Launische Hauptdarstellerin
Der Erste Weltkrieg hat seine Opfer gefordert und so kommt es, dass Violet mit ihren 38 Jahren immer noch bei ihrer Mutter wohnt, da ihr Verlobter im Krieg geblieben ist. Doch das zänkische Wesen ihrer ...
Der Erste Weltkrieg hat seine Opfer gefordert und so kommt es, dass Violet mit ihren 38 Jahren immer noch bei ihrer Mutter wohnt, da ihr Verlobter im Krieg geblieben ist. Doch das zänkische Wesen ihrer verwitweten Mutter macht es ihr nicht leicht. Violet nimmt einen schlecht bezahlten Job an, um überhaupt etwas zum Leben zu haben, die mitleidigen Blicke der Umstehenden versucht sie auszuklammern. In der Kathedrale von Winchester sorgt eine Begegnung dafür, dass Violets Leben sich grundlegend ändert...
"Violet" ist ein sehr ruhiger, gediegener Roman, der in meinen Augen viel mehr Kraft und Stärke hätte nach außen transportieren können, wenn er mit ausdrucksstarken und wortgewaltigen Szenen gestaltet worden wäre.
Schon nach den ersten Seiten spürt man, dass hier Detailverliebtheit die Überhand gewinnt und so ist es nicht verwunderlich, dass die ersten Kapitel eher von Teezeremonien, Handarbeit und gleichbeliebendem Alltag geprägt sind. Aber irgendwie macht das auch den Reiz aus, denn nur so kommt man in die Erzählung hinein, versteht die Handlungen der Figuren und kann sich in etwa ein Bild davon machen, wie es gewesen sein muss in einer Zeit, in der man als Frau erst einmal "beweisen" musste, dass man es auch alleine - ohne Mann - schaffen kann, auf eigenen Füßen zu stehen.
Violet ist zu Beginn des Buches für mich eine herausragende Persönlichkeit, die sich sehr nüchtern und diszipliniert, fast mit eisernem Willen durchsetzt. Was mir aber bei ihr fehlt ist ein bisschen Wärme, denn sie wirkt durch all die genannten Komponenten manchmal schon unnahbar und distanziert.
Im Verlauf des Buches dreht sich jedoch der Wind und Violet nimmt mehr und mehr den Part ihrer Mutter ein - sie wirkt launisch und überdreht und das macht den ganzen guten Eindruck von ihr zunichte. Ich ziehe mich unweigerlich von ihr zurück und verliere den Zugang zu ihr.
Was mir jedoch sehr gut gefallen hat ist die Umsetzung des Themas Stickerei - hier wird mit ganz viel Ruhe und Sorgfalt erzählt, wie diese Handarbeiten entstehen und welchen Stellenwert sie im kirchlichen Alltag haben. Man spürt förmlich mit jedem Handgriff der Stickerinnen, wie aus einem gewöhnlichen Faden kleine Kunstwerke entstehen und ich kann die fertigen Sitz- & Kniekissen direkt vor mir sehen. Der Zusammenhalt im Stickkreis ist eine große Stütze, nicht nur für Violet. Es wirkt so, als würden die Frauen durch die gemeinsame Handarbeit miteinander verknüpft sein.
Ich bin ein bisschen hin und hergerissen, was die Meinung zum Roman betrifft, denn auf der einen Seite wird hier geballtes Wissen zum Thema Stickerei an den Leser weitergegeben und zum anderen versucht dieses Buch gesellschaftskritisch die Rolle der Frau zur damaligen Zeit zu vermitteln. Jedoch gelingt dieser Spagat nicht ganz so gut. Man muss sich, glaube ich, ganz unvoreingenommen und mit offenem Herzen auf das Buch einlassen können, damit eine spannende Lektüre daraus wird. Das Buch wird sicherlich seine Liebhaber finden - für mich ist es eher durchschnittlich.