Die (nicht ganz) unerschütterliche Wahrheit der Zeugen Jehovas
Die Autorin Stefanie de Velasco wagt sich an eine Thematik, die vielen sicherlich zu heiß wäre, um darüber kritisch zu schreiben: Das Aufwachsen in der Weltuntergangssekte der Zeugen Jehovas. Für sie ist ...
Die Autorin Stefanie de Velasco wagt sich an eine Thematik, die vielen sicherlich zu heiß wäre, um darüber kritisch zu schreiben: Das Aufwachsen in der Weltuntergangssekte der Zeugen Jehovas. Für sie ist dieses Thema jedoch sehr nah, denn sie selbst lebte bis zum Alter von 15 Jahren in der Gemeinschaft und verließ diese dann im Jugendalter.
Dass de Velasco weiß, wovon sie schreibt, merkt man diesem Buch deutlich an. Mithilfe der Lebensgeschichte der jugendlichen Protagonistin Esther, welche im Rheinland geboren wurde und später direkt nach der Wende mit den Eltern in die fiktive ostdeutsche Stadt Peterswalde geht, um dort einen neuen Königreichssaal und damit auch eine neue Gemeinde von Jehovas Zeugen aufzubauen, erklärt de Valasco detailliert die Lehren und Gebräuche dieser sehr speziellen Glaubensgemeinschaft. Eine simple Erzählung dieses Aufwachsens wäre sicherlich schon interessant genug für einen Roman, die Autorin baut jedoch noch ein schicksalhaftes Ereignis, um welches sich Esthers Gedanken und letztlich ihr gesamtes Leben in Peterswalde herum bewegen. Stück für Stück erfahren wir, was am früheren Wohnort und in der dortigen Gemeinde vorgefallen ist, was Esthers Leben nachhaltig verändert hat. So springt die Ich-Erzählerin immer wieder gedanklich in die Vergangenheit, um diesem Trauma nachzuspüren.
Dieses Buch bietet in seiner süffigen, spannenden Erzählweise die Möglichkeit, einen Blick hinter die Kulissen der Menschen zu werfen, die viele Personen sicherlich nur aus der Fußgängerzone von Innenstädten kennen, wie sie unauffällig gekleidet mit ihren Traktaten dastehen und geduldig lächelnd darauf warten, neue Gläubige akquirieren zu können. Der Titel des Romans „Kein Teil der Welt“ kann nach der Lektüre nicht nur so verstanden werden, dass die Mitglieder der Zeugen Jehovas nicht nur nicht in unserer Gesellschaft angekommen sind, sondern auch sich selbst als keinen Teil „der Welt“ ansehen. Denn „die Welt“ beschreibt alles außerhalb der Gemeinschaft und dieses Alles ist von Satan beseelt. Dieses Alles wird nach dem Harmagedon (der Apokalypse, dem Weltuntergang) nicht ins Paradies kommen, so wie Jehovas Zeugen, die „die Wahrheit“ kennen und zwar nur sie. So leben diese Menschen zwar unter uns, haben vielleicht weltliche Berufe, bleiben jedoch selbstgewählt stets unter einer Glasglocke, wie das Cover des Buches eindrücklich widerspiegelt.
Mit der mitreißenden Geschichte hat es de Velasco geschafft, dass ich mich eingehend mit dieser Glaubensgemeinschaft/Sekte beschäftigt habe und die Thematik noch lange und intensiv in mir nachhallt. Die Autorin beschwört außerdem die Atmosphäre nicht nur hinter den Mauern der Gemeinschaft sondern auch des fiktiven Ortes im Osten Deutschlands kurz nach der Wende, das viel beschriebene Vakuum und die Orientierungslosigkeit der Menschen, herauf. Der Roman ist solide geschrieben, hat aber kleinere Längen im Mittelteil sowie für mich nicht deutbare, einzelne, kurze Kapiteleinschübe, die eine nicht greifbare fantastische Geschichte, unabhängig vom eigentlichen Romangeschehen, erzählen. Was es damit auf sich hat, bleibt mir bis zum Schluss verschlossen. Ich konnte hier keinerlei Bezug zum eigentlichen Roman herstellen. Diesen gibt es bestimmt, aber er erscheint mir dann doch zu stark verborgen.
Insgesamt handelt es sich hier um einen spannenden Roman über die Kindheit und Jugend bei den Zeugen Jehovas, der nicht nur eine interessante Grundthematik behandelt, sondern auch im Kleinen die persönliche Geschichte Esthers mitfühlend erzählt.