"'Mutter', sagte Rasmus leise vor sich hin, wie zur Probe. 'Mutter!' Oh, wenn das nun heute doch sein Wundertag würde! Dann würde diese schöne Dame begreifen, dass keiner, keiner auf ganz Västerhaga besser geeignet war, ihr Kind zu werden, als gerade er. Dann würde sie sagen, sowie sie ihn erblickte: 'Nein, sieh mal einer an, hier haben wir ja genau so einen Jungen mit glattem Haar, wie wir ihn so gern haben wollten!'"
Doch leider wird das kein Wundertag für den achtjährigen Waisenjungen Rasmus Oskarsson – ganz im Gegenteil, genau an diesem Tag geht alles schief, was nur schief gehen kann. Er wird wieder nicht adoptiert. Kinderlose Ehepaare wünschen sich doch sowieso immer nur Mädchen mit gelocktem Haar, wie Gunnar, sein bester Freund, zu sagen pflegt. Und damit scheint er auch wirklich Recht zu haben: Auch diesmal nimmt das Ehepaar ein Mädchen mit gelockten Haaren aus dem Waisenhaus mit.
Rasmus beschließt, auszurücken und auf eigene Faust auf Elternsuche zu gehen. Das Schicksal scheint es gut mit ihn zu meinen: Am ersten Tag seiner Suche lernt er den Landstreicher Paradies-Oskar kennen, der ihm erlaubt, mit ihm „auf die Walze zu gehen“, jedenfalls so lange, bis er Eltern findet, die ihn haben wollen. Rasmus hat eine genaue Vorstellung von seinen zukünftigen Eltern: Sie sollen freundlich, hübsch und reich sein. Doch das Landstreicherleben ist soweit auch nicht zu verachten, wenn man mit so jemandem wie Oskar zusammen wandert. Man singt traurige Lieder vor den Fenstern anderer Leute, und je trauriger die Lieder sind, desto zufriedener sind die Leute und die Zwei- und Fünf-Öre-Stücke regnen nur so auf einen herunter.
Wenn man auf der Walze ist, passieren jedoch nicht nur schöne Dinge. Eine dunkle Wolke braut sich über den beiden zusammen: In dem Städtchen, das auf ihrem Weg liegt, passieren seltsame Dinge und als Oskar des Diebstahls beschuldigt wird, obwohl er „unschuldig wie ‘ne Braut“ ist, bricht für Rasmus eine Welt zusammen. Trotz vieler Gefahren und Widrigkeiten des Schicksals gelingt es den Beiden die wahren Verbrecher zur Strecke zu bringen, und Rasmus, der „König der Recken“, hat am Ende sogar ein richtiges Zuhause mit Eltern, die ihn lieben so wie er ist.
Mit "Rasmus und der Landstreicher" gelingt es Astrid Lindgren wieder einmal, ein einfühlsames Buch zu schreiben. Dieses Mal handelt es sich um einen Waisenjungen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als ein eigenes Heim mit Vater und Mutter zu haben.
Der Leser versinkt in eine Welt, die aus der Sicht eines achtjährigen Jungen geschildert wird, und es fällt schwer, nach beendeter Lektüre wieder aus ihr aufzutauchen. Denn obwohl es in dieser Welt natürlich nicht an beängstigenden, traurigen und bedrückenden Dingen fehlt, ist es eine Welt, die durch und durch von dem fröhlichen und liebevollen Blick eines Kindes geprägt ist, das in allen Erscheinungen, ob Mensch oder Natur, das Schöne sieht und das Gute voraussetzt.
Rasmus bezieht Oskar in seine Träume mit ein und das aus gutem Grund: Oskar ist ein Mensch, wie ihn sich jedes Kind als Vater wünschen würde: er ist herzlich, gutmütig, offenherzig und sprüht nur so vor Humor: „‚Ein Landstreicher zum Vater, wie würde das denn aussehen? Du willst doch nicht etwa ‘n Landstreicher als Vater haben? […] Du hast doch die ganze Zeit gesagt, du willst bei jemanden sein, der hübsch ist und reich.‘ Rasmus wandte den Kopf und sah Oskar brummig an. ‚Ich finde aber, du bist ganz hübsch.‘ Da lachte Oskar.“
Astrid Lindgrens Buch "Rasmus und der Landstreicher" zeigt die Sehnsucht eines Jungen nach einer heilen Familie, die er sich in seiner Fantasie in den blühendsten Farben ausmalt. Was er findet, ist das genaue Gegenteil. Und das zeigt, dass man von Äußerlichkeiten nicht auf das Innere einer Person schließen kann und Oskar Rasmus ein besserer Vater ist, als es wohl je jemand sein kann. Er versteht Rasmus und nimmt ihn als Kind an.