Ausgestorbene Literatiere
Franz Blei war ein österreichischer Literaturkritiker, der auch für einige exzentrische Herausgeberschaften und eigne Texte bekannt war und ein Leben geführt hat, das außer seiner Herkunft, seiner Gattin ...
Franz Blei war ein österreichischer Literaturkritiker, der auch für einige exzentrische Herausgeberschaften und eigne Texte bekannt war und ein Leben geführt hat, das außer seiner Herkunft, seiner Gattin und der Literatur keinen Mittelpunkt besaß. Vagabundierend lebte er von 1871 bis 1942 und ist heutzutage vor allem noch für as vorliegende Buch bekannt: „Das große Bestiarium“. 1920 bis 1924 erschienen acht Auflagen, stets vermehrt um neue Eintäge sowie weitere texte.
Die Idee ist großartig: Blei stellt ein Lexikon zusammen, in dem die Literaten seiner Zeit als „Literatiere“ versammelt werden. Jeder Eintragt widmet sich einem anderen, in ein fabelhaftes Fabelwesen Autoren, wobei die Feder Bleis so spitz ist, dass sogar die Lektüre schmerzt - über Gottfried Benn: „Der BENN ist ein giftiger Lanzettfisch, den man zumeist in den Leichenteilen Ertrunkener festgestellt hat. Fischt man solche Leichen an den Tag, so kriecht gern der Benn aus After oder Scham oder in diese hinein.“ (S. 24) Wohlwollender über Egon Friedell: „DAS FRIEDELL. Nicht zu verwechseln mit dem Frettchen, da eher verwandt mit dem archaischen Neu, einem Megatherium aus der Vielsaufgruppe. Nährt sich vornehmlich von Chesterton, Kierkegaard, Shaw, Hegel, Nietzsche und anderm Kraut. Verdaut mit dem großen Kopfe; die dabei ausgestoßenen Geräusche sind weithin gefürchtet als Humor.“ (S. 36)
Hier wird schon deutlich, dass Bleis Stil manieriert, altertümlich, gestelzt und gelehrt ist. Den Neu kenne ich nicht, das Megatherion ist das „große Tier“, und man kann sich das zusammenreimen oder fix nachschlagen. Beim FACKELKRAUS (S. 33 f.) hingegen braucht es schon den ganzen Kontext, dass nämlich Karl Kraus die nämliche Zeitschrift „Die Fackel“ 1899 bis 1936 unter dem Motte „Was wir umbringen“ herausgegeben und damit großen Einfluss auf die Kulturszene gehabt hat. Vollends versagt das normalbürgerliche Hintergrundwissen bei etwa 50 % der vorgestellten Literatiere, die mir vollkommen unbekannt ist, deren Umdeutung zum Tier folglich witzlos auf mich kommt. Mithin stelle ich fest, dass sich Bleis großes Bestiarium vor allem als fossile Schau der ausgestorbenen Literaturfauna eignet. Mit deutlich größerem Genuss, weil es mir Heutigem näher ist, habe ich das „Bestiarium der deutschen Literatur“ gelesen, das Fritz J. Raddatz 2012 herausgegeben hat; ebenfalls mit gnadenloser Feder.
Die dem lexikalischen Teil beigegebenen Texte sind zum Teil ebenfalls satirischer Prägung, zum Teil „notwendige Exkurse“ in die Kultur- und Kunstgeschichte, deren Notwendigkeit sich vor allem aus dem ihnen gegebenen Obertitel ableitet („notwendig“). Mir ließen sie versunkene Semester Literaturstudium auferstehen. Auch die neu erfundenen Gespräche zwischen Goethe und Eckermann sowie die Texte über zeitgenössisches „Theater und Schauspielkunst“ erweckten mehr als archäologisches Interesse in mir. Die abschließend hinzugesiebten „biographischen Belustigungen“ hingegen streuten noch einmal 50% Vergnügen hinzu. Über die andere Hälfte nichts als Schweigen.
Kurzum: Lesen Sie Raddatz.