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Veröffentlicht am 21.12.2016

Das Thema der häuslichen Gewalt und sexuellen Missbrauchs steht deutlich im Vordergrund.

Sparifankerl
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Nach der Leseprobe neugierig geworden, wollte ich den Krimi zu Ende lesen. Im Nachhinein betrachtet hat mich die LP gründlich hinters Licht geführt. Das Thema der häuslichen Gewalt und sexuellen Missbrauchs ...

Nach der Leseprobe neugierig geworden, wollte ich den Krimi zu Ende lesen. Im Nachhinein betrachtet hat mich die LP gründlich hinters Licht geführt. Das Thema der häuslichen Gewalt und sexuellen Missbrauchs steht deutlich im Vordergrund. Der Rest ist Beiwerk.
Es gibt zwei Erzählstränge, die sich abwechseln. Hauptkommissar Sauerwein und sein Team in Rosenheim stoßen auf mysteriöse Todesfälle, die natürliche Ursachen zu haben scheinen und kaum als Morde eingestuft werden können. Die Leichen der Männer werden zudem sehr schnell eingeäschert. Im parallel zu den Ermittlungen laufenden Erzählstrang wird ein Ehepaar gezeigt, 30-40 Jahre alt, kinderlos. Der Mann ist ein psychisch kranker Sadist, der seinen sexuellen Trieb nicht nur mit anderen Frauen zelebriert, sondern auch seine Frau mit immer brutaleren Foltermethoden „beglückt“. Auch seine Freunde sind bei den Missbrauchsorgien mal dabei. Die Frau wehrt sich nicht, schottet sich von der Welt ab und hofft auf bessere Zeiten.
Zum Schluss kommen die zwei Erzählstränge zusammen, das Team kann ein weiteres Ermittlungserfolg verzeichnen, bei dem es klar wird, wer hinter den Todesfällen steckt und warum. Dieses Warum ist anhand von weiteren Missbrauchsfällen erläutert worden und erklärt u.a., weshalb sich die Opfer nicht wehren, worum es den Tätern dabei geht, etc.
Insg. ist die Geschichte schon recht breit erzählt. Einige Wiederholungen, viele Dialoge sorgen dafür, dass man sich wie in einer Vorabendserie gefangen fühlt: Es wird viel geredet, passieren tut aber wenig. Erst langsam kommen die Ermittler zu den Motiven. Die Längen, da sich die Ermittlungen oft im Kreis drehen, und Erklärungen zu den einzelnen Ermittlungsschritten, sowie Schilderungen aus dem privaten Bereich des Teams, nehmen die Spannung. Erst im letzten Viertel kommt Bewegung in die Sache. Bei der „schrecklich netten“ Familie gibt es eine Fülle an detaillierten Folterbeschreibungen, Einblicke in die perversen Gedanken des Sadisten, genauso wie die Sicht der Dinge der missbrauchten Frau.
Gezielt wurde im gesamten Verlauf die emotionale Ebene angepeilt. Zum Schluss wurde meine Leselust totogeschlagen mit all den grausigen Stories über andere Familien mit gleichem Problem. Begriff der Effekthascherei tauchte mehrmals bei mir gedanklich auf.
Einiges am Plot kam mir konstruiert vor, hier und dort tauchten Glaubwürdigkeitsfragen auf.
Zu allem Überfluss wurde oft genug vorgegeben, was man/frau bei den Schilderungen fühlen/denken soll.
Sprachlich sah ich auch Luft nach oben. Sätze wie „Sein Herz hämmerte wie ein Presslufthammer in der Brust…“ S. 327, kommen hin und wieder vor.
Mit den Figuren konnte ich nicht warm werden. Gut möglich, dass man die Reihe vom Anfang an kennen sollte. Eine Figur allerdings hat mich größtenteils überzeugt: Nora, die Dialekt spricht und später mit dem kaputten Kiefer immer noch deutlich und authentisch rüberkommt. Sehr gut gelungen.

