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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 01.11.2019

Zum Totlachen.

Achtsam morden
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Mein Vater war Rechtsanwalt, ein Meister der Rhetorik und ein großer Fan alter Screwball-Komödien. Ich bin mit Zitaten aus dem BGB und fröhlichen Wortgefechten am Mittagstisch aufgewachsen. Er hat immer ...

Mein Vater war Rechtsanwalt, ein Meister der Rhetorik und ein großer Fan alter Screwball-Komödien. Ich bin mit Zitaten aus dem BGB und fröhlichen Wortgefechten am Mittagstisch aufgewachsen. Er hat immer diese roten Taschenbuch-Krimis gelesen, die in einer langen Reihe in der Kaminecke standen, und dabei dieses lustige, schmunzelnde Geräusch von sich gegeben. Der Krimi seines Kollegen Kasten Dusse hätte ihm bestimmt gefallen. Denn Achtsam morden ist ein ungemein witziges Gesamtpaket aus einer schlicht genialen Idee, herrlich schrägen Figuren und zum Totlachen skurrilen Situationen.

Zur Story:
Anwalt Björn Diemel ist gestresst. Das liegt zum einen an Björns einzigem Mandanten Dragan, der alles andere als ein Vorzeigebürger ist. Zum anderen steigt ihm seine zickige Frau aufs Dach, weil Björn lieber Großkriminelle wie Dragan verteidigt, als mit seiner kleinen Tochter mal den Spielplatz zu frequentierten.

Blöd für den Strafverteidiger, dass weder seine Ehefrau noch sein Mandant Spaß verstehen, wenn es um ihre eigenen Interessen geht: Während Dragan von Björn aus einer völlig ausweglosen Situation rausgeboxt werden will, zwingt Björns Ehefrau ihn zu einem Achtsamkeitstraining, um seine Prioritäten wieder gerade zu rücken.

Mit diesen widerstreitenden Interessen im Nacken trifft Björn auf seinen neuen Achtsamkeitscoach: Joschka Breitner, ein absolutes Buch-Highlight. Schon alleine deshalb, weil er so echt rüberkommt. Schnell lernt Björn von Breitner die Prinzipien der Achtsamkeit für sich zu nutzen – allerdings völlig anders als erwartet. Denn als Dragan einmal zu viel die neu aufblühende Work Life Balance seines Anwalts bedroht, bringt dieser ihn kurzerhand nach allen Regeln der Achtsamkeit um.

„Was mich an meinem ersten Mord bis heute so mit Freunde erfüllt, ist der Umstand, dass ich dabei wertungsfrei und liebevoll den Moment genießen konnte. So, wie mein Coach es mir in der allerersten Stunde als erstrebenswert beschrieben hatte. Mein erster Mord war eine ganz spontane Befolgung meiner Bedürfnisse, aus dem Augenblick heraus. Und so gesehen eine sehr erfolgreiche Achtsamkeitsübung. Nicht für die anderen. Aber für mich.“

Absolut großartig sind die Zitate aus Breitners fiktivem Buch Entschleunigt auf der Überholspur, die jedes Kapitel von Achtsam morden einleiten. Man möchte dieses Werk besitzen, das vom Protagonisten sehr erfolgreich genutzt wird, um sich vom gestressten Anwalt zum glücklichen Kriminellen zu entwickeln. Schließlich muss ja einer Dragans Job machen, damit dessen Ableben nicht auffliegt. Und Björn ist sowieso gerade dabei, aufzuräumen – warum also nicht auch noch in der Unterwelt.

Absolut Weltklasse ist der Einfall, Björns Familieninteressen wie etwa die Suche nach einem Kindergartenplatz so zu regeln, wie der Pate das getan hätte. Außerdem mag ich die bildhafte Schreibe und die völlig abgeklärte, aber angenehm begeisterungsfähige Hauptfigur. Mein persönlicher Lieblingssatz ist die Beschreibung des Menüs in einem russischen Restaurant.

„Für mich sah russisches Essen immer so aus, als hätte ein Chinese beim Italiener gegessen und es dann über einen Teller mit deutschen Spezialitäten erbrochen.“

Das muss man sich erstmal ausdenken und dann damit auch noch so richtig liegen. Achtsam morden ist der Debütroman von Karsten Dusse, der als TV-Autor bereits mit dem Deutschen Fernsehpreis und Deutschen Comedypreis ausgezeichnet wurde. Das Buch wird allen Spaß machen, die eine Schwäche für locker vorgetragenen, intelligenten, tiefschwarzen Humor haben. Unbedingt lesen!

Veröffentlicht am 01.11.2019

Prag sehen und verzweifeln.

Melmoth
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Schwierig, denke ich. Es fällt mir in der Tat richtig schwer, zu diesem Buch Stellung zu beziehen oder irgendwas ansatzweise Ausgefeiltes zu schreiben. Denn wenn man nicht zusammenpasst, dann muss man ...

Schwierig, denke ich. Es fällt mir in der Tat richtig schwer, zu diesem Buch Stellung zu beziehen oder irgendwas ansatzweise Ausgefeiltes zu schreiben. Denn wenn man nicht zusammenpasst, dann muss man auch nicht lang nach Worten kramen.

Einerseits empfinde ich das Buch Melmoth als eines, das intelligent und von einer beachtlichen Tiefe ist. Andererseits lässt es mich seltsam kalt, obwohl es aufgrund seiner Geschichte ergreifend sein sollte. Vielleicht verstehe ich das Buch in seinen Tiefen einfach nicht.

Melmoth ist eine ewig über die Erde wandernde Frauengestalt, die sich immer dort manifestiert, wo sie großes Leid bezeugen kann. Sie verfolgt jene, die auf ihrem Weg die oft dünne Schwelle zum Bösen überschritten haben und reicht ihnen die Hand, damit sie ihr Gesellschaft und gleichzeitig Abbitte leisten.

