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Veröffentlicht am 09.12.2019

Die Wahrheit ist die Lüge, an die du glaubst

Das Erbe
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„Es fiel mir leichter, davon zu träumen, dass ein Leben als Familie wieder vorstellbar wäre, als das Risiko einzugehen, diesen Traum aufgeben zu müssen.“

Inhalt

Für Wolf ist der Begriff Familie etwas ...

„Es fiel mir leichter, davon zu träumen, dass ein Leben als Familie wieder vorstellbar wäre, als das Risiko einzugehen, diesen Traum aufgeben zu müssen.“

Inhalt

Für Wolf ist der Begriff Familie etwas sehr Unbestimmtes, denn seine Mutter hat ihm nicht nur eine Krankheit angedichtet, sie hat sich, nachdem sein Stiefvater die Lüge aufgedeckt hat, sogar das Leben genommen. Nun wächst Wolf bei seinem Großvater auf, während sein Halbbruder gemeinsam mit dem Stiefvater das Land verlässt. Diese frühzeitige Prägung begleitet den Heranwachsenden wie ein dunkler Schatten und er merkt, dass er zu normalen sozialen Bindungen nur begrenzt fähig ist, denn Menschen machen ihm Angst. Nur bei seiner Freundin Lina findet er Unterstützung und etwas später auch die große Liebe. Vollkommen unerwartet tritt wenig später der verschollene jüngere Bruder Freddy in sein Leben und erzählt von seiner ebenso schwierigen und gewaltbehafteten Kindheit in der Fremde. Für Wolf ist klar, diesmal will er es besser machen und für seinen Blutsverwanden da sein. Aber Freddy bleibt undurchschaubar, er verschwindet und taucht wieder auf, gerade so wie es ihm beliebt. Er lebt an der Grenze zur Kriminalität und lässt sich nicht in die Karten schauen. Letztlich freut sich Wolf, dass Freddy wieder seiner Wege geht. Doch als er nach Jahren erneut auftaucht und ominöse Todesanzeigen verschickt, fühlt sich Wolf mit seiner Familie bedroht und auch die Ehe scheint dem bedrohlichen Außenstehenden nicht gewachsen zu sein …

Meinung

Allein die Kurzbeschreibung des Verlages, und die Andeutung der Handlung erschienen mir äußerst reizvoll, gerade wenn es einmal nicht um das finanzielle Erbe einer Familie geht, sondern das mentale, so bin ich direkt dabei. Da es sich bei dem Autor oder der Autorin R.R. Sul um ein Pseudonym handelt, kann man nur spekulieren, warum er oder sie unentdeckt bleiben möchte - mir ist es eigentlich einerlei, Hauptsache der Inhalt stimmt. Und ganz so sah es aus, nachdem ich die ersten Seiten gelesen hatte.

Wolf, der Hauptprotagonist verfügt über eine ausgesprochen eingängige Erzählstimme, die ihn sofort irgendwie sympathisch macht, obwohl sich bald herausstellt, dass seine Psyche mehrfach angeknackst ist. Alles was er rückwirkend beleuchtet, und wie im Vorwort angedeutet, seinem Enkelsohn hinterlassen möchte, ist ein authentischer Abriss über sein Leben, mit vielen dunklen Flecken auf der Familiengeschichte und zahlreichen persönlichen Verfehlungen. Absolut treffsicher ist das Verhältnis zwischen familiärer Verantwortung und Distanz beschrieben. Die ständige Stimme im Hinterkopf, die ihn müßigt, nochmals Kontakt zu suchen, sich nicht einfach abwimmeln zu lassen und letztlich doch eine Entscheidung gegen einen Menschen und für eine Sache zu treffen – all das lässt sich wunderbar nachvollziehen und intensiv erörtern.

Dennoch entwickelt sich der Text für mich zu einer Art Gedankenexperiment, dem es im Verlauf immer mehr an Glaubwürdigkeit und Realitätsnähe fehlt. Spätestens als die Schuldfrage in Verbindung mit unterschwelliger Manipulation immer mehr in den Vordergrund rückt, habe ich mich innerlich von dem Text abgewandt, obwohl er immer noch eine äußerst mitreißende Erzählung darstellt. Das größte Manko dieses Buches ist das Fehlen einer konkreten Aussage, und sein es auch nur ein greifbarer Höhepunkt. Weder die Personenkonstellation noch der Lauf der Zeit bringen ein Ergebnis hervor, alle Schilderungen sind lediglich Episoden auf einem langen Weg, dessen Ende weder der Tod noch das Leben sind. Mit viel Phantasie kann man sich auch den langsamen Verfall eines Mannes vorstellen, den das Leben gebeutelt hat und der immer nur nach Schuldigen sucht, selbst aber nicht in der Lage ist, klare Grenzen zu ziehen. Ein Mann, der zum Spielball anderer wird, sich dessen durchaus bewusst ist und trotzdem nicht aus seiner Haut kann. Leider bleiben auch diese Gedanken stecken, weil es mir nicht möglich war, folgerichtige Schlüsse zu ziehen.

Fazit

Für diesen unterhaltsamen, sehr spannenden Roman über Abhängigkeiten und Randexistenzen, Familienbande und das schwere Erbe einer belasteten Kindheit vergebe ich gute 4 Lesesterne. Wenn es dem Leser gelingt, über die Glaubwürdigkeit und den Wahrheitsgehalt hinwegzusehen, dann kann er auch mit dem offenen Ende umgehen, wenn nicht, dann folgt spätestens dort die Enttäuschung. Schreibtechnisch und inhaltlich ist die Thematik unverbraucht und bringt nicht nur Unterhaltung, sondern setzt auch das Gedankenkarussell in Bewegung. Gerade die existenziellen Fragen, die immer wieder auftauchen, animieren zum Grübeln. Sehr oft habe ich mich gefragt, wie ich in der entsprechenden Situation reagiert hätte und was genau den Protagonisten eigentlich so zusetzt – wirklich schlau geworden bin ich aber bis zum Ende nicht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.11.2019

Gelernt, im Verborgenen zu leben

Winterbienen
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„Ich kann nichts anderes tun, als die jetzige Welt mir so tief einzuprägen, dass ihr wirkliches Wesen und das mögliche Glück darin für mich sichtbar werden.“

Inhalt

Egidius Arimond war einst Lateinlehrer, ...

„Ich kann nichts anderes tun, als die jetzige Welt mir so tief einzuprägen, dass ihr wirkliches Wesen und das mögliche Glück darin für mich sichtbar werden.“

Inhalt

Egidius Arimond war einst Lateinlehrer, doch zu Beginn des Jahres 1944 kommt auch der Krieg in seinen kleinen Heimatort in der Eifel und schon lange ist das öffentliche Leben lahmgelegt und jeder bemüht sich, ein klein wenig Alltag aus der Vorkriegszeit zu bewahren. Egidius ist immer noch passionierter Bienenzüchter, wie einst seine Vorfahren. Doch anders als diese verdingt er sich auch als Schleuser, indem er Flüchtlinge in präparierten Bienenstöcken über die Grenze transportiert, um damit seine teuren Medikamente zu finanzieren. Als Epileptiker ist er auf regelmäßige Medikamentenzufuhr angewiesen und der ortsansässige Apotheker beäugt ihn ohnehin misstrauisch, denn jeder, der nicht an der Front fürs Vaterland kämpft, sondern daheimgeblieben ist, gilt fast als Vaterlandsverräter und wer immer wieder Anfälle hat und trotzdem mit den hübschen Frauen verkehrt, macht sich umso verdächtiger. Und während Egidius verzweifelt hofft, dass seine Notration bis Kriegsende reicht, fliegen die feindlichen Bomber immer tiefer über den Köpfen der Menschen …

Meinung

Dieser Roman aus der Feder des deutschen Autors Norbert Scheuer, hat es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019 geschafft und beschäftigt sich mit den letzten Kriegsjahren aus Sicht eines Außenseiters, der nichts weiter möchte, als in Frieden zu leben und sein bescheidenes Dasein zu führen.

Doch die Zeit, in der er lebt, lässt keinen unbehelligt, sie fordert Opfer an allen Fronten, nicht nur in den ersten Reihen, sondern auch weit im Hinterland, wo man hoffen konnte, nicht ins Visier zu geraten, sich den Kriegswirren zu entziehen und vielleicht ein klein wenig Freude an der Unbeirrbarkeit der Natur zu finden. Und so spitzt sich die Überlebenschance für den Bienenzüchter immer weiter zu, denn seine Krankheit lähmt ihn, sie geißelt sein Bewusstsein und macht ihn abhängig von der Reaktion anderer.

Diese Ausweglosigkeit nicht nur aus dem Kriegsgeschehen heraus, sondern vielmehr wegen der persönlichen Gesundheit wird hier erschreckend deutlich. Allein die differenzierten Tagebucheinträge des Protagonisten, der anfangs noch Zeit findet, sich um die Familienchronik zu kümmern, später verzweifelt nach den Notizen seiner Auftraggeber Ausschau hält, um zuletzt den Apotheker um Gnade anzuflehen, bringen den Zustand und Verfall der bürgerlichen Welt in vollem Umfang zum Ausdruck.

Dieser Roman lebt von den Worten zwischen den Zeilen, er schlägt stille Töne an, baut auch eine gewisse Distanz auf und hält sämtliche Emotionen flach – all das passt durchaus zusammen, auch wenn ich mir persönlich gerne mehr Nähe zu Egidius und seinem Leben erhofft hätte. Doch seine Maxime lautet: nur weil ich gelernt habe, im Verborgenen zu leben, ist es mir überhaupt möglich so lange überlebt zu haben.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen facettenreichen, interessanten Roman, der sich sowohl der Bienenzucht als auch den Schrecken des 2. Weltkrieges widmet und nicht zuletzt die Bedrohungen einer chronischen Erkrankung in Notzeiten heraufbeschwört. Ein buntes Potpourri an Beschränkungen umgibt hier die Erzählung, führt sachlich und strikt durch die Begrenzungen einer verheerenden Epoche und widmet sich intensiv dem Überlebenswillen aller, angesichts der Kriegszerstörungen in unmittelbarer Nähe.

Wäre die Handlung etwas spannender und komprimierter in Erscheinung getreten, dann hätte mir dieser Roman sicherlich noch besser gefallen. Manchmal waren mir die Episoden aus der Vergangenheit zu langatmig und die Wirkung aller Bienen im Bienenstock mit ihren zahlreichen Aufgaben zu mühsam, während die Flüchtlinge im Bienenkorb eher unscheinbar blieben. Insgesamt jedoch ein Lesevergnügen für alle, die eine ungewöhnliche Perspektive auf das Kriegsgeschehen kennenlernen möchten.

Veröffentlicht am 11.11.2019

Wir treffen uns im Paradies wieder

Opfer 2117
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„Auch jetzt war diese Ablenkung sein bester Selbstschutz, denn sein momentaner Gemütszustand ließ sich mit diesem giftigen Cocktail aus Verzweiflung und Apathie vergleichen, der Menschen in Schützengräben ...

„Auch jetzt war diese Ablenkung sein bester Selbstschutz, denn sein momentaner Gemütszustand ließ sich mit diesem giftigen Cocktail aus Verzweiflung und Apathie vergleichen, der Menschen in Schützengräben dazu bringt, in einer zerbombten Umgebung aufzustehen und mit offenen Armen die Kugeln des Feindes zu erwarten.“

Inhalt

Assad, der ambitionierte Mitarbeiter vom Sonderdezernat Q, entdeckt in einer Zeitung das Bild einer ihm gut bekannten Frau aus seiner eigenen Heimat, die lapidar als Opfer 2117 bezeichnet wird – sie ist eine der vielen Flüchtlinge, denen ihre Reise übers Mittelmeer nicht geglückt ist, denn sie ist tot. Doch nicht das Meer und die Umstände brachten sie ums Leben, sondern ein Mann, der ihren Tod wollte. Und Assad weiß genau, um wen es sich dabei handelt, denn seine Frau und die geliebten Töchter befinden sich ebenfalls in den Händen dieses Mannes. Assad braucht dringend die Unterstützung seines Chefs Carl Mørck, wenn er Ghaalib, seinen Erzfeind finden und vernichten will, bevor dieser ihm zuvorkommt. Und so erzählt er seinen Kollegen Episoden aus seiner Vergangenheit, die er lieber für sich behalten hätte, doch nur so gelingt es den Ermittlern, die Spur des Terroristen aufzunehmen und ihm nach Deutschland zu folgen. Assad weiß, dass er sich auf ein Spiel um Leben oder Tod einlässt und dass es nur einen Gewinner geben wird – aber viele Verlierer und Menschenopfer, wenn der Falsche siegt.

Meinung

Der dänische Bestsellerautor Jussi Adler Olsen setzt für den 8. Fall des Sonderdezernat Q auf ein hochaktuelles Thema: Die Flüchtlingskrise und die Folgen des Terrorismus, denen nicht nur ein Land, sondern ganz Europa ausgesetzt sind. Gleichzeitig kombiniert er den Fall mit einer ganz persönlichen Hintergrundgeschichte, die den undurchschaubaren Hafez-al-Asadi, besser bekannt unter dem Namen Assad ins Zentrum des Geschehens rücken. Darüber hinaus greift er auch noch einen dritten, jedoch untergeordneten Handlungsstrang auf, in dem die Mitarbeiter des Sonderdezernates gegen die Zeit arbeiten, weil ein Jugendlicher Gamer beschlossen hat, mit dem Erreichen des Levels 2117 in einem Kampfspiel einen geplanten Amoklauf zu starten und mehrere Menschen grausam hinzurichten.

Als Fan dieser Reihe ist der neueste Fall natürlich eine absolute Pflichtlektüre für mich, insbesondere weil es der Autor immer wieder schafft, nicht nur spannende Kriminalfälle zu entwerfen, sondern diese auch auf eine sympathische Art und Weise mit den Protagonisten seiner Arbeitsgruppe zu verbinden. Denn obwohl er schriftstellerisch nicht allzu brutal agiert und sich im Wesentlichen auf die Zusammenhänge zwischen den Opfern und Tätern konzentriert, kommt doch niemals der Humor zu kurz. Sein Schreibstil ist gewissermaßen einmalig und das Team des Sonderdezernats ist mir über die Jahre sehr eng ans Herz gewachsen.

Vollkommen fesselnd und sehr intensiv gestaltet er auch hier das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Assad und Ghaalib und der unwiderruflichen Tatsache, dass es nur einen geben kann und es den anderen alles kosten wird, was ihm etwas Wert ist. Und obwohl der Leser gerade in diesem Teil der Reihe sehr viel Neues und Interessantes über das Privatleben eines Mitglieds der Sonderermittlungsgruppe erfährt, fügt sich der Fall nicht ganz so geschmeidig und hochbrisant in das Gesamtergebnis ein, weil weniger die Opfer im Zentrum stehen, sondern mehr die Beweggründe der Täter. Auch die Nebenhandlung mit einem Verrückten Amokläufer, der persönliche Rache üben will ist spannend, trifft aber nicht punktgenau ins Schwarze.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen Thriller, der vielleicht nicht ganz so glaubwürdig und erschütternd wirkt, wie so mancher Vorgänger, sich aber dramatisch und aktuell profilieren kann und gerade für Fans der Reihe ein gelungenes Buch darstellt. Zahlreiche Perspektiven und mehrere Handlungsstränge sorgen für Abwechslung und Dynamik. Gespannt warte ich nun auf den 9. Fall der Reihe, auch wenn es mir etwas schwerfällt, mir vorzustellen, wie es Assad und seinen Lieben in der Zukunft ergehen wird.

Veröffentlicht am 14.10.2019

Mädchen sind so

Der Sommer meiner Mutter
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„Natürlich wollte ich, dass sich die Wünsche meiner Mutter erfüllten, aber nicht, dass sich etwas an meinem Leben änderte. Und ich ahnte, dass beides zusammen vielleicht nicht möglich sein würde.“

Inhalt

Tobias ...

„Natürlich wollte ich, dass sich die Wünsche meiner Mutter erfüllten, aber nicht, dass sich etwas an meinem Leben änderte. Und ich ahnte, dass beides zusammen vielleicht nicht möglich sein würde.“

Inhalt

Tobias Ahrens ist im Sommer 1969 fast 12 Jahre alt und ein großer Fan der bemannten Raumfahrt. Für ihn gibt es nichts Schöneres als gebannt die Fernsehbilder zu verfolgen, die sich rund um den Start der Raumfähre Apollo 10 drehen. Die neuen Nachbarn, Familie Leinhardt, haben eine Tochter die nur ein Jahr älter als Tobias ist und nach und nach freunden sich die Heranwachsenden an. Ebenso wie ihre Eltern, die sich nun öfters zu Grillabenden treffen. Während Uschi und Wolf Leinhardt bekennende Kommunisten sind und großes politisches Interesse zeigen, geht es bei Familie Ahrens eher gutbürgerlich zu. Egal ob es das Essen, die Kleidung oder der Musikgeschmack sind, die Leinhards sind eben ein bisschen verrückt und definitiv ganz anders. Für Tobias eine aufregende Zeit, denn er entdeckt nicht nur sein Interesse fürs weibliche Geschlecht, nein, er nimmt plötzlich auch wahr, wie sich sein konservatives Elternhaus öffnet und vor allem seine Mutter immer mehr in den Bann der neuen Nachbarn gerät. Doch der Streit in den eigenen vier Wänden bleibt nicht aus und der Junge muss sich damit auseinandersetzen, dass sich seine Eltern immer öfter streiten und mehr aus dem Weg gehen. Er ahnt, dass sein harmonisches Familienidyll immer weiter ins Hintertreffen gerät und viele Neuerungen anstehen, doch damit möchte Tobi eigentlich gar nichts zu tun haben …

Meinung

Der freie Schriftsteller Ulrich Woelk wurde mit diesem Roman für die Longlist des deutschen Buchpreises 2019 nominiert und widmet sich dem Thema Erwachsenwerden, in Hinblick auf vielerlei emotionale Veränderungen, nicht nur im Bereich der Identitätsfindung sondern auch im Zusammenspiel und dem Funktionieren einer Familieneinheit, deren Weltbild durch äußere Einflüsse dramatisch verändert wird.

Tobias, der Ich-Erzähler ist wunderbar getroffen, ein Junge, der sich auf der Schwelle zum Mann-Sein befindet und der normalerweise in einer intakten Welt lebt und dort gerne noch ein bisschen geblieben wäre. Doch die „Mädchen“ machen es ihm unmöglich, so isoliert weiterzuleben, wie bisher. Nicht nur die ersten kleinen Liebeserlebnisse zwischen ihm und Rosa, der Tochter der Nachbarsfamilie bringen sein Gefühlsleben durcheinander, sondern auch das Zerbrechen der Elternbilder, die er bisher kannte. Plötzlich kauft seine Mutter Jeans und besucht Demonstrationen, während sein Vater gezwungen ist, das Abendessen zuzubereiten. Auch die politischen Impressionen, die er zwar nicht versteht, aber doch sehr genau wahrnimmt, lassen ihn zweifeln. Doch noch bevor er alles in eine gewisse Ordnung bringen kann, schlägt das Schicksal zu und er muss damit leben, dass seine Kindheit nun endgültig vorbei ist und seine Erfahrungen ganz andere Dimensionen erreichen.

Sprachlich fällt dieser Roman eher in die Kategorie leichte Lektüre, wobei die kindliche Erzählperspektive sehr gut getroffen wurde. Der Geschichte fehlt es nicht an Unterhaltungswert und sie entwirft ein stimmiges Bild ihrer Zeit und ebenso das der Adoleszenz, doch mangelt es ihr an etwas Besonderem, etwas was sich nachhaltig einprägt und zum Nachdenken anregt. Emotional trifft sie nicht ganz meinen Nerv, vor allem der letzte Teil der Erzählung, hätte gerne eine höhere Gefühlsdichte haben dürfen. Denn wenn Tobias als Erwachsener immer noch so sachlich und einfach gestrickt ist, wie als Teenager, dann muss seine Entwicklung irgendwo stagniert haben und leider, kann man das nur bedingt auf den Schicksalsschlag zurückführen, den er erlebt hat.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für einen entspannten Wohlfühlroman, der einfach ein stimmiges Bild in der Gesamtheit bietet. Wenn man nicht zu anspruchsvolle Lektüre erwartet, sondern einfach eine interessante Story sucht, passt dieser Roman wunderbar. Sein großes Plus: Wie denkt ein Jugendlicher, der fast noch ein Kind ist, wenn sich sein Umfeld grundlegend verändert. Und welchen Einfluss die Eltern mit ihren Handlungen tatsächlich auf ihr Kind haben, bzw. welchen nicht. Etwas mehr Tiefgang und Gefühlsdichte hätte ich mir dennoch gewünscht, denn so blieb gerade das Schicksal von Tobias Mutter, die dem Roman seinen Titel gab, etwas unbedeutend und fragwürdig.

Veröffentlicht am 14.10.2019

Alle Straßen gehörten ihm, doch er ging nirgendwo hin

Das Haus aus Stein
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„Ich war in ein endloses, einziges Jetzt gepfercht, sein Stundenzeiger war abgefallen und sein Minutenzeiger drehte sich sinnlos im Kreis. Die Stunden waren blutig gepeitscht worden und vermochten ihre ...

„Ich war in ein endloses, einziges Jetzt gepfercht, sein Stundenzeiger war abgefallen und sein Minutenzeiger drehte sich sinnlos im Kreis. Die Stunden waren blutig gepeitscht worden und vermochten ihre schwere Last nicht mehr zu tragen, keinen Schritt mehr vor und zurück zu tun, die Zeit nicht mehr von der Stelle zu bewegen.“

Inhalt

Wen es einmal in das Haus aus Stein verschlägt, der kommt nicht mehr zurück in die Welt der Unbedarften, der Optimisten, der Menschen, die nach jedem schlechten Tag einen neuen, besseren erwarten. Denn sämtliche Vorstellungen von einer Sinnhaftigkeit und einer tieferen Bedeutung des eigenen Lebens werden nach und nach ausgelöscht. Bei jedem, der die Mauern des Gefängnisses von innen gesehen hat und irgendwann die Mauern desselben Gebäudes von außen, gibt es keine Hoffnung mehr. Der Körper, die Hülle ist noch da, der Inhalt aber unwiederbringlich zerstört. Alles wird seltsam unbedeutend, Neuanfänge scheinen sinnlos und auch die Hoffnung wieder so zu werden, wie man einmal war, ist zwischen den grauen Mauern versickert …

Meinung

So klein und unscheinbar dieser Roman aus der Feder der türkischen Autorin Asli Erdoğan auch ist, so zentnerschwer und bedrückend wirkt sein Inhalt. Es ist ein tiefsinniger, umwälzender Roman, der weder gefallen möchte, noch restloses Verständnis erzwingt, vielmehr initiiert er weitreichende Gedankengänge des Lesers, der hier einen wunderbar anspruchsvollen, literarischen Text in den Händen hält, dem man sich aus diversen Perspektiven nähern kann.

Die Bewältigung eines Gefängnisaufenthalts ist einerseits sehr generalistisch und nachvollziehbar beschrieben und greift doch, sobald man die Vorgeschichte der Autorin kennt und das Nachwort gelesen hat, ganz persönlich in das Leben der Beteiligten ein. Interessant auch der Aspekt der Schuld bzw. Nichtschuld der Gefangenen. Denn seltsamerweise kommt diese Erzählung ganz ohne die Begriffe des Rechts oder Unrechts aus.

Es geht auch nicht darum, etwas zu erklären und es schönzureden, nein vielmehr konzentriert sich der Inhalt auf die Zersetzung des menschlichen Glaubens an irgendetwas, an einen Gott, an einen Menschen oder auch an das System – nur durch die Schilderung einer unbestimmten Abfolge der stets gleichen Sinnlosigkeit und Lethargie – begrenzt durch Mauern aus Stein.

Dennoch wird deutlich, wie die Gefangenen behandelt werden, das Folter als eine der vielen grausamen menschlichen Methoden angewandt wird, um die Insassen zu brechen. Und letztlich zielt der Inhalt vor allem auf den Schaden ab, den die Seele erleidet, ganz egal, was der Körper aushalten kann oder nicht.

Für diesen Roman muss man sich Zeit nehmen, er zwingt dazu aufmerksam zu lesen, gerade weil er kein klassischer Unterhaltungsroman ist, sondern eher eine philosophische Auseinandersetzung mit der Thematik und außerdem entwirft er so zahlreiche sprachliche Bilder, dass man geradezu aufgefordert wird, den Text reflektierend zu betrachten. Auch ein mündlicher Austausch über das Gelesene bietet sich hier an und ich könnte mir gut vorstellen, eine derartige Lektüre in einem Lesekreis aufzugreifen und sie in der Gruppe zu besprechen.

Fazit

Ich vergebe hochachtungsvolle 4 Lesesterne, für diesen weder leichten noch herkömmlichen Text, der intensiv und reflektierend das Unausgesprochene benennt und die Emotionen des Lesers wachrüttelt. Der ungewöhnliche Aufbau und die Fähigkeit sowohl distanziert als auch betroffen zu wirken und dem Text durch Wiederholungen, Metaphern und Leerstellen eine derartige erzählerische Dichte zukommen zu lassen, hat mir ausgesprochen gut gefallen. Sicherlich kein Buch für jedermann und irgendwie auch sehr speziell. Doch wenn man etwas sucht, was so direkt nicht zu beschreiben ist, wenn man auf die Grundsätze des menschlichen Daseins zurückgeführt werden möchte, dann sollte man unbedingt zu diesem Buch greifen. Ein Roman, der nachhallt und das Prädikat „besonders“ verdient.