Fazit: Wer sich für häusliche Gewalt, Motive und Ursachen interessiert, wird hier fündig. Diesem Krimi liegt eine gründliche Recherche zu dem Thema zugrunde. Ich konnte mich aber weder für die Art der Stoffdarbietung noch für das Thema erwärmen. Ich mag keine ausführlichen Gewaltszenen lesen, so etwas wie Spannung oder Lesevergnügen konnte ich hier leider nicht entdecken.

Veröffentlicht am 21.12.2016

Ein düsterer Weihnachtskrimi.

Schlaf in tödlicher Ruh
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„Schlaf in tödlicher Ruh“ ist ein düsterer, atmosphärischer Kurzkrimi (155 Seiten), der in der Zeit zwischen Weihnachten und Silvester im Haus an der Nordsee spielt.
Klappentext fasst das Wesentliche ...

„Schlaf in tödlicher Ruh“ ist ein düsterer, atmosphärischer Kurzkrimi (155 Seiten), der in der Zeit zwischen Weihnachten und Silvester im Haus an der Nordsee spielt.
Klappentext fasst das Wesentliche prima zusammen: „Als Lilly Velasco von ihrer Jugendfreundin Sonja eingeladen wird, die Weihnachtstage auf deren Hof im Elisenkoog zu verbringen, freut sich die junge Kommissarin zunächst. Aber die Stimmung unter den anderen Freunden und Familienmitgliedern ist von Beginn an äußerst angespannt - und am nächsten Morgen liegen drei der Gäste tot in der Sauna. Lilly ruft John Benthien und Tommy Fitzen zu Hilfe, um den Tod der drei Männer zu untersuchen, und stößt direkt auf das nächste Opfer. Nach und nach stellt sich heraus, dass jeder einzelne der Anwesenden etwas zu verbergen hat.“
Meine Meinung:
Die Atmosphäre auf dem Hof der Gastgeber Sonja und ihres frisch gebackenen zweiten Ehemannes Julian ist alles andere als fröhlich. Mysteriöse Vorkommnisse wie versalzener Kuchen, Öl auf dem Boden, verschwundenes scharfes Messer, ein nicht geladener Weihnachtsmann mit seinen seltsamen Geschenken, etc. machen das Leben der Feiergesellschaft schwer. Bald entpuppt sich Julian als ein wenig angenehmer Zeitgenosse, der seine Frau und ihre Mutter vor geladenen Gästen anschreit, sonst Alkohol in Unmengen konsumiert und Frauen nachstellt. Vor Lilly macht er auch nicht halt, aber sie weiß sich abzugrenzen. Als drei Tote eines Morgens in der Sauna liegen, sieht es zunächst nach natürlicher Ursache aus. Obduktion zeigt aber, dass dies nicht der Fall ist. Nun wird es ermittelt. Jeder steht zunächst unter Verdacht. Lebensgeschichten und zwischenmenschliche Beziehungen kommen zutage. Menschliche Abgründe tun sich auf. Die Ermittlungen führen Lilly und John Benthien nach Süddeutschland. Dort werden sie fündig: Die Motive und die Erklärung der Morde liefert ein Video, auf dem die Frau, die sich das Leben kurz vor Ankunft der Polizisten genommen hat, ihre traurige und verstörende Geschichte erzählt. Am Ende wird alles erklärt, wer was getan hat und warum.
Themen wie Familie, familiärer Zusammenhalt, Kindererziehung, Einsamkeit, unglückliche Liebe, sexuelle Gewalt sind gekonnt in den Erzählteppich eingewoben worden. Starke und schwache Frauen, gewalttätige, vergnügungssüchtige Männer, aber auch fürsorgliche und schwache Männer sind gut darin präsent.
Die winterlich atmosphärischen Landschaftbeschreibungen fand ich stimmungsvoll und sehr gut gelungen.
Weniger gut fand ich das Vorgreifen im Erzählen des Geschehens a lá „wenn sie das gewusst hätte, hätte sie die Einladung nicht angenommen“, wie abrupte, oft genug vorkommende Perspektivwechsel, etwas zu viele Erklärungen insg.