Die Erzählung von Sarah Perry greift mit Melmoth die Gestalt von Melmoth dem Wanderer auf, Hauptfigur des gleichnamigen, bereits 1820 erschienenen Schauerromans. Auch bedient sie sich einer charakteristischen Erzählweise dieses Genres, denn ihr Buch besteht aus vielen einzelnen Erzählungen, Briefen, Tagebüchern und weiteren Augenzeugenberichten von denen, die Melmoth gesehen haben und sie aus ganz unterschiedlichen Gründen fürchten.

Ich bin versucht, Melmoth der Wanderer zu lesen, um Sarah Perrys Werk besser zu verstehen. Das, was ich über ihn lese, erscheint mir so viel schlüssiger als bei Perry, denn in der Ursprungserzählung wird der Wanderer als einer beschrieben, der faustgleich einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat und nun jemanden finden muss, der seinen Platz einnimmt. So macht das Händereichen Sinn. Bei Perry wirkt es seltsam zutraulich von einer Figur, die die Sünder holt, um sich gemeinsam die Füße blutig zu laufen.

Sarah Perry hat mich somit nach ein paar Seiten verloren und nicht einfangen können, auch wenn ich die Intelligenz ihrer Geschichte von außen bewundere.
Nur bleibt es eben ein „von außen“ ohne echte Berührung, obwohl zwischen den Zeilen viel Leid, Erzählkunst und Bedeutung steckt.

Vielleicht bin ich selbst völlig falsch an das Buch rangegangen. Ich hatte mir das Ganze gruseliger vorgestellt. Ich wollte zwischen den Seiten überdies das Gefühl kennen lernen, in Prag zu sein, habe aber seitenweise nur auf eine schneebedeckte Kulisse geguckt. Und ich fand die Dohlen, die permanent als Unglücksboten herangezogen werden, regelrecht nervig.

Mein Fazit: Melmoth ist nichts für Menschen, die alle Jubeljahre mal ein Buch lesen und dann ganz schnöde spannend unterhalten werden wollen.
Es ist sicher ein literarischer Gewinn für diejenigen Leser, die anspruchsvolle, ungewöhnlich gewebte und langsame Erzählungen mit einer melancholisch dunklen Note schätzen. Meine Welt ist es nicht. Zu dunkel. Zu unnahbar. Zu viel wirre Schatten ohne das rechte Licht.

Veröffentlicht am 01.11.2019

Faszination des Fiesen.

Blood Orange - Was sie nicht wissen
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Ich stehe in einem Pub irgendwo in London, und neben mir säuft sich eine Businessfrau gerade ihre Würde weg. Ihr Lidstrich ist verschmiert, ihr Rock unanständig hochgerutscht und ihre Sinne sind so vollkommen ...

Ich stehe in einem Pub irgendwo in London, und neben mir säuft sich eine Businessfrau gerade ihre Würde weg. Ihr Lidstrich ist verschmiert, ihr Rock unanständig hochgerutscht und ihre Sinne sind so vollkommen benebelt, dass sie wahrscheinlich gleich Sex auf dem Klo haben wird.

Stop, nein, ich sitze zu Hause am Esstisch und schreibe beim Kaffee diesen Text. Aber so ungefähr fühlt es sich an, Blood Orange von Harriet Tyce zu lesen. Die oben erwähnte Frau könnte die Anwältin Alison Price sein, die im Roman gerade ihren ersten Mordfall bearbeitet.

Wie immer stürzt sie sich in ihre Job und lässt dabei ein paar persönliche Angelegenheiten grob fahrlässig aus dem Ruder laufen. Beispielsweise ihre Rolle als Ehefrau und Mutter, die sie fortwährend mit Alkohol, impulsiven Exzessen und einem Verhältnis mit ihrem kaltherzigen Arbeitskollegen sabotiert. Ihr dabei zuzusehen, tut ein bisschen weh. Aber es ist auch zu spannend, um den Krimi wegzulegen.

Da die Autorin selbst rund zehn Jahre Prozessanwältin war, bringt der Mordfall die nötige Vielschichtigkeit mit, um spannend zu bleiben: Mandantin Madeleine hat offensichtlich ihren Ehemann erstochen, zieht sich aber trotz Schuldbekenntnis in ein Schneckenhaus aus vagen Aussagen zurück. Nach und nach setzen sich die wenigen Bruchstücke, die Alison ihr entlocken kann, zu einem Szenario häuslicher Gewalt und Demütigung zusammen – bis plötzlich die ersten Ungereimtheiten auftauchen.

Beides, Mordfall und Privatleben, spitzen sich im Verlauf der Story immer mehr zu, was dem Buch echtes Suchtpotential verleiht. Nur, dass ich ganz oft beim Lesen förmlich nicht hingucken wollte, weil ich mit jeder Seite in einen Sog aus Fremdschämen, schäbigem Verhalten und Angst reingerate.

Top Futter für niedere Lese-Instinkte:

Ich persönlich war gefesselt bis zum Ende. Aber die Faszination war eher eine, für die auch ein Artikel in der Regenbogenpresse gereicht hätte: Man will wissen, welchem B-Promi gerade sein Leben entgleitet, und dann nicht mehr darüber nachdenken. Dazu kommt, dass ich kein Freund von subtil grausamer Gewalt bin, gerade zum Ende hin war mir dann doch vieles zu krass. Wer aber den Anspruch hat, zwischendurch mal einen ordentlich gestrickten, nicht unbedingt tiefsinnigen Krimi mit vielen Wendungen zu lesen, wird das Buch vermutlich verschlingen.