Eine wunderbare Reise durch die Zeit und eine (ehemals) geteilte Stadt
Bildbände sind für mich immer kleine Reisen. Ob zu Orten oder Zeiten, emotional befinde ich mich dann einfach nicht mehr im Hier und Jetzt. Ich liebe es, die jeweils aktuelle Mode in Kleidung und Frisuren ...
Bildbände sind für mich immer kleine Reisen. Ob zu Orten oder Zeiten, emotional befinde ich mich dann einfach nicht mehr im Hier und Jetzt. Ich liebe es, die jeweils aktuelle Mode in Kleidung und Frisuren zu betrachten, Prallelen zu sehen, Dinge wiederkommen zu sehen oder anderen Dingen quasi auch nachzutrauern.
Im Bildband von Nelly Rau-Häring, der sich mit den „zwei Seiten Berlins“ befasst, sind so viele Dinge „versteckt“, die gar nicht ost-west-typisch sind, auch nicht berlintypisch, sondern einfach überall so waren. Gerade das geht mir nahe und zeigt mir, wie engstirnig der Mensch oft denkt und handelt. Dennoch ist es eine wunderbare Reise über vierzig Jahre hinweg durch Berlin, mit seinen Menschen, seinem Leben und seinen Problemen.
Die Fotos sind einfach großartig. Schon allein, wenn ich sehe, wie in einer Straße Auto an Auto steht und fast alle von ihren (1966 quasi ausschließlich männlichen Besitzern) liebevoll und im Anzug an einem Sonntag geputzt werden, geht mir das Herz auf. Auch der Plakatierer mit seinem Fahrrad – da geht mir das Herz auf! Lebensfreude, aber auch Frust; Ernst, aber auch Spaß; Eleganz, aber auch Lässigkeit; Kälte und Wärme – all das findet sich in den Bildern. Und sehr oft wundert man sich, dass das Bild nicht den Teil Berlins zeigt, den man zunächst vermutet hätte und auch im Jahrzehnt irrt man sich schnell.
Dass die Bilder überwiegend in Schwarzweiß sind, verstärkt diesen Effekt noch. Für mich sind sie aber auch gerade dadurch ausdrucksstärker. Mich persönlich lenken Farben oftmals ab. Die Schwarzweißbilder fokussieren auf das Wesentliche. Der Nikolaus vor dem Bestattungsinstitut ist in (blassen) Farben jedoch sehr effektvoll.
Die Bilder der Mauerreste, der „Zeit danach“ – sie stimmen einfach nachdenklich. Es ist schlicht schön, dass gewisse Dinge vorbei sind.
Das Interview ist sehr aufschlussreich und liest sich prima weg. Man hat fast das Gefühl, selbst mit Nelly Rau-Häring gesprochen zu haben. Auch das Vorwort ist absolut lesenswert und stimmt auf die anschließenden Bilder ein.
Einundvierzig Jahre existierte die Teilung und damit die Mauer und die DDR. Vor dreißig Jahren fiel die Mauer. Erstaunlich! Ich bin sehr beeindruckt und noch mehr begeistert von diesem Bildband, der völlig ohne Worte auskommt und doch so viel sagt. Dafür gebe ich die vollen fünf Sterne.