Fazit: Ein düsterer tw. gruseliger Kurzkrimi aus dem Norden. Wer so etwas mag oder mal eine andere Weihnachtsgeschichte lesen möchte, ist hier genau richtig. Mir kamen die Motive etwas wie schon mal woanders gelesen vor. Die Art, wie die Geschichte erzählt wurde, war nicht meins. Habe mich ein wenig gelangweilt.

Veröffentlicht am 11.12.2016

Mix aus naivem Liebesroman und cosy Krimi.

Mord im stillen Belfrey
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Keeley, 27, wankelmütig und mit Resten ihrer kindlichen Minderwertigkeitskomplexe beladen, kehrt in ihre Heimatstadt in der tiefen englischen Provinz zurück. Sie war für paar Monate in Indien, um Yoga ...

Keeley, 27, wankelmütig und mit Resten ihrer kindlichen Minderwertigkeitskomplexe beladen, kehrt in ihre Heimatstadt in der tiefen englischen Provinz zurück. Sie war für paar Monate in Indien, um Yoga zu lernen, anschließend hat sie in New York Kurse gegeben. Als sie hörte, dass der Laden ihres verstorbenen Vaters, ehemalige Metzgerei, sonst anderweitig vergeben wird, wenn sie nichts damit anfängt, kommt sie zurück und will dort ein vegetarisches Yoga Café aufmachen. Kurz vor ihrer Ankunft wurde eine Leiche im Laden entdeckt, gebrannt hat es auch. Der ermittelnde Polizist, ihr ehemalige Schulkamerad, für den sie damals geschwärmt hat, hält sie zunächst für eine Verdächtige.
Selbst für einen cosy Krimi kam mir die Handlung sehr seicht vor. Ermittelt wird nebenbei, im Vordergrund seht Keeleys Liebesgeschichte mit den typischen Elementen, die eher für Teenies von Interesse sein dürften: die heimlichen Anschmachtungen, Irrungen und Wirrungen a lá er liebt mich, er liebt mich nicht, Eifersüchteleien, etc. Es gibt keine Zweifel, wie dieser Strang der Geschichte ausgeht.
Obwohl Schwierigkeiten wie missgünstige ehemalige Freundin oder neugierige Tratschtanten eingebaut sind, kommt das Leben im stillen Belfrey doch recht paradiesisch vor: In sehr kurzer Zeit und ohne große Anstrengungen gelingt es Keeley den Laden, der nach dem Brand in Trümmern liegt, auf Vordermann zu bringen. Ihr Yoga Kurs ist gleich sehr gut besucht und die vegetarischen Gerichte, die sie eben schnell zwischen Tür und Angel zubereitet hat, finden auf der Ausstellung einen reißenden Absatz. Die Handlung ist schon recht naiv, wie die Protagonistin selbst.
Sie versucht auch selbst zu ermitteln, wer den Mann in ihrem Laden umgebracht hat und warum, die Vorbereitung ihres Ladens lastet sie offenbar nicht aus, bekommt aber von ihrem Schwarm dafür eine strenge Abmahnung. Aber, so wie der Fall will, wird sie dabei bleiben bis zum Schluss.
Paar mystisch-spirituellen Elemente sind dabei, Beschreibungen einiger Yoga Übungen zwischen den Kapiteln, etwas zur Yoga Philosophie. Die Rezepte der Gerichte, die Keeley die im Roman zubereitet, sind hinten angehängt.
Die typische Atmosphäre, die den cosy Krimis aus England sonst innewohnt, konnte ich hier leider nicht wahrnehmen. Die Handlung wie Figuren scheinen in der Luft zu hängen.
Für junge Frauen, für die solche Themen wie schwierige Mutter-Tochter Beziehung, Kindheitstraumata bewältigen, eigenes Aussehen, den richtigen Partner fürs Leben finden, den eigenen Platz im Leben finden, etc. könnte der Roman von Interessen sein, wobei frau sich auf ein sehr seichtes und unterdurchschnittliches Niveau einstellen muss.
Sprachlich ist es leider auch kein Highlight. Zu viel „war“ und „hatte“, reger Gebrauch von sinnfreien Sätzen, zu viele unnötige Erklärungen und Kommentare erledigen den Rest.
Die Krimiseite kommt erst im letzten Viertel deutlich zum Vorschein. Plötzlich geht es Schlag auf Schlag. Keeley fällt aus allen Wolken und muss ums eigene Leben kämpfen. Zugegeben, man kann nicht voraussehen, wer hinter dem Mord und weiteren Aktivitäten steckt. Auch weil der Leserschaft kaum Anhaltspunkte dazu im Laufe der Handlung gegeben wurden.
Fazit: Wenn frau etwas Seichtes am Feierabend lesen möchte, ein Mix aus naivem Liebesroman und cosy Krimi, ist sie hier richtig.

Veröffentlicht am 06.12.2016

Die goldenen Tage.

Die goldenen Tage
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Die Goldenen Tage von Monica Sabolo ist eher ein literarisches Werk als ein reiner Unterhaltungsroman. „Atmosphärisch dicht“, wie es auf dem Buchrücken steht, kommt schon hin. Er lässt die Bilder der vergangenen ...

Die Goldenen Tage von Monica Sabolo ist eher ein literarisches Werk als ein reiner Unterhaltungsroman. „Atmosphärisch dicht“, wie es auf dem Buchrücken steht, kommt schon hin. Er lässt die Bilder der vergangenen Zeiten aus den 1960-gern bis in die 1990-ger im beliebten Urlaubsort samt seinen illustren Urlaubern und ihren mitunter fragwürdigen Beschäftigungen vorm inneren Auge ablaufen.
Klappentext fasst den Roman wie folgt zusammen:
„Crans-Montana in den 1960ern. Jahr für Jahr treffen sich in dem mondänen Urlaubsort drei betörende junge Frauen: Chris, Charlie und Claudia. Ein paar Jungen sind den sirenenhaften Erscheinungen hoffnungslos verfallen. Dazu verdammt, die »drei Cs« aus der Ferne – auf der Skipiste, am Pool, im Nachtclub – zu beobachten, bedeuten für die Jungen bereits die unscheinbarsten Gesten die Welt. Und dann gibt es da auch noch ihre unbezwingbaren Konkurrenten: »die Italiener«. Die Jahre verstreichen, es werden exzentrische Feste gefeiert, Ehen geschlossen, und noch immer streben Chris, Charlie, Claudia und ihre ehemaligen Verehrer nach dem vielleicht Unerreichbaren: Leichtigkeit, Liebe, Wahrhaftigkeit.
Die goldenen Tage erzählt vom Aufstieg und Fall einer jeunesse dorée, von ihren unschuldigen ersten Verliebtheiten und späteren abgründigen Obsessionen. Eine atemberaubende Gratwanderung zwischen Unbeschwertheit, Glamour und Tragik…“
Besonders am Anfang musste ich oft an die Anfangsstrophen der berühmten Lensky Arie aus der Oper von P.I. Tschaikowsky Eugen Onegin (1878) denken. Lensky steht eines grauen Morgens kurz vorm Duell, blickt auf sein noch junges Leben eines verwöhnten Landadeligen zurück, ahnend, dass da nicht mehr viel kommen kann und singt:„Wohin, wohin, wohin seid ihr entschwunden, meines Frühlings die goldenen Tage.“ Der Versenroman Eugen Onegin wurde im Jahr 1833 veröffentlicht, falls sich jemand über den Ausdruck wundert.
Um gerade diese goldenen Tage geht es in diesem Roman von M. Sabolo. Man ist jung, reich und schön, und beschäftigt sich in der ersten Linie damit, das Leben zu leben, was hier konkret heißt: Parties feiern, den drei Cs nachstellen, sie aus der Ferne bewundern, sich sexuellen Fantasien hingeben, in späteren Jahren Drogen besorgen und herausbekommen, wer von wem und wann entjungfert wurde, und von wem Claudia schwanger geworden ist. Diese rein körperlich Ebene ist den Figuren des Romans von zentraler Bedeutung, als ob das Leben nur aus reiner Physis besteht und sich nur auf dieser Ebene abspielt. Die schöne Fassade wird bis zum Ende aufrechterhalten. Was sich dahinter verbirgt, mal ist die Rede von aufgeregten Eltern, die ihr Geld und wertvolle Gemälde unauffällig zur Sicherheit über die Grenze in die Schweiz bringen; mal wird vom verdeckten Drogenhandel erzählt; auch sonst all das, was nicht in die Öffentlichkeit gehört, bleibt weitestgehend im Hintergrund, wie kleine Puzzlesteinchen, die Besonderheiten der damaligen Zeit, der Weltanschauung, die entsprechendes Verhalten fordern.
Es wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt: Anfang sind es die Jungs, die Bewunderer der drei Cs, die mit ihren Eltern in Crans Montana urlauben, dann erzählt Charlotte, eine von drei Cs, wie sie diese Zeit erlebt hat, dann kommt Chris, die nächste von drei Cs, dann wieder die Jungs, aber schon etliche Jahre später, als sie ihre eigenen Familien hatten und trotzdem noch die drei Cs vergötterten, und Valentina, Claudias Tochter, die als 23-Jährige die ehem. Freundinnen ihrer vor Jahren verunglückten Mutter Claudia besuchen kommt. Diese unterschiedlichen Blickwinkel bereichern die Geschichte, lassen tiefer in die Figuren blicken und erfahren, dass diese von vielen bewunderte Freundschaft auch eher oberflächlicher Natur war, die Lebensunlust und Melancholie breiten sich mehr und mehr aus.
Oft wirkten auf mich die unterschiedlichen Perspektiven aber recht irritierend, denn die Erzählung in dritter Person, bei allen Erzählern, schafft solch eine Distanz zu den Figuren, die eine Annährung fast unmöglich macht. Auch wurde gerne in der erzählten Zeit gesprungen, z.B. vom älteren Franco und seinem späteren Tod erzählt, wobei man woher noch weit in den Jahren davor war und nachher in einer anderen Perspektive wieder in viel früherer Zeit ansetzte.

Die Sprache ist eher gewöhnungsbedürftig. Sie versucht, und es gelingt ihr manchmal, bildhaft, gar poetisch zu wirken. Es gibt paar nette fremde Gedichte auf Italienisch, deren deutsche Übersetzung hinten aufgeführt ist. Stellenweise ist der Ausdruck aber recht überdreht. Bei einigen Metaphern und Vergleichen musste ich ein Auge zudrücken und denken, besser, wenn ich sie dort nicht gesehen hätte. „Wir barsten wie ein Haufen flimmernder Atome in Stücke und zerfielen zu Staub, wie jene, deren Geist im Raum schwebte.“ S. 175.

Fazit: Insg. blieb der Roman hinter den Erwartungen zurück. Den letzten Halbsatz des KTs: „ …eine Lektüre, die Sehnsüchte heraufbeschwört, die man längst für vergessen hielt.“, kann ich nicht nachvollziehen. Wer mal was ganz anderes lesen will, denn der Roman ist schon eigenartig und kaum mit einem anderen vergleichbar, kann hier zugreifen. Drei Sterne erscheinen mir hier angemessen.



Veröffentlicht am 06.12.2016

Viel Lärm…

Corporate Anarchy
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Klappentext fasst die Ausgangssituation gut zusammen. Marvin, der die unzumutbare Lage der Nation ändern will und im Alleingang nichts als Ärger mit der Polizei erreicht hat, schließt er sich einer Gruppe ...

Klappentext fasst die Ausgangssituation gut zusammen. Marvin, der die unzumutbare Lage der Nation ändern will und im Alleingang nichts als Ärger mit der Polizei erreicht hat, schließt er sich einer Gruppe an, deren Anführer anfangs verspricht, dass die ganzen Aktionen nur dazu da wären, Denkzettel zu verpassen und umsichtigeres Verhalten der Betreffenden zu fördern. Aber schon bald geht es ganz anders zu. Grausige Folter stehen auf dem Tagesplan. Und bis zum Morden ist auch nicht mehr weit.

In etwa bis zur Hälfte wird es so getan, als ob es solche Gruppen noch nie gegeben hätte, als ob diese Zelle etwas ganz Neues zuwege brächte, dabei ist Ähnlichkeit mit RAF und anderen Organisationen dieser Art, angepasst an die heutigen Gegebenheiten, kaum zu übersehen. In der zweiten Hälfte erlebt man Folter en Detail. Nach paar Fällen, die schon recht krass ausfielen, kamen noch weitere, noch grausamere dazu. Dabei tauchte die Frage auf: Und warum muss ich es so genau wissen? Diese Ausführlichkeit grenzte deutlich an Effekthascherei.

Die Figurenentwicklung war mir zumindest fragwürdig: Seltsam, dass Marvin, der anfangs einen äußerst kritischen Verstand zur Schau getragen hat, diesen in der Gruppe los ist, macht alles mit und mutiert zum treuen Handlanger. Hin und wieder hinterfragt er die Taten, wird aber vertröstet und um den kleinen Finger gewickelt. Zum Schluss aber wird er plötzlich als dem Anführer ebenbürtich hingestellt, wohl um ein effektvolles Finale zu ermöglichen.
Die Frauenfiguren, davon gibt es nicht viele, sind recht schwach. Sophie, eine Aktivistin der Gruppe, die recht oft auftritt, blieb für mich schemenhaft und blutleer bis zum Schluss.

Dagegen war die Entwicklung des Anführers der Terrorgruppe recht gut gelungen: Vom hilfsbereiten Freund zum skrupellosen Geschäftsführer, quasi vom Paulus zum Saulus, der nicht viel anders ist, als diejenigen, die er foltert und zum Einlenken zwingt, bloß sein in mühsamer Kleinarbeit aufgebautes Geschäft ist eine Ecke fragwürdiger als all die anderen.
Recht treffend fand ich auch die gesellschaftskritischen Schilderungen. Da werden dem Leser die Dinge plastisch vor Augen geführt, vor denen er im Alltag gerne die Augen schließt.
Die Schreibe an sich ist schon auf gut geübtem Niveau.

Aber! Die Handlung erschien mir, gerade an wichtigen Wendepunkten, oft unglaubwürdig. Egal, was die Gruppe anstellt, wie komplex die Aufgaben sind, alles gelingt ihr ganz vorzüglich: das Rankommen an die ganz hoch angesiedelten Wirtschaftsbosse, die Finanzierung und Koordination der Gruppe und ihrer europaweiten Unterstützer inklusive.

Stark übertrieben, überzeichnet kamen mir manche Szenen vor, als ob die Aufgabe auch hier war auf eine, eher recht primitive Art, Eindruck zu schinden.
Besonders in der zweiten Hälfte tauchte oft die Frage auf: Ist es jetzt Verherrlichung des Terrors? Aufruf zur hemmungslosen Selbstjustiz? Die jungen Leute haben eine aus ihrer Sicht sinnvolle Aufgabe gefunden und gehen voll darin auf.

Ein wichtiger Punkt ist die schwache Aussage des Romans insg. Er fängt packend an. Marvins Sicht der Dinge ist sehr gesellschaftskritisch und man ist gespannt, wohin all sein Wissen über die Verseuchung der Erde, über das rabiate Vorgehen der Industriekonzerne, über die Manipulation der öffentlichen Meinung, etc. führen wird. Es ist also ein Wahnsinnsversprechen, der einen in die Geschichte hineinzieht und die Handlung erst gespannt verfolgen lässt. Leider verliert sich die Spannung in der bereits erwähnten Effekthascherei und Unglaubwürdigkeit, das anfangs abgegebene Versprechen verläuft sich im Sande. Man am Ende wird mit wohl bekannten Platituden abgefrühstückt.

Fazit: Es ist so ziemlich das Gegenteil davon, was sich ein Wohlfühlbuch nennt. Wer grausige Thriller mit ausführlichen Folterschilderungen und mit Sprengstoff in die Luft gejagten Kindern mag, oder ins Nichts führende Gesellschaftskritik, der wird hier fündig. Bei den nervigen Stoffwiederholungen und seltsamen Formulierungen, die ins Ressort unzureichendes Korrektorat fallen, muss man dann das Auge zudrücken. Bei der wenig augenfreundlichen Schrift tut man das automatisch. Drei Sterne mit guter Portion Wohlwollen.