Bei „Ein neues Blau“ handelt es sich um Tom Sallers zweiten Roman, der wiederum ein Stück deutscher Zeitgeschichte behandelt. Erschienen ist dieses 416-seitige Buch im August 2019 bei List.
Berlin 1985: Die mit sich selbst im Unreinen und widerspenstige Schülerin Anja wird von ihrem Lehrer animiert, sich nachmittags um die alte, einsame Lili Kuhn zu kümmern. Nach und nach kommen die beiden Frauen einander näher, es entwickelt sich zwischen ihnen eine Art Freundschaft, von der beide profitieren.
Berlin in den 1920-er und 30-er Jahren: Hier wächst die junge Lili Kuhn als Halbwaise gemeinsam mit ihrem Vater und dem Japaner Takeshi in wechselhaften Zeiten heran. Als sie Günther von Pechmann, den Direktor der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Berlin (KPM), kennenlernt, scheint sie ihre Berufung gefunden zu haben – bis mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ein neuer, schärferer Wind weht.
Der Roman handelt von zwei Frauen, die auf den ersten Blick ungleicher kaum sein könnten. Dennoch zeigen sie frappierende Ähnlichkeit: Beide haben vermeintlich Schuld auf sich geladen, beide haben jüdische Wurzeln … und beide sind fasziniert vom weißen Gold, auch wenn Anja erst des Anstoßes durch Lili bedarf, um dessen Faszination und „Coolness“ zu begreifen.
Entsprechend den Protagonistinnen, wird der Roman auf zwei Ebenen erzählt: zum einen das Jahr 1985. Anja avanciert zu Lilis Gesellschafterin und erfährt von ihr, das gilt auch für die Leser/innen, durch gemeinsame Gespräche viel über das Schicksal derselben. Doch nicht nur Lili selbst, auch der Psychotherapeut, den Anja aufgrund selbstverletzenden Verhaltens zwangsweise aufsucht, hilft dem Mädchen, zu sich selbst und zu seinen Wurzeln zu finden. Passend ist dieser Romanteil in der Ich-Perspektive und in moderner, teilweise fast schon schnoddriger Sprache verfasst. Unterbrochen wird die Handlung in der Gegenwart durch die Darstellung von Lilis Lebensweg in den Jahren 1919, als sie nach Berlin kommt, bis zum Jahr 1935, als Lili als Halbjüdin gezwungen ist, ihre Heimat zu verlassen. Hier dominiert eine fast schon poetisch anmutende, auf jeden Fall aber bildliche Erzählweise, die Stadt und Lilis Umfeld lebendig werden lässt. Geschickt lässt Tom Saller fiktive Gestalten mit historischen interagieren, genannt seien hier Marguerite Friedlaender und der oben schon erwähnte Günther von Pechmann. Künstlerische Freiheit, die sich der Autor genommen hat und ohne die ein solcher Roman nicht auskommt, wird in den Anmerkungen und den Quellenangaben knapp erläutert.
Im Gegensatz zu vielen Romanen, die das Schicksal der deutschen Juden und anderer als minderwertig bewerteten Gesellschaftsschichten (in diesem Roman vor allem moderne Künstler/innen und Kommunist/innen) in der Zeit des Nationalsozialismus thematisieren, kommt dieses Buch eher ruhig und auf den ersten Blick unspektakulär daher. Im Zentrum dieses Werkes stehen eindeutig das individuelle Schicksal und die persönliche Entwicklung der Protagonistinnen.
Neben den im Roman geschilderten Schicksalen erfahren Leserinnen und Leser viel Wissenswertes über Porzellankunst und –herstellung, japanische Teekultur, die jüdische Religion und dem Umgang mit entarteter Kunst unter den Nazischärgen.
Während ich den Roman über weite Strecken sehr interessiert gelesen habe, konnte dessen Ende mich nicht überzeugen. Hier verlaufen die Lösung der Schuldfrage und die Rückkehr Anjas zu ihren eigenen Wurzeln m.E. zu glatt, zu leicht. Doch dieses mag dem Wunsch der breiten Leserschaft nach einem harmonischen Ende geschuldet zu sein. Mir jedoch hat es einiges von der Faszination dieser Lektüre genommen.
Insgesamt ist „Ein neues Blau“ dennoch ein Roman, der über ein Stück deutscher Zeitgeschichte hinaus viel Lesens- und Wissenswertes zu bieten hat und den ich daher gerne weiterempfehle.