Jedes Leben hat den gleichen Wert
Die Suche nach dem AugenblickJedes Leben hat den gleichen Wert
Der siebzehnjährige Raymond Jaffe aus Manhattan fühlt sich von seiner Mutter und ihrer neuen Familie ungeliebt und unverstanden und aufgrund seiner dunklen Hautfarbe ...
Jedes Leben hat den gleichen Wert
Der siebzehnjährige Raymond Jaffe aus Manhattan fühlt sich von seiner Mutter und ihrer neuen Familie ungeliebt und unverstanden und aufgrund seiner dunklen Hautfarbe noch vielmehr als Außenseiter neben seiner weißen Familie. Die Ehefrau seines leiblichen Vaters lehnt Raymond vehement ab, und als auch noch sein bester Freund André wegzieht, bleibt ihm nur noch eine kleine Straßenkatze, die er geduldig und mit liebevoller Zuwendung gezähmt hat. Um das hilflose Wesen zu retten, bringt er es zu einer alten Dame, die in seiner direkten Nachbarschaft lebt. Mildred Gutermann ist über neunzig, gebrechlich und blind. Der nette freiwillige Helfer namens Luis Velez, der sie jahrelang betreut und unterstützt hat, meldete sich von einem Tag auf den anderen nicht mehr. Die auf Hilfe angewiesene Frau ist verzweifelt und macht sich darüber hinaus große Sorgen um Luis. Eine Begegnung im Hausflur zwischen Mildred und Raymond wird zum Beginn einer tiefen, intensiven und für beide Seiten überaus bereichernden Freundschaft. Die völlig vorurteilsfreie alte Dame und der sich ungeliebt und missachtet fühlende Junge, dem es schwerfällt, seinen Emotionen Ausdruck zu verleihen, unterstützen sich fortan gegenseitig und werden zum Segen für den jeweils anderen.
Da ich Catherine Ryan Hyde als eine meiner absoluten Lieblingsautorinnen bezeichne sah ich dieser aktuellen Neuerscheinung bereits mit riesengroßer Erwartungshaltung entgegen. Die vorliegende Geschichte des Aufeinandertreffens einer lebenserfahrenen alten Dame und eines von seinen Gefühlen zerrissenen Jugendlichen ist der Autorin hervorragend gelungen. Die Hilfsbereitschaft und Fürsorge des schwarzen Jungen sowie seine Feinfühligkeit führten zu einem Kontakt, der in eine tiefe und für alle Beteiligten unglaublich wertvolle Freundschaft mündete. Während die blinde Witwe Mildred vergeblich auf ihren Helfer Luiz wartet, kommt mit diesem Jugendlichen, der das Gefühl hat, keinem einzigen Menschen auf dieser Welt wichtig zu sein, ein Lichtstrahl in ihre kleine Wohnung. Raymonds Unterstützung in den alltäglichen Dingen des Lebens sind ein Segen für die Blinde, doch Mildred hat ihrerseits so viel zu geben. Sie ist der erste Mensch, der Raymond trotz ihrer Blindheit wirklich sieht – vorbehaltslos. Millies kluge Weltsicht, ihre Lebenserfahrung und ihre Weisheit veranlassen den jungen Mann nach und nach dazu, seine Einstellung zu ändern und Selbstvertrauen zu entwickeln. Während der Suche nach dem verschwundenen Luis begegnet Raymond darüber hinaus unterschiedlichen Menschen, die ihn zu unglaublich bereichernden Erfahrungen führen.
„Die Suche nach dem Augenblick“ wartet mit ernsten, tiefgründigen Themen und großartig dargestellten Emotionen auf. Dem wunderschönen Schreibstil der Autorin ist es geschuldet, dass man als Leser gefühlsmäßig unverzüglich in diese Geschichte hineingezogen wird. Die Protagonisten vermitteln durch ihre ausgezeichnete Charakterisierung höchste Authentizität und wuchsen mir im Verlauf der Seiten ans Herz. Starke Nebenfiguren bereichern die Handlung und sorgen ebenfalls für große Emotionen. In diesem Buch geht es vorrangig um Menschlichkeit, um Freundschaft, Zusammenhalt, gegenseitige Wertschätzung und die Fähigkeit, die Andersartigkeit seines Nächsten anzuerkennen. Catherine Ryan Hyde versteht es zudem auf sehr einfühlsame Art und Weise, seelische und körperliche Verletzungen und den Weg zu deren Heilung zu thematisieren.
Es gibt in diesem Buch zahlreiche beeindruckende Aussagen, wie beispielsweise jene der blinden alten Mildred Gutermann:
„Das Leben nimmt uns allen etwas. Ich werde dir etwas über das Leben erzählen, das du vielleicht nicht weißt, mein junger Freund. Das Leben gibt uns die Sachen nicht. Es leiht sie uns nur. Nichts gehört uns, wir können nichts behalten. Nicht einmal unsere Körper oder unseren Geist. Es ist bloß eine Leihgabe. Wenn ein Mensch in unser Leben tritt, wird er eines Tages wieder gehen. Weil man sich aus den Augen verliert oder weil jeder irgendwann stirbt. Das ist nun mal die Art, wie die Dinge funktionieren.“
„Ja, ich werde sterben, Raymond, und ich kann nicht vorhersehen, wann das passieren wird. Doch eine Sache kann ich dir versprechen: Es wird nicht deswegen sein, weil ich das Leben aufgegeben habe. Lange zu leben ist ein Geschenk, das vielen nicht gewährt wird, und so kommt es mit der Verantwortung, das Beste daraus zu machen. Es wenigstens zu schätzen. Die Menschen beschweren sich darüber, dass sie älter werden – die Schmerzen, wie viel schwieriger alles ist –, als hätten sie vergessen, dass die Alternative darin besteht, jung zu sterben.“
Fazit: „Die Suche nach dem Augenblick“ war ein weiteres Buch aus der Feder von Catherine Ryan Hyde, welches ich als überwältigendes Lese-Highlight bezeichnen darf. Der wunderschöne Schreibstil, die tiefen Emotionen und die ausgezeichnet charakterisierten handelnden Figuren machen diesen Roman zu einer Lektüre, die man nicht so rasch vergisst, die vielmehr noch lange in einem nachwirkt.
Völlig begeisterte fünf Sterne und eine absolute Leseempfehlung dafür!