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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 20.12.2019

Spannendes Thema, gut recherchiert, nicht nach meinem Geschmack umgesetzt

Wir sehen uns unter den Linden
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Der Einstieg in dieses Buch war perfekt. Im Frühling 1945 begleiten wir Suse von der Schule nach Hause, wo sie zu ihrem Entsetzen nicht nur ihre Eltern, sondern auch die Gestapo vorfindet und eine Katastrophe ...

Der Einstieg in dieses Buch war perfekt. Im Frühling 1945 begleiten wir Suse von der Schule nach Hause, wo sie zu ihrem Entsetzen nicht nur ihre Eltern, sondern auch die Gestapo vorfindet und eine Katastrophe passiert. Ich habe auf diesen Seiten mit Suse gezittert, war gerührt von ihren Erinnerungen an eine behütete Kindheit, ein liebevolles Elternhaus. Es war also alles da – Spannung, eine Protagonistin, mit der man mitfühlte, geschichtlicher Hintergrund. Nach dem gelungen-dramatischen Einstieg reisen wir ins Jahr 1928 und eine ganz andere Welt – das Berlin der Weimarer Republik, das vielfältige Kunstleben und die Liebesgeschichte von Suses Eltern. Auch hier ist der historische Hintergrund hervorragend geschildert, überhaupt ist die historische Recherche im ganzen Buch bemerkenswert. Eine Zeittafel und ein Glossar am Ende des Buches bieten weitere nützliche Informationen. Es ist immer eine Freude, wenn historische Romane so sorgfältig konzipiert sind.

Charlotte Roth gelingt es auch gut, die historischen Ereignisse mit den persönlichen Schicksalen ihrer Charaktere zu verbinden. Schon im 1928-Kapitel erkennt der aufmerksame Leser abgesehen von dem offensichtlichen Thema des sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergrundes von Suses Eltern (leider verpufft dieses Thema nach seiner ausführlichen Einführung rasch und wird nicht genutzt) noch weitere Themen, die auf tragische Entwicklungen hindeuten. Im Laufe des Buches arbeitet die Autorin mit den Zeitsprüngen, ohne die fast kein historischer Roman mehr auszukommen scheint. Während der Haupterzählstrang die mittlerweile erwachsene Suse zwischen 1952 und 1961 begleitet, gibt es immer wieder Kapitel, die in die Nazizeit zurückblicken und uns so die Hintergrundgeschichte Stück für Stück nahebringt. Das funktioniert gut und ist interessant. Im Hauptstrang gibt es ebenfalls einige Zeitsprünge, zwischendurch werden immer mal zwei, drei Jahre übersprungen. Leider gehen dadurch auch einige Fragen und Themen unter. Eine Person, die uns zu Beginn des Buches sehr ausführlich geschildert und uns somit als einer der Hauptcharaktere nahegebracht wird, versinkt schon bald zur Randnote, deren Tod dann schließlich nur noch in einem Nebensatz erwähnt wird. Das fand ich unerfreulich. Auch andere Entwicklungen erhalten nicht die notwendige Aufmerksamkeit, während es dagegen zahlreiche langatmige Passagen gibt, die wesentlich kürzer gehalten (oder ausgelassen) hätten werden können. So fehlte mir beim Lesen die Ausgewogenheit.

Es war interessant, einen Roman zu lesen, der den Hauptfokus auf die frühen Jahre des Lebens in der DDR richtet. Dazu gibt es nicht viele Bücher und ich habe mich gefreut, hierzu mehr zu erfahren. Gelernt habe ich auch eine ganze Menge – ich kann nur noch einmal die historische Recherche und Einbindung loben, wenn auch vieles zu oft wiederholt wird. Allerdings war der „DDR-Strang“ leider für meinen Geschmack insgesamt nicht gelungen. Das liegt zum einen daran, daß Suse, mit der man am Anfang so noch mitfühlt, sich zu einer unsympathischen Protagonistin entwickelt, an der ich wenig Anteil nehmen konnte und über die ich nicht gerne las. Sie ist von der DDR absolut überzeugt, was ein wenig durch ihre Erfahrungen in der Nazizeit erklärt wird. (Warum ein Familienfreund so überzeugter Genosse wird und zudem noch problemlos bis in die höchsten Partei- und Stasilevel aufsteigt, wird leider nicht hinreichend erklärt, was ich sehr schade fand). Sie ist dabei schon fast fanatisch, sogar ein einfacher Ausflug von Ost- nach West-Berlin kommt für sie nicht in Frage und bei jeder Gelegenheit betet sie DDR-Parolen herunter. Die dunklen Seiten des Regimes blendet sie aus – es fällt ihr zwar auf, wie menschenverachtend die DDR agiert, aber es findet keine innere Entwicklung bei ihr statt (anders als der Klappentext es darstellt). Sie verliebt sich dann ausgerechnet in einen West-Berliner, Kelmi, und das war für mich die zweite Schwäche dieses Strangs. Von Anfang an ist nicht verständlich, was die beiden aneinander finden. Suse behandelt Kelmi wie den letzten Dreck, während er ihr wochenlang hinterherrennt, ohne daß wir Leser verstehen, warum er das tut, was sie für ihn so anziehend macht. Es wird uns als Fakt präsentiert, daß die beiden einander lieben, ohne daß es uns auch nur einmal glaubhaft dargestellt wird. In den neun Jahren der „DDR-Handlung“ streiten sie sich immer und immer wieder über die ewiggleichen Themen – Suse hat ihre festgefahrenen Meinungen über den Westen, Kelmi kann mit dem Osten nichts anfangen. Neun Jahre lang die immer gleichen Auseinandersetzungen, bei denen Suse alle Argumente wegwischt und ihre Parolen runterbetet. Das war beim Lesen langatmig und enervierend, auch wurde immer weniger klar, warum diese beiden eigentlich zusammenbleiben, denn außer zu streiten tun sie nicht wirklich viel.
Insofern war der Hauptteil der Geschichte für mich unglaubwürdig, sich wiederholend (auch das „Wir sehen uns unter den Linden“-Motiv wird als Satz im Buch überbenutzt) und hielt sich zudem bei Nebensächlichkeiten detailverliebt auf. Ich hatte zwischendurch keine große Lust, weiterzulesen.

Die Rückblicke waren vielfältiger und interessanter, manchmal aber so distanziert berichtet, daß man zu den Emotionen der Charaktere kaum Zugang bekommt. Das Ende ist originell und unerwartet, aber auch ziemlich distanziert. So war „Wir sehen uns unter den Linden“ einerseits zwar ein Buch mit ausgesprochen interessanter Thematik und beeindruckender historischer Recherche, das einige wundervoll geschriebene Abschnitte enthielt, die mich fesselten und emotional berührten. Leider aber war der Hauptteil für mich nicht überzeugend, die Gewichtung der Erzählweise nicht nach meinem Geschmack, die Nähe zu den meisten Charakteren, insbesondere der Protagonistin Suse, nicht vorhanden.

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Veröffentlicht am 24.11.2019

Spröder Stil, nicht immer gelungene Themengewichtung

Der deutsche Adel
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Den deutschen Adel auf knapp über 120 Seiten zusammenzufassen, ist natürlich keine leichte Aufgabe, wie die Autoren es auch ganz richtig im Vorwort erwähnen. Ich habe aus der C.H. Beck Wissen-Reihe einige ...

Den deutschen Adel auf knapp über 120 Seiten zusammenzufassen, ist natürlich keine leichte Aufgabe, wie die Autoren es auch ganz richtig im Vorwort erwähnen. Ich habe aus der C.H. Beck Wissen-Reihe einige Bücher gelesen, deren Autoren stets versuchen müssen, komplexe Sachverhalte sinnvoll zu komprimieren. Manchmal gelingt das (wie im Buch zu Ostpreußens Geschichte) ganz hervorragend. Hier hat mir die Umsetzung nicht so ganz zugesagt.

Die Gewichtung der Themen war nicht immer nach meinem Geschmack. So wird recht viel Raum der Frage gewidmet, was eigentlich Adel ist, was deutschen Adel ausmacht - das hätte wesentlich knapper abgehandelt werden können. Auch dass die durchaus komplexe und teils problematische Rolle des Adels in der Weimarer Republik und des deutschen Reiches kaum mehr Raum bekam, als das Thema des Adels zur Nachkriegszeit, fand ich nicht gelungen. Hinzu kommt noch, daß das letzterwähnte Kapitel sich mehr populären Medien und allgemeinen Fragen widmet und wenig relevante Informationen bietet.

Auch innerhalb der Kapitel habe ich mich oft gewundert, welchen Raum manche Themen bekamen und wie kurz andere behandelt wurden. Manche wohl eher allgemein bekannte Dinge werden erklärt, während an anderen Stellen erhebliches - gerade historisches - Hintergrundwissen vorausgesetzt wird. Überhaupt ist der Text nicht gerade zugänglich. Er wirkt trocken, spröde, lädt nie zum Weiterlesen ein. Oft werden absätzelang Zahlen rezitiert und detailliert berichtet, wie der Prozentsatz der Adeligen in einer Institution, Industrie, etc. sich entwickelt. Das hätte eine Tabelle übersichtlich und platzsparend darstellen können. Auch sind manche Zahlen ohne Vergleichsgrößen nicht aussagekräftig. Wenn erwähnt wird, daß irgendwann im 18. Jahrhundert ein Kaufpreis von xy für etwas fällig war, dann kann man mit dieser Information zur etwas anfangen, wenn man weiß, wie zB das durchschnittliche Monatseinkommen war, was Brot im Verhältnis kostete, etc.

Positiv zu vermerken ist, daß recht viele Themen behandelt werden und man durchaus einiges erfährt. Ab und an bekommen wir konkrete Beispiele von Familien oder Personen, ein paar Abbildungen sind vorhanden und manches wird recht gut in Relation gesetzt. Die regionalen Unterschiede werden gut dargestellt. Als absolute Grundlage ist dieses Buch nutzbar, aber ein zugänglicherer Schreibstil (auch hier: siehe das C.H. Beck-Buch über Ostpreußen) und eine bessere Gewichtung der Themen hätte viel bewirkt.

Veröffentlicht am 27.10.2019

Teils sehr berührend, teils verzettelt und stereotyp

Altes Land
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Vom ersten Teil dieses Buches war ich begeistert. Der Schreibstil ist ansprechend und bildhaft, dabei trotzdem nordisch zurückhaltend. Wir begegnen gleich zu Beginn dem Mädchen Vera und ihrer Mutter, die ...

Vom ersten Teil dieses Buches war ich begeistert. Der Schreibstil ist ansprechend und bildhaft, dabei trotzdem nordisch zurückhaltend. Wir begegnen gleich zu Beginn dem Mädchen Vera und ihrer Mutter, die als Flüchtlinge aus Ostpreußen im Alten Land ein Zimmer auf einem Bauernhof zugewiesen bekommen und - wie leider die Flüchtlinge jener Zeit überhaupt - feindselig empfangen werden. "Flüchtlingspack" sind diese Menschen, die so Schreckliches erlebt haben. Am Ende des Buches wird dies so schlicht und doch so eindringlich geschildert - die Mütter, die nach einer solchen Flucht keine richtigen Mütter mehr sein konnten, die sprachlos wurden, die das Erlebte in sich vergruben. Die Kinder, die bei einem vereisten Fluß nicht mehr ans Eislaufen denken, sondern an Menschen und Pferde, die auf der Flucht von Tieffliegern beschossen werden, erfrieren, im eisigen Meer qualvoll ertrinken. Dieser Teil der Geschichte wird uns ganz hervorragend geschildert und hat in heutiger Zeit, in der wieder Flüchtlinge diffamiert und teils dämonisiert werden, erschreckende Aktualität. Wie sehr das Trauma der Flucht aus Ostpreußen fortwirkt, über Jahrzehnte und Generationen hinweg, das zeigt uns "Altes Land", und als Enkelin einer aus Ostpreußen geflüchteten Großmutter berührte mich dieses Thema auch ganz persönlich. Die Eindringlichkeit geschieht gänzlich ohne Pathos, ebenso wie die Schilderung des Kriegstraumas des aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Karl, dessen Leiden bis zum Ende seines langen Lebens immer wieder in die Geschichte einflochten werden.

Vera und Karl sind aber nur zwei der recht vielen Personen, denen wir in "Altes Land" begegnen, ihre Traumata nur ein Fokus dieser Geschichte, die viele Themen aufgreift und sie deshalb manchmal nicht ganz vollständig erzählt. Einerseits ist das Buch bemerkenswert konzipiert - die Autorin wechselt geschickt zwischen verschiedenen Zeitebenen und zahlreichen Charakteren, schildert diverse Perspektiven, und dies auf weniger als 300 Seiten. Dadurch kommt aber eben auch mancher Charakter, manche Geschichte zu kurz.

Laut Klappentext sind Vera und Anne, "zwei Einzelgängerinnen", die Hauptpersonen. Sie bilden auch den roten Faden, gehen aber manchmal in der Vielzahl der Personen unter. Gerade Anne ist meines Erachtens keine gut gewählte Protagonistin. Fast eigenschaftslos selbstmitleidet sie sich durch das Buch. Anne sagt wenig, tut wenig, ist eine Art Schatten im Hintergrund der Geschichte, mit permanent mißmutig zusammengepressten Lippen - so erschien sie mir beim Lesen jedenfalls. Ich konnte für sie deshalb weder Interesse noch Mitgefühl aufbringen - wobei sie das Mitgefühl ja schon reichlich für sich selbst hat und die meisten in ihrem Umfeld nicht mag. In Anne findet sich das zweite Hauptthema des Romans - das Aufeinanderprallen von Stadt- und Landleben. Wir begegnen ihr zu Beginn in der Welt der Latte-Macchiato-Übermütter. Diese sind herrlich treffend geschildert, ich habe an manchen Stellen lachen müssen angesichts der mit beißendem Humor dargestellten Mütter, für die ihr Nachwuchs das Zentrum des Universums darstellt und die erwarten, daß das restliche Universum das gefälligst auch so sieht. Allerdings entwickelt sich hier dann wenig weiter - wir lernen im Laufe des Buches fast nur noch Menschen kennen, die allesamt Vorurteile gegen die anderen haben. Was am Anfang also noch amüsant ist, nutzt sich dann rasch ab, weil immer wieder mit den gleichen Werkzeugen gearbeitet wird und man irgendwann schon weiß, jetzt kommt wieder eine bissige Beschreibung einer Gruppe von Menschen und ihrer Lebenseinstellung. Das funktioniert meines Erachtens, wenn es ein Element einer facettenreichen Geschichte ist, aber nicht, wenn es überbenutzt wird.

So sind die aufs Land gezogenen oder zu Landpartien kommenden Städter alle ein wenig dümmlich-überheblich, idealisieren das Landleben, verstehen die Strukturen nicht und blicken auf die Bauern herab. Die Bauern sind alle ein wenig starrsinnig, gehen das Landleben mit der unsentimentalen, manchmal naturzerstörenden, Art jener an, die hier seit Generationen ihren Lebensunterhalt verdienen und blicken auf die Städter herab, auf Vegetarier, auf weniger traditionelle Erziehungsarten. Die Landkindergärtnerin blickt auf die Stadtmutter herab, die Stadtmutter auf die Landkindergärtnerin, usw. Da hier kaum Weiterentwicklung erfolgt und so viel mit Stereotypen gearbeitet wird, wurde das, was anfänglich noch unterhaltsam war, rasch langweilig.

Nachdem das erste Drittel ein gutes Erzähltempo hat und ich es fast in einem Rutsch durchlas, folgten dann viele langatmige Passagen und zahlreiche Wiederholungen. Gerade letztere wurden zunehmend ärgerlich. Während viele interessante Aspekte unerzählt bleiben, wird viel Nebensächliches ausführlich dargestellt. Es gibt auch hier noch interessante und berührende Momente, gerade die fast wortlose Zuneigung zwischen Vera und ihrem Nachbarn, die unaufdringliche Art, in der sie einander beistehen, ist hervorragend geschildert. Aber leider nahm das Lesevergnügen aufgrund der genannten Punkte immer weiter ab, erlebte mit der Rückbesinnung auf das Thema der Ostpreußenflucht und -herkunft zum Ende hin wieder einen Aufschwung. Insgesamt war "Altes Land" also ein gemischtes Vergnügen für mich.

Veröffentlicht am 03.10.2019

Für mich nicht gänzlich überzeugend

Der Sprung
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Auf "Der Sprung" war ich sehr gespannt, weil ich den Gedanken, die Geschichten mehrerer Menschen zu erzählen, sie zusammenfließen, sich kurz zu berühren und sich beeinflussen zu lassen, ganz hervorragend ...

Auf "Der Sprung" war ich sehr gespannt, weil ich den Gedanken, die Geschichten mehrerer Menschen zu erzählen, sie zusammenfließen, sich kurz zu berühren und sich beeinflussen zu lassen, ganz hervorragend finde. Auf wie viele Leben kann ein Geschehnis Einfluß nehmen? Eine spannende Frage.

Das Buch berichtet in kurzen Kapiteln über etwa zwei Tage im Leben diverser Menschen, die in dem Ort Thalbach wohnen, oder ihm anders verbunden sind und deren Schicksale durch eine auf einem Dach stehende, vermeintlich zur Selbsttötung entschlossene Frau Wendungen erfahren. Dies beginnt anschaulich, ich las die ersten Kapitel (jedes ist einem anderen der Charaktere gewidmet) mit Freude. Der Stil ist anschaulich, durchschnittlich, recht gut lesbar. Störend sind die für meinen Geschmack zu häufig verwendeten atemlosen Bandwurmsätze, die ich als ausgesprochen leserunfreundlich empfinde und die stilistisch für mich keinen Mehrwert haben.

Wir lernen die ersten - alle vom Leben irgendwie enttäuschten - Charaktere kennen, Dreh- und Angelpunkt gerade am Anfang ist das Restaurant von Roswitha, die ich herrlich geschildert fand. Einige Geschichten machen gleich neugierig, wie die von Felix mit seiner anstrengenden, wie eine Therapiesitzung sprechenden Freundin. Maren, deren Partner dem Self-Care-Wahn verfallen und zum lieblosen Egozentriker geworden ist. Marens Unsicherheiten und Selbstzweifel, ihre Verletzung waren zu Anfang sehr eindringlich. Winnie, für ihre Schulkameraden nicht dünn und hip genug. Den feinsinnigen Hutkreateur Egon, der ausgerechnet in einem Schlachthof arbeiten muß. Es gibt ein Kaleidoskop von Menschen. Manche sind interessant, man will mehr über sie erfahren. Andere fand ich leider von Anfang an uninteressant und ausgerechnet die Person, die nachher auf dem Dach endet, ging mir von Anfang an gehörig auf die Nerven. So waren diese Kapitel also recht schnell ein gemischtes Vergnügen, was einerseits stark von den jeweiligen Personen abhing, andererseits aber auch von der Tendenz der Autorin, sich hingebungsvoll irrelevanten, teils banalen Details zu widmen. So lesen sich manche Passagen unglaublich zäh und ich fragte mich, warum diese dicke Schicht der unnötigen Detailverliebtheit auf manche Geschichten gekleistert werden mußte. Diese Hingabe ans Unwesentliche machte das Buch dann auch mehr und mehr zur Leseaufgabe anstatt zu Lesevernügen. Wirklich gebannt hat es mich zu keinem Zeitpunkt.

Nach und nach entwickeln sich die Geschichten und auch die Persönlichkeiten dieser Menschen. Dabei erfahren wir im Mittelteil ein gerüttelt Maß an Traumata, traurigen Erinnerungen und ähnlichem. Das war schlichtweg eine zu hohe Schicksalsdichte. Überhaupt ist mir bei diesem Buch gleich einiges zu viel: zu viel (unnötiges) Detail, zu viel "Schicksal", zu viel Kitsch, zu viel aufgesetzte Tiefsinnigkeit. Ja, auch wenn man es am Anfang, als noch erfreuliche Alltäglichkeit bei den gewählten Thematiken herrscht, kaum glauben mag, einige Geschichten gleiten sehr ins Kitschige ab. Allen voran der ohnehin nicht in die Geschichte passende italienische Stardesigner, der für ein arg zuckerwattiges Ende einer der Geschichten sorgt. Auch Maren, so schön kantig am Anfang, liefert uns am Ende eine dieser Szenen, die sich wie ein schlechtes "Nimm Dein Leben in die Hand, Du kannst es!"-Selbsthilfebuch lesen und läßt mich angesichts der "Ich miete mir ein Auto, weil ich nicht mehr Beifahrer sein möchte"-platten Symbolik die Augen verdrehen. Die Absurdität des ganzen Dachgeschehens war mir auch zu übertrieben, wenn die Idee an sich originell war.

Manche Geschichten entwickeln sich interessant weiter, vereinzelte sind anrührend - so zum Beispiel ein altes Pärchen in einem kleinen, von der Zeit überholten Gemischtwarenladen oder jene Dame, die beim Anblick der Frau auf dem Dach die Polizei rief. Es sind auch mehrere Berührungspunkte zwischen den Geschichten gut gelungen, oft ganz beiläufig, manchmal lebensentscheidend. Im Gesamten aber ließ mich das Buch nicht zufrieden zurück, fand ich die Umsetzung der so schönen Idee nicht durchweg gelungen.

Veröffentlicht am 17.09.2019

Gemischtes Vergnügen

Die Battenbergs
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Das Buch ist ausnehmend schön und hochwertig gestaltet, vom Hardcovereinband bis hin zum edel-cremefarbenen Papier mit angenehmer Haptik und der dezenten Farbwahl für Überschriften und Bildbeschriftungen. ...

Das Buch ist ausnehmend schön und hochwertig gestaltet, vom Hardcovereinband bis hin zum edel-cremefarbenen Papier mit angenehmer Haptik und der dezenten Farbwahl für Überschriften und Bildbeschriftungen. Vorne befindet sich ein ebenfalls sehr schön gestalteter Stammbaum der Battenbergs. Dieser ist manchmal ein wenig verwirrend, da die Kinder nicht immer in Geburtsreihenfolge aufgeführt werden, was wohl gestalterische Gründe hat. Über ein beiliegendes Lesezeichen freute ich mich zuerst, bis ich feststellte, daß es ein Hinweis auf immerhin 8 falsche Bildunterschriften im Buch ist, die hier korrigiert werden. Das ist eine charmante Art der Fehlerkorrektur, aber ich frage mich schon, wie acht falsche Bildunterschriften durchrutschen konnten - gerade angesichts der hochwertigen Gestaltung fällt so etwas ein wenig unangenehm auf.

Dreizehn Beiträge namhafter Autoren, vorwiegend natürlich Historiker, berichten über die Familie, jeder mit einem anderen Schwerpunkt. Einige Beiträge sind auf Deutsch, andere auf Englisch verfaßt. Sie werden anschließend in der jeweils anderen Sprache zusammengefaßt. Das ist eine gute Idee, aber die Zusammenfassungen sind arg kurz (zB 13 Seiten Artikel auf einer Seite zusammengefaßt) und ich glaube, wenn jemand nicht beider Sprache hinreichend mächtig ist, wird er von dem Buch jeweils nur halb etwas haben. Wie bei Anthologien üblich ist die Qualität der Beiträge wechselnd. Bei einigen merkt man, daß hier ein Wissenschaftler zwar viel weiß, aber es nicht unbedingt interessant darbringen kann. Einige Artikel verlieren sich in ausgesprochen verwickelten politischen Beschreibungen, andere werfen uns mit Namen zu, bis man vor lauter Nachschauen im Stammbaum gar nicht mehr dazu kommt, den Text richtig zu lesen. Die beiden letzten Texte über Prince Philip und seinen Onkel Louis sind stark subjektiv schöngefärbt. Einige Beiträge, gerade zu Beginn, greifen den gleichen Themenkomplex auf und so lesen wir in zwei aufeinanderfolgenden Artikeln letztlich das Gleiche zweimal, sogar mit den gleichen Zeitzeugenzitaten. Hier hätte man die Beiträge vielleicht sorgfältiger auswählen oder editieren können, denn ein nicht unbedingt günstiges Buch, welches einem mehrfach die gleichen Informationen liefert, ist doch ein wenig enttäuschend.

Nun erfährt man aber durchaus auch einiges über die Familie und die Fokussierung auf ein Thema oder einen Themenkomplex pro Artikel hat seine Vorteile. Es gibt zahlreiche interessante Informationen, Facetten einer vielseitigen Familie. Manche Familienmitglieder werden sehr persönlich geschildert und man nimmt Anteil an ihrem Schicksal, weil sie aus dem Stammbaumgewirr als Menschen hinter den Namen heraustreten, wie zB Heinrich "Liko". Zahlreiche Zitate reichern die Texte an, viele Zusammenhänge werden erklärt, die Quellenangaben sind ausgezeichnet und es finden sich ebenfalls viele Abbildungen.

So hing das Lesevergnügen stark von den einzelnen Beiträgen ab und läßt mich mit einem gemischten Eindruck zurück. An der Familie Interessierte werden hier aber in jedem Fall reichlich Informationen finden (wer an den späteren Generationen interessiert ist, sollte des Englischen gut mächtig sein).