeit.