Ein wundervoller Roman
Wie viel kann ein Mensch alleine ertragen? Genau diese Frage habe ich mir oft gestellt, als ich „Unter den hundertjährigen Linden“ von Valérie Perrin gelesen habe. Dabei fängt alles recht behaglich an. ...
Wie viel kann ein Mensch alleine ertragen? Genau diese Frage habe ich mir oft gestellt, als ich „Unter den hundertjährigen Linden“ von Valérie Perrin gelesen habe. Dabei fängt alles recht behaglich an. Als Leser lernt man zuerst die Protagonistin Violett kennen. Sie ist Friedhofswärterin und lebt für ihren Job. Für jeden Menschen steht ihre Tür stets offen. Zu jeder Zeit hat sie ein offenes Ohr, ein Glas Alkohol, oder beides. Nach außen hin trägt sie schwarz, weil sie das Gefühl hat, es ziemt sich nicht auf einem Friedhof fröhliche Farben zu tragen. Doch unter den ganzen Schichten dunkler Kleidung versteckt sich meist eine hellere Farbe. Ihre Klamottenwahl beschreibt auch ein bisschen ihr Seelenleben, nur ist es hier eher umgekehrt. Sie macht den Eindruck, als sei sie recht zufrieden mit ihrem Leben, ja sogar glücklich, doch eigentlich schaut es hinter dieser Fassade komplett anders aus.
Lesen ist wie Schwimmen. Hat man die Schwimmbewegungen einmal raus und die Angst zu ertrinken überwunden, ist es egal, ob man ein Schwimmbecken oder einen Ozean durchquert.<
Zitat aus: "Unter den hundertjährigen Linden"
Neben Violett spielt ihr Mann Philippe eine große Rolle. Man erfährt vom Beginn ihrer zarten Liebe, bis zur Gegenwart alles von den beiden als Paar. Später kümmert sich der auktoriale Erzähler auch noch speziell nur um den männlichen Protagonisten, was einige Überraschungen parat hat. Die Erzähler, und das finde ich überaus gelungen, variieren. Zuerst spricht Violett in der Ich-Form mit dem Leser. Nimmt ihn mit auf ihre Reise durch die Vergangenheit und Gegenwart und zeigt ihren Friedhof in all seinen bunten Farben. Ich habe es selten erlebt, dass mir das Setting so bildlich vorgestellt wurde, ohne dabei zu detailverliebt zu wirken. Zudem bin ich erneut begeistert über die Poesie, die Perrin mit ihrem neuesten Werk ebenso an den Tag legt, wie es ihr zuvor schon mit „Die Dame mit dem blauen Koffer“ gelungen ist. Das ist wirklich ganz großes Kino und macht unfassbar großen Spaß zu lesen!
Schon gleich auf den ersten Seiten habe ich mich richtig wohl gefühlt. Ich kam mir wie ein Freundin Violetts vor, die ihre Geschichte erzählt bekommt. Ich schlenderte mit ihr über den Friedhof und lauschte in ihrem Wohnzimmer sitzend ihrer Vergangenheit. Es langweilte mich nichts, sondern alles war stets von Spannung geprägt.
>Ich hätte ihm auch die Wahrheit sagen können, nämlich dass diese Gardinen die Grenzen waren zwischen meiner Trauer und der der anderen.<
Zitat aus "Unter den hundertjährigen Linden"
Allgemein muss ich sagen, dass ich es genossen habe, Violett zu begleiten. Ich habe sie lieb gewonnen, wie ein Freundin und habe an einigen Stellen Tränen vergießen müssen, weil mich die Geschehnisse so sehr berührt haben. Allen voran ihre Beziehung zu Julien, was sehr viel früher mit deren Mutter passiert ist, aber auch was in Violetts Vergangenheit geschah, bietet einiges an Überraschungen. Ich war erstaunt, wie viel mehr dieser Roman zu bieten hat, als eine Liebesgeschichte, die man schon zig Mal gelesen hat. Nebenbei bemerkt, kann man die Lovestory von „Unter den hundertjährigen Linden“ sowieso unter keinen Umständen mit anderen vergleichen, weil sie viel tiefer geht, viel mehr berührt und einfach besonders ist. Besonders, wie das gesamte Buch.
Fazit:
Auch mit „Unter den hundertjährigen Linden“ konnte mich die Autorin überzeugen. Die Geschichte ist spannend, lässt sich leicht lesen und hinterlässt ein zufriedenes Gefühl, wenn man am Ende angelangt ist. Zudem punktet Perrin erneut mit ihrem poetischen Schreibstil, der der Geschichte echtes Leben einhaucht und die Protagonistin zu einer Freundin macht.