Packender historischer Roman über die Woche vor dem Attentat von Sarajevo
Der AttentäterEs gibt eine Tatsache, die diesen Roman schon außergewöhnlich macht: Das Ende ist bereits von der ersten Seite an bekannt, denn es geht um die sieben letzten Tage vor dem Attentat in Sarajevo, wo der österreich-ungarische ...
Es gibt eine Tatsache, die diesen Roman schon außergewöhnlich macht: Das Ende ist bereits von der ersten Seite an bekannt, denn es geht um die sieben letzten Tage vor dem Attentat in Sarajevo, wo der österreich-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie auf tragische Weise ums Leben kamen.
Vermutlich war dieses Ereignis der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und quasi den ersten Weltkrieg einläutete. So weit haben wir vermutlich alle bereits im Geschichtsunterricht in der Schule vom Attentat und seinen weitreichenden Folgen gehört. Ich muss gestehen, dass bei mir damals, bis auf die Eckdaten, nicht allzu viel davon hängen geblieben ist, bestand doch der Geschichtsunterricht nur aus sachlich abgespulten Fakten und auswendig gelernten Jahreszahlen. Was der Autor in seinem Nachwort schreibt, kann ich nur bestätigen. Erst ein guter Roman kann einem die Ereignisse so nahe bringen, dass man sie wirklich versteht und auch die Beweggründe und Gefühle der beteiligten Menschen nachvollziehen kann, und genau das ist Ulf Schiewe in seinem Roman hervorragend gelungen!
Die sieben Kapitel zwischen Prolog und Epilog entsprechen den sieben Tagen bis zum Attentat, beginnend mit Montag, dem 22. Juni 1914 und endend mit dem Tag, an dem das Attentat stattfand. Einführend gibt es bei jedem Kapitel diverse Zeitungsabschnitte zum Zeitgeschehen, die den Roman so besonders authentisch wirken lassen und dem Leser dabei helfen, die politische Lage zu erkennen und einzuordnen. In kurzen Unter-Abschnitten, die jeweils mit Ortsangabe und Uhrzeit versehen sind, erfährt man die fortlaufenden Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln.
Da sind zum einen die Attentäter, junge Männer, die sich aus falsch verstandenem Patriotismus, Freiheitsliebe und einer gewissen Hoffnungslosigkeit, was ihre Zukunft angeht, zu einer Wahnsinnstat hinreißen lassen, gesteuert durch den serbischen Geheimbund „Schwarze Hand“. Besonders Gavrilo Princip, den Todesschützen, lernen wir intensiv kennen. Der Autor hat ihn sehr lebendig dargestellt und lässt uns in seine Gefühle und Gedanken blicken. Diese sind zwar fiktiv, kommen aber vermutlich der Wahrheit sehr nahe, denn Ulf Schiewe hat außerordentlich gründlich recherchiert und bewegt sich mit der gesamten Handlung sehr nahe an den historischen Fakten. Auch wenn ich letztendlich nicht wirklich verstehen kann, wieso ein Mensch sich und anderen so etwas antut, so habe ich hier wenigstens eine Ahnung zum Hergang und zu den Hintergründen erhalten.
Ein anderer Blickwinkel der Geschichte ist der von Franz Ferdinand, dem ungarisch-österreichischen Thronfolger und seiner Frau Sophie. Franz Ferdinand war anscheinend nicht sonderlich beliebt, hatte er doch ein aufbrausendes Wesen und eine sehr schroffe Art seinen Mitmenschen gegenüber. Mit Sophie jedoch verband ihn ein inniges Verhältnis, denn die beiden hatten aus Liebe geheiratet, allen Anfeindungen und Demütigungen zum Trotz, denn für die Habsburger Monarchie war diese Ehe nicht standesgemäß. Diese andere Seite des Thronfolgers kommt im Buch gut zum Ausdruck, und Sophie fand ich anhand der Beschreibung sehr liebenswert.
Ein weiterer Erzählstrang zeigt die Geschichte aus der Sicht des Majors Rudolf A. Markovic, der dem österreichisch-ungarischen Geheimdienst in Sarajevo angehört. Markovic und sein Stellvertreter, Hauptmann Heribert Simon, haben von einer Verschwörung der Schwarzen Hand erfahren und versuchen alles in ihrer Macht stehende, das Attentat zu verhindern. Diese Seite des Romans ist rein fiktiv, erhöht aber die Spannung und macht die Handlung erst so richtig lebendig. Die unrühmliche Rolle des Feldzeugmeisters und Landeschefs von Bosnien-Herzegowina, Oskar Potiorek, wiederum ist historisch belegt, und ich war entsetzt über die lasche Art der damaligen Sicherheitsvorkehrungen.
Eine ebenfalls fiktive aber sehr sympathische Protagonistin im Roman ist die Bordellbesitzerin Svetlana Maric, die vor allem für Markovic eine wichtige Rolle spielt.
Im chronologisch korrekten Zeitablauf erlebt man hautnah mit, wie sich die Dinge immer weiter zuspitzen, und obwohl man weiß, dass es unausweichlich ist, beginnt man zwischendurch zu hoffen, der Thronfolger und seine Frau könnten dem Attentat entgehen.
Für mich ist dies ein vielschichtiger, brillant geschriebener, herausragender Roman, der mir wieder ein wichtiges Ereignis europäischer Geschichte unvergesslich nahe gebracht hat.
Die schöne Ausstattung des Buches möchte ich nicht unerwähnt lassen. Auf den inneren Buchklappen ist ein Stadtplan von Sarajevo zu finden, auf dem die wichtigsten Stationen des Romans eingezeichnet sind. Das Glossar und vor allem ein übersichtliches Personenverzeichnis am Ende des Buches waren sehr hilfreich, denn mit den vor allem bei den serbischen Namen, die häufig auf „ović„ enden, kam ich anfangs etwas ins Schleudern und war dankbar für diese Gedächtnisstütze.