In einer herrlichen Sprache erzählte berührende Geschichte
"Luzies Erbe" hat mich von der ersten Minute an gefesselt. Das liegt zum einen an dem ganz wundervollen Schreibstil, der das ganze Buch hindurch eine wahre Freude ist. Helga Bürster schreibt schnörkellos, ...
"Luzies Erbe" hat mich von der ersten Minute an gefesselt. Das liegt zum einen an dem ganz wundervollen Schreibstil, der das ganze Buch hindurch eine wahre Freude ist. Helga Bürster schreibt schnörkellos, lakonisch. Das paßt ausgezeichnet zu ihren Charakteren, die in einem emsländischen Dorf leben und deren Leben von harter Arbeit geprägt ist. Kummer ist was für die "feinen Leute". Diese Charaktere sind der andere Grund, aus dem ich gleich richtig im Buch drin war.
Luzie ist fast hundertjährig verstorben und schon auf der ersten Seite merken wir, daß wir in ein dysfunktionale Familie hineinschauen. In wenigen Worten gibt uns die Autorin eine Fülle an Informationen und ich wollte gleich mehr erfahren über Luzie, ihre Geschichte und die Familie Mazur, die so sprachlos ist, daß sie dafür schon einen eigenen Begriff haben: das Mazur'sche Schweigen.
Das Buch führt uns auf mehreren Zeitebenen durch die Geschichte, hauptsächlich die Gegenwart, in der sich die Familie auf die Beerdigung vorbereitet und Johanne, Luzies Enkelin, versucht, durch die Wand des Schweigens zu stoßen; und die Kriegsjahre, in denen Luzie und der polnische Zwangsarbeiter Jurek sich ineinander verliebt haben und damit nach Ansicht der menschenverachtenden Diktatur "Rassenschande" begehen. Ab und an gibt es Rückblicke Johannes in ihre Kindheit. Die unterschiedlichen Zeitebenen werden durch nichts angezeigt, keine Überschriften oder Jahreszahlen weisen darauf hin, aber man findet sich schnell in den Zeitenwechseln zurecht.
Wenn es um die Greuel der Nazizeit geht, ist die lakonische Sprache der Autorin ebenfalls sehr wirksam. Sie erzählt unsentimental die furchtbarsten Dinge und genau durch diese knappen, sachlichen Worte ist die Wirkung intensiv. Die Sprache erfreute mich immer wieder. "Kinderarmeen, die von Greisen angeführt wurden, sollten jetzt das Reich retten". "...und ihm fiel wieder ein, daß er kein Enkel mehr war, sondern ein Gefangener" - eindrücklich wird das Wesentliche zusammengefaßt. Luzies und Jureks Geschichte vermischt sich mit der der Dorfes und auch hier gelingt Helga Bürster ein sehr lebensechter Blick auf Dorfleben und -mentalität, sowohl vor wie auch nach dem Krieg, wenn die Naziverbrechen eher vergessen werden, als die "Schande" unehelicher Kinder mit einem Ausländer.
Es gibt so viele Themen in diesem nicht einmal dreihundert Seiten umfassenden Buch. Der Umgang mit dem Tod ist ein weiteres und auch dieses ist ausgezeichnet dargebracht. Ehrlich und schnörkellos werden die Belastungen häuslicher Pflege genauso geschildert, wie die empfundene Trauer. Der Umgang der Familie mit Luzies Tod liest sich faszinierend. Ich hätte über diese Familiendynamik gerne noch mehr erfahren, insbesondere Luzies Töchter hätten noch ihre eigene Geschichte zu erzählen. Es war schade, daß dieser Themenkomplex ein wenig zu kurz kam, aber letztlich wollte die Autorin die Geschichte von Luzie und Jurek erzählen und das tut sie auf packende Weise.
So ist "Luzies Erbe" eines jener seltenen Bücher, in dem ich mich immer wieder über Formulierungen und Sätze freute, in dem kein Wort zu viel steht. Ein Buch, das mich gepackt hat und nachwirken wird, so daß ich es am liebsten gleich noch mal lesen möchte.