Eine mitreißende, berührende Liebesgeschichte mit Suchtcharakter.
Kissing LessonsDiese Geschichte stürzte mich mal wieder in einen typischen Herz-Kopf Widerspruch. Mein Leseherz ist verliebt und will eindeutig mehr, während mein kritischer Verstand nicht über einige Mängel hinwegsehen ...
Diese Geschichte stürzte mich mal wieder in einen typischen Herz-Kopf Widerspruch. Mein Leseherz ist verliebt und will eindeutig mehr, während mein kritischer Verstand nicht über einige Mängel hinwegsehen will. Wer diesen Konflikt gewonnen hat (mal wieder, seufz), könnt ihr an meiner positiven Bewertung ablesen
Das Cover ist ein wirklicher Hingucker! Von dem matt-grauen, schlichten Hintergrund heben sich kunstvolle Blumen und Ranken in Weiß-, Grau-, Rosa- und warmen Gelbtönen ab. Der Titel glänzt in Pink und der Autorentitel ist verschnörkelt. Besonders nett ist auch, dass in den Leselaschen der Broschierten Ausgabe ein Interview mit der Autorin abgedruckt ist und die Blüten der Gestaltung auch innerhalb des Buches die Kapitelanfänge zieren. Verspielt, warm, schön - das sagt die Aufmachung über die Geschichte und auch wenn das nicht unbedingt die Worte sind, mit denen ich die Story um Stella und Michael beschreiben würde, finde ich die Gestaltung einfach hinreißend!
Erster Satz: "Ich weiß, du hasst Überraschungen, Stella."
So leitet Stellas Mutter den nicht ganz so subtilen Hinweis darauf ein, dass sie bereit ist für Enkelkinder. Was sie damit in ihrer dreißigjährigen, beruflich erfolgreichen aber sozial eher verklemmten Tochter auslöst, ist ihr wohl nicht bewusst. Für Stella ist klar, Enkelkindern bedeuten Babys, Babys bedeuten Ehemänner, Ehemänner bedeuten feste Partner, feste Partner bedeuten Dating, Dating bedeutet Sex. Und in Sex und allem, was dazu gehört ist sie eine ganz große Niete. Wie sollte es auch anders sein, wenn sie Küssen eklig findet, immer in Fettnäpfchen tritt, sich bei Berührungen versteift und an Keime denken muss? Als die Asperger-Autistin die Liebe fast schon aufgegeben hat, lässt sie ein dahingesagter Satz eines Kollegen innehalten: "Du brauchst Übung". Vielleicht muss sie ja tatsächlich die Kunst der Liebe bei einem Profi lernen, denkt sie sich deshalb. Und wer wäre besser für "Kissing Lessons" geeignet als ein professioneller Escort....?
Die Geschichte wird abwechselnd aus Stellas und Michaels Sicht erzählt, wodurch der Leser von Beginn an in alle Geheimnisse und verborgenen Gefühle der beiden eingeweiht ist. Man weiß also genau, was man zu erwarten hat, sobald man die ersten Seiten umblättert. Man weiß, worauf die Geschichte hinauslaufen wird, man kennt das altbekannte Schema und durchschaut die Protagonisten schnell. Aber das ist vollkommen in Ordnung, denn nichtsdestotrotz eroberte die Geschichte mein Herz. Es gibt hier kein Rätselraten, keine unvorhergesehenen Wendungen, keine großen Überraschungen sondern einfach nur eine umgekehrte "Pretty Woman"-Geschichte mit autistischem Hintergrund, die genau hält, was sie verspricht: eine prickelnde, unterhaltsame, etwas andere Liebesgeschichte.
"Es gibt eine Milliarde Menschen auf diesem Planeten, und Liebe kann man nicht erzwingen. Du wirst jemanden finden, der besser zu dir passt als er, du musst nur dranbleiben."
Stella sagte nichts. Michael war Mint Chocolate Chip für sie. Sie konnte andere Sorten probieren, aber er würde immer ihre Lieblingssorte sein."
Um einem Buch fünf Sterne geben zu können, muss es meiner Meinung nach immer eine richtige Botschaft vermitteln. Das Genre New Adult tut sich damit immer etwas schwer, wie ich finde. Die Charaktere haben immer schrecklich berührende Probleme, die Dramatik ufert aus, doch dadurch wirkt die Handlung recht fiktional und weit weg, auch wenn man die Gefühle der Protagonisten hautnah erleben kann. Auch hier kommt die Autorin nicht ohne dahingebasteltes Drama und nervtötende Missverständnisse aus und die Handlungskonstruktion weist bei genauerem Hinsehen einige Schwächen auf, weshalb ich kritische Stimmen zu der Geschichte ohne jeden Zweifel nachvollziehen kann. Nach langsamem, holprigem aber deshalb umso charmanterem Annähern der beiden geht es Mittelteil doch relativ schnell zur Sache. Auch wenn einer der Protagonisten ein Escort ist und dadurch Sex-Szenen natürlich vorprogrammiert sind, war ich überrascht wie viele hier dann doch vorkommen. Ich hatte da ein wenig auf die autistische Protagonistin gesetzt und angesichts ihrer Probleme eine etwas … konservativere Geschichte erwartet. So kommt gerade in der Mitte die Persönlichkeitsentwicklung etwas zu kurz, bevor wir uns dann dem unnötigen aber anscheinend in dem Genre unvermeidbaren Prä-Happy-End-Breakdown hingeben.
"Er war hier gefangen, in seinem Leben gefangen, in nie endenden Schulden gefangen. Von der Liebe gefangen. Das war sein Problem. Er liebte immer zu viel. Wenn er sich nur das Herz aus dem Leib reißen und aufhören könnte, etwas zu fühlen, dann wäre er frei."
Doch auch wenn Helen Hoang ihre Geschichte nicht dem typischen New-Adult-Aufbau entziehen konnte, machen die innovative Idee und der Suchtcharakter ihrer Geschichte alles wieder wett. "Kissing Lessons" hat gar nicht den Anspruch, eine tiefgründige Geschichte zu erzählen oder die Leser zum Nachdenken zu bewegen. Stattdessen liest es sich amüsant, kurzweilig, berührend und hat trotz vieler eher absurden Entwicklungen eine grundlegende Wahrhaftigkeit innewohnen, die es unmöglich macht, sich der Anziehungskraft der Geschichte zu entziehen. Diese Wahrhaftigkeit entsteht vermutlich dadurch, dass die Autorin beim Recherchieren des Buches selbst herausgefunden hat, dass sie eine Autistin ist und für all ihre Eigenarten nun eine Diagnose hatte. Dadurch erhält ihre Protagonistin Stella natürlich eine ganz neue Qualität an Authentizität, die sie aus dem Meer an Liebesromanheldinnen heraushebt. So erscheinen die Gefühle ihrer Protagonisten immer natürlich und authentisch, egal ob Hoffnung, Angst, Verlust, Liebe, Verständnis oder Enttäuschung und selbst der klischeebehaftete "Du bist zu gut für mich"-Moment kommt fast echt daher. Michael Larsen ist absichtlich abseits jeglichen Klischees gezeichnet und ist hinter der Fassade des Escorts zum Glück kein Badboy. Der schneidernde Versorger einer vietnamesischen Großfamilie mit dem großen Herz und den geschickten Händen muss man einfach mögen (auch wenn seine perfekte Traummann-Gutartigkeit manchmal etwas übertrieben wirkt).
"Sie war nicht kaputt. Sie hatte einen anderen Blick auf die Welt und interagierte anders mit ihr, aber das war sie. Sie konnte ihr Verhalten ändern, ihre Wortwahl ändern, ihr Aussehen ändern, aber sie konnte nicht ihr Wesen ändern. Im Innersten würde sie immer eine Autistin sein. Die Leute nannten es seine Störung, aber es fühlte sich nicht so an. Für sie war es einfach nur die Art, wie sie war."
Auch wenn auf der reinen Handlungsebene häufig nicht besonders viel passiert, sorgt Helen Hoangs lockerer, packender Schreibstil dafür, dass es keine Sekunde langweilig wird und man es kaum schafft, sich loszureißen. So habe ich die Geschichte an einem einzigen Nachmittag gelesen und mich komplett in der Handlung und den Gefühlen der Protagonisten verloren. Dabei schafft die Autorin immer eine angenehme Balance zwischen düsteren Gedanken und lustigen, sarkastischen Dialogen, sodass ich - ständig schniefend, schmachtend oder grinsend - von meinem Umfeld etwas schräg angesehen wurde (vielen Dank dafür, Helen). Die Sensibilität, mit der sie dem Leser einen Blick ins Innere ihrer Protagonisten gewährt, die Grausamkeit, mit der sie uns und ihre Geschöpfe konfrontiert und die viele Liebe, mit der sie ihre und unsere Herzen heilt, sind wirklich erstaunlich. So schafft sie den Spagat zwischen zuckersüßem Märchen-Flair und Bitterkeit der Realität, sodass die Geschichte locker und leicht daherkommt.
Das Ende kommt mit der erwarteten Auflösung, die sich aber im Vergleich zur eher langsamen Entwicklung am Anfang ein wenig schnell liest. Hier hätte man, wenn man auf den obligatorischen Drop vor dem Happy End verzichtet hätte, definitiv mehr herausholen können. Dennoch hat die Geschichte etwas Mitreißendes, Berührendes, Echtes an sich, dass sie definitiv für Fans des Genres lesenswert macht! Helen Hoang hat sich in mein Herz geschrieben und ich warte nun mit Spannung auf die beiden weiteren Teile.
Fazit:
"Kissing Lessons" hat nicht den Anspruch, eine tiefgründige Geschichte zu erzählen oder die Leser zum Nachdenken zu bewegen. Stattdessen bekommen wir genau, was uns versprochen wurde: eine mitreißende, berührende Liebesgeschichte mit Suchtcharakter. Auch wenn Helen Hoang ihre Geschichte nicht dem typischen New-Adult-Aufbau entziehen konnte, täuschen ihre innovative Idee, das zuckersüße Märchen-Flair und die Authentizität ihrer Protagonistin über etwaige Schwächen hinweg.