"Ich? Oh, richtig. Reden wir über mich. Zuerst bin ich kalt. Jetzt sarkastisch. Man könnte meinen, ich wäre hier die mit dem Problem."
Pirio Kasparov, die kühl und sachlich wirkende, im Mittelpunkt stehende Protagonistin von Elisabeth Elos Debütroman "Die Frau, die nie fror" hat tatsächlich einige Probleme. Aber auch eine Art, mit der sie scheinbar mühelos durch sie hindurchgleiten kann.
Es ist keine Untertreibung, wenn man Pirio als facettenreichen Charakter bezeichnet. Als Tochter russischer Einwanderer wächst sie auf in Beacon Hill (im Norden liegender und einer der egehrenswertesten und teuersten Stadtteile Bostons) und verbringt ihre Jugend in einem noblen Internat, wo sie Thomasina kennenlernt. Obwohl beide Mädchen privilegiert sind, verbringen sie die meiste Zeit bei Tauchgängen mit Fischern aus South Boston.
Letzteres ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass sie, obwohl sie inzwischen als Führungskraft in der Vorstandsetage des erfolgreichen Familienunternehmens, das Parfüm kreiert, ein gesichertes Einkommen hat, ihren Freund Ned, Ex-Partner Thomasinas und Vater von Noah, auf einer nächtlichen Fahrt mit seinem Hummerboot begleitet. Ist es ein Unglück, dass das Boot dabei von einem Frachter gerammt wird und innerhalb von Minuten sinkt? Pirio droht in den kalten Gewässern des Nordatlantik zu ertrinken. Doch allen Widrigkeiten zum Trotz schafft sie es, dank einer physiologischen Eigenart, die sie unempfindlich gegen Unterkühlung macht, vier Stunden im Wasser auszuhalten, bis sie von der Küstenwache gerettet wird. Ned hat leider nicht so viel Glück und stirbt.
Das Geschehen verunsichert Pirio. Sie kann den Verdacht, dass der Bootsuntergang kein Zufall war, nicht abschütteln. Verstärkt wird diese Mutmaßung von Milosa, ihrem russischen, meist zynischem Vater mit geheimnisvoller Vergangenheit, der ihr sagt, dass nichts ist, wie es scheint. Pirio sucht nach Antworten bei Neds ehemaligem Arbeitgeber, im Hafen von Boston, bei ihrem einstigen Geliebten John Oster, der mittlerweile braver Familienvater ist oder dies zumindest vorgibt, und begegnet einem rätselhaftem Versicherungsdetektiv, der sich als Journalist entpuppt und zu dem sie tiefere Gefühle entwickelt.
Zudem ist wegen ihres Überlebens im eiskalten Wasser die United States Navy an ihr interessiert, Tests zur Erforschung ihrer menschlichen