Wer war Alice: Komplex und außergewöhnlich mit einigen Schwächen
Wer war AliceGillian Flynn (Gone Girl) und Paula Hawkins (Girl on the Train) - und zahlreiche weitere Autorinnen - haben mit ihren Romanen ein neues Genre eröffnet: Domestic Noir. Und ich wage zu behaupten, dass auch ...
Gillian Flynn (Gone Girl) und Paula Hawkins (Girl on the Train) - und zahlreiche weitere Autorinnen - haben mit ihren Romanen ein neues Genre eröffnet: Domestic Noir. Und ich wage zu behaupten, dass auch T.R. Richmonds Debüt Wer war Alice sich in dieses neue Genre einreiht. Wer war Alice ist ein Roman, ein Thriller, ein Krimi. Man darf jedoch keine zusammenhängende Handlung erwarten wie bei einem normalen Thriller. Beim Lesen hatte ich das Gefühl wie eine Polizistin eine alte Fallakte durchzugehen - Briefe, Zeugenvernehmungen, E-Mails, Chat-Verläufe. Schnipsel, die von Alice Leben übrig geblieben sind (deshalb finde ich auch den englischen Originaltitel What She Left um einiges treffender). Die einzelnen Fragmente springen in der Zeit hin und her, dass ich manchmal nochmals nachgucken musste in welchen Jahr sich die "Handlung" nun befindet. Dennoch hatte ich den Eindruck, dass diese Episoden einem roten Faden folgten und man der Wahrheit Stück für Stück immer näher kommt. Allerdings muss man auch sagen, dass sich eine richtige Spannungskurve nicht recht entwickeln mag. Die ungewöhnliche Erzählweise, die der Autor gewählt hat, ist interessant und hält zu Beginn auch die Spannung aufrecht. Je weiter man jedoch in der Handlung voranschreitet, bleibt sie allmählich auf der Strecke. Mir waren zum Beispiel die seitenlangen Briefe von Professor Jeremy Cooke zu langwierig und ermüdend. Auf der anderen Seite war die Rekonstruktion von Alice' Leben anhand ihrer digitaler Spuren faszinierend. Daher musste ich unbedingt wissen, wie es weitergeht. Was sich wirklich hinter Alice und ihrem Tod verbirgt.
Es fällt mir schwer dieses Buch zu beschreiben, ohne es genau auseinander zu nehmen, in seine Einzelteile zu zerlegen. Wer war Alice ist definitiv eine Geschichte über die man stundenlang diskutieren kann, über die Bedeutung des Lebens und die Entscheidung, dem ein Ende zu setzen, über Melancholie, Depressionen, Sehnsucht und Verlangen. Vielleicht macht gerade diese Facetten das neue Genre Domestic Noir interessant: Weil diese Autoren hinter die Fassade des Alltags schauen - in den Kopf, die Seele und das Herz der Charaktere.
Fazit: Wer Girl on the Train mochte, ungewöhnliche Erzählweisen und Psychologie spannend findet, für den kann auch Wer war Alice etwas sein. Für mich war T.R. Richmonds Debüt eine außergewöhnliche und einzigartige Geschichte, die gnadenlos die Schattenseite des Alltags beleuchtet, die jeder schon einmal kennen gelernt hat. In vielen Dingen habe ich mich in Alice gesehen. Wer war Alice ist ein außergewöhnlicher Blick auf das Leben in unserer heutigen Zeit und die Spuren, die wir auf ewig in ihr hinterlassen. Am besten schnappt man sich einfach die Leseprobe und liest in das Buch rein. Einen klassischen Thriller darf man allerdings nicht erwarten.
4 von 5 Sternen