Schatz im Bücherregal!
Manche Bücher springen einen ganz unverhofft an und man hat auf einmal dieses wohlige, erwartungsfrohe Gefühl in der Magengrube – ein Gefühl, dass dieses Buch einen nachhaltig berühren wird. Genauso ging ...
Manche Bücher springen einen ganz unverhofft an und man hat auf einmal dieses wohlige, erwartungsfrohe Gefühl in der Magengrube – ein Gefühl, dass dieses Buch einen nachhaltig berühren wird. Genauso ging es mir mit dem Nachttiger – hatte ich das Buch zwar schon im englischen Original entdeckt, es dann aber aufgrund der endlosen Wunschliste nicht mehr auf dem Schirm gehabt. Als ich dann zufällig über die vor kurzem erschienene deutsche Ausgabe gestolpert bin musste ich es einfach sofort lesen!
Ein unglaublich rundes, gelungenes Buch, das in Sprache, Stil und Handlung ganz großes Kino ist!
Dieses Buch vereint historischen Hintergrund mit Mythen und Legenden, mit Krimielementen. Hinzu kommt eine wundervolle Coming of Age-Geschichte sowie einer Liebesgeschichte, die zu den romantischsten gehört, die ich die letzte Zeit gelesen habe.
Geschrieben aus verschiedenen Perspektiven verfolgt der Leser so die irgendwie absurde und doch vom Schicksal geleitete Odysee eines abgetrennten Fingers zu seinem Besitzer. Getragen wird die Geschichte vom Glauben daran, dass nur bei vollständig begrabenem Körper die Seele Ruhe und Frieden finden kann.
Das historische Malaya (das heutige Malaysia) der 1930er Jahre bietet dabei die perfekte Kulisse. Der gelebte Luxus der Kolonialisten, die eigentlich die meisten Leichen im Keller zu haben scheinen, steht im krassen Gegensatz zum Leben der Einheimischen. Deren Lebensweise geprägt von Aberglauben und Mythen vermischt sich mit der westlichen Welt der Doppelmoral und zeigt so, wie die eigene Identität und Kultur durch den Kolonialismus sich immer mehr verwischen.
Diese Entwicklung bemerkt man am besten bei den beiden Protagonisten Ren und Ji Lin. Beide verbindet nicht nur der Zufall in Form des amputierten Fingers, beide scheinen auch hypersensibel, was das Übernatürliche angeht. Während des Lesens beginnt man sich immer mehr und mehr zu fragen, ob an der abergläubischen Idee von Wertigern und Geistern nicht mehr dran ist als an logisch rationalen Erklärungen. Und je mehr man liest, umso mehr begeistert einen dieses Zusammenspiel aus Mythen und Fakten, aus Alt und Modern, aus ursprünglicher und neuer Welt. Getragen wird das ganze durch das exotische, tropisch schwüle Malaya, das der Geschichte seinen ganz eigenen Rahmen gibt und Mythen lebendig werden lässt.
Besonders berührt hat mich die aufopfernde Rolle von Ren, diesem mutigen, selbstlosen Jungen, der schon viel Leid ertragen musste aber dennoch sich selbst hintenan stellt. Ji Lin hingegen reift während des Buches heran vom eigenwilligen, frustrierten Mädchen zur jungen Frau, das erkennt, dass das Glück oft direkt vor der eigenen Nase auf einen wartet.
Die Auflösung der Todesfälle und die Zusammenführung der Handlungsfäden hat mich ebenso überraschen können wie die Protagonisten. Das wunderbare Ende lässt wirklich keinen emotionalen Leserwunsch offen und zeigt, wie klug durchdacht diese Geschichte einfach ist.
Dieses Buch bietet einfach alles und dürfte somit auch fast jeden Lesegeschmack ansprechen. Ich hoffe, dass es noch viel mehr Aufmerksamkeit erhält, ich für meinen Teil kann es einfach jedem vorbehaltlos empfehlen!