Sprachlos
Im kleinen Dorf Gnadental an der Wolga siedeln seit dem 18. Jahrhundert deutsche Einwanderer. Unter ihnen führt Jakob Iwanowitsch Bach ein bescheidenes Leben als etwas schrulliger, aber doch respektierter ...
Im kleinen Dorf Gnadental an der Wolga siedeln seit dem 18. Jahrhundert deutsche Einwanderer. Unter ihnen führt Jakob Iwanowitsch Bach ein bescheidenes Leben als etwas schrulliger, aber doch respektierter Schulmeister. Sobald er die junge Bauerntochter Klara vom anderen Wolgaufer unterrichten soll, verändert sich sein Leben schlagartig, Liebe und Politik prägen fortan sein Leben, auch wenn er sich beidem zu entziehen versucht.
Gusel Jachina zeichnet in ihrem Buch „Wolgakinder“ das ungewöhnliche Leben von Dorflehrer Bach in beeindruckender Weise. Mystisch und bezaubernd werden die Natur und ihre Gewalten dargestellt (z.B. Pos. 65: Um die Dächer fegte der Wind – stürmisch, mit Schnee und Graupel vermischt im Winter, böig, mit Feuchtigkeit und himmlischer Spannung geladen im Frühling, träge und trocken, von Staub und den leichten Flugsamen des Steppengrases durchsetzt im Sommer.); bildhaft sämtliche Alltagsgeschehen dem Leser vor Augen geführt. (z.B. Pos. 70: Die Welt atmete, ratterte, pfiff, muhte, trappelte mit den Hufen, tönte und sang mit vielen Stimmen.).
So begleitet der Leser den ein wenig sonderlichen Bach durch fünf große Lebensabschnitte und bemerkt, dass er so sonderlich gar nicht ist, eher sehr naturverbunden und von Schicksalsschlägen geprägt, besorgt um die wenigen Lieben, die er im Laufe der Zeit um sich hat. Während er sich immer mehr zurückzieht und in die Einsamkeit flüchtet, verändert sich um ihn die Welt. Politische Ereignisse nimmt er nur aus der Distanz wahr; dennoch hat alles Einfluss auf ihn, selbst in seinem abgeschiedenen Gehöft bleibt er von der Revolution und der Gründung der Deutschen Republik an der Wolga nicht unbehelligt.
Virtuos und faszinierend erlebt man als Leser nicht nur die Sprache, mit der Jachina die kleine Welt an der Wolga lebendig werden lässt, auch Bach selbst beherrscht mit seiner Freude an allem Literarischen die Kunst des Erzählens und Fabulierens und wird so in passender Weise zum „stummen Philosophen vom anderen Wolgaufer“, zu einem, der „Sätze häkeln kann, die wie Spitze wirken“ (Pos. 2878). Rasch wird mir der Lehrer in seinem „Anderssein“ vorstellbar und sein Tun verständlich, sein Versuch, vor der Realität zu fliehen und sich eine eigene Welt zu erschaffen, eine Welt, in der die Natur einen das Leben lehrt. Sehr persönlich und ohne Distanz folge ich ihm in sein eigenes Universum, in dem er Schutz und Zuflucht sucht, begleite ihn durch Wahrheit und Traum, durch Angst und Sorglosigkeit.
Wer hier Informationen über das Leben der Deutschen im Wolgagebiet sucht, wird vielleicht enttäuscht sein, wer sich hingegen einlässt auf eine wunderbare Reise mit Jakob Bach und sein Vergnügen findet in einer melodisch anmutenden Sprache, detailverliebten Darstellungen von Natur und hartem Alltag und ganz nebenbei noch ein paar geschichtliche und politische Fakten mitnehmen möchte, der ist bei „Wolgakinder“ richtig.
Dies ist das erste Buch, das ich von Gusel Jachina gelesen habe. Vielleicht ist das der Grund, warum ich völlig frei von jeglicher Erwartung an diesen Roman herangegangen bin und sofort gefesselt war von Sprache und Inhalt. Aus dieser Sicht spreche ich gerne eine Leseempfehlung aus für jene, die das Unerwartete schätzen.