Orphan Girl
Nellie BlyLange vor Günter Wallraff haben investigative Journalisten durch aufsehenerregende Reportagen für Schlagzeilen gesorgt. Zu ihnen zählt Elizabeth Jane Cochran (1864 - 1922), die unter ihrem selbstgewählten ...
Lange vor Günter Wallraff haben investigative Journalisten durch aufsehenerregende Reportagen für Schlagzeilen gesorgt. Zu ihnen zählt Elizabeth Jane Cochran (1864 - 1922), die unter ihrem selbstgewählten Pseudonym Nellie Bly als die erste amerikanische Undercover-Reporterin in die Geschichte eingegangen ist. In seiner Biografie "Nellie Bly. Die Biografie einer furchtlosen Frau und Undercover-Journalistin" schildert Nicola Attadio wichtige Momente aus dem Leben dieser starken Frau, die für ihre Reportagen in eine psychiatrische Anstalt, an die Front des 1. Weltkrieges und als erste Frau, ohne männliche Begleitung, in 72 Tagen um die Welt reiste.
September 1887: Eine junge Frau klopft an die Tür von John Cockerill, Direktor von Pulitzers Zeitung »New York World«. Sie verlangt, als Reporterin eingestellt zu werden. Keine Frau hat sich bisher so weit vorgewagt. Ihr Name ist Elizabeth Cochran, sie ist 23-jährig, seit drei Jahren schreibt sie unter dem Pseudonym Nellie Bly für den »Pittsburgh Dispatch«. Nellie Blys Idee, undercover in die psychiatrische Anstalt Blackwell‘s Island zu gehen und aus erster Hand über die dortigen Zustände zu berichten, überzeugt Cockerill. Es entsteht eine Reportage, die in die Geschichte des Journalismus eingeht und weit über New York hinaus Schlagzeilen macht. Doch das ist erst der Anfang einer beeindruckenden journalistischen Karriere. Sie reist allein und in Rekordgeschwindigkeit um die Welt, wird zum Albtraum korrupter Politiker und berichtet von Beginn weg als einzige Kriegsreporterin von der Ostfront des Ersten Weltkriegs, wo sie vier Jahre bleibt.
Das Cover zeigt ein Portrait von Elizabeth Jane Cochran in Sepia, das alle gängigen Klischees von einer jungen Dame spiegelt, die aus einem (früher wohlhabenden) gutem Hause stammt. Ihr Haar ist ordentlich frisiert und aufgesteckt, ihre Kleidung wirkt adrett und ist hochgeschlossen, wie es sich gehört. Auch ihre gerade Haltung und ihr sanftes Lächeln passt in dieses Bild. Nur ihre ernsten Augen können ihren eigenen Willen nicht verleugnen,. Jeder aufmerksame Betrachter ahnt, dass diese junge Dame für sich selbst einstehen kann und will.
Etwas Anderes bleibt ihr nicht übrig. Denn der soziale Abstieg nach dem Tod ihres Vaters macht alle Hoffnungen auf eine rosige Zukunft zunichte. Die neue Ehe ihrer Mutter endet mit einer Katastrophe, es ist kein Wunder, dass sie sich selbst vor einem ähnlichen Schicksal schützen will. Leider kann sie ihre angestrebte Laufbahn wegen fehlender finanzieller Mittel nicht fortführen, sie lässt sich nicht irritieren, setzt auf eine autodidaktische Bildung und behauptet sich in einer von Männern dominierten Welt.
Das Leben von Nellie Bly ist nicht gradlinig verlaufen, es weist viele Brüche und Sprünge auf, die jeden kritischen Betrachter stutzen lassen. Eins jedoch ist sicher: Sie war alles andere als gewöhnlich. Nach ihrem erfolgreichen Einsatz als "Undercover-Reporterin" in einer Irrenanstalt in New York folgten weitere aufsehenerregende Reportagen und eine spektakuläre Reise um die Welt, auf den Spuren von Jules Verne, die sie in den Fokus der Öffentlichkeit rückten. Danach suchte sie sich eine neue Herausforderung und übernahm nach dem Tod ihres wesentlich älteren Mannes die Leitung eines großen Konzerns. Nach dem durch einen Betrug ihres engsten Mitarbeiters verursachten wirtschaftlichen Zusammenbruch ihres Unternehmens kehrte sie wieder in ihren Beruf als Journalistin zurück und machte als mutige Kriegsberichterstatterin an der Ostfront während des Ersten Weltkriegs von sich reden.
Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich niemals zuvor von Nellie Bly gehört hatte. Sie war für mich eine große Unbekannte, genauso wie das in den USA bekannteLied von Stephen Foster, das Elizabeth Jane Cochran zu ihrem Pseudonym inspiriert hat. Dank der einfühlsamen Biographie von Nicola Attadio habe ich diese Wissenslücke füllen können. Er schreibt in einem nüchternen, sachlichen Stil, fasst die Höhepunkte ihres Lebens kurz und knapp zusammen und ordnet sie in den geschichtlichen Zusammenhang ein. Dennoch kann man seine Bewunderung für diese starke Frauengestalt des 19. Jahrhunderts in jeder Zeile seiner Buches spüren, die stets ihrem sozialen Gewissen gefolgt ist, mit spitzer Feder die gesellschaftlichen Zustände ihrer Zeit kritisch hinterfragt und sich im von männlichen Wertvorstellungen geprägten Viktorianischen Zeitalter durchgesetzt hat.
Wir sollten ihr Andenken in Ehren halten. Deshalb gibt es von mir eine klare Lese-Empfehlung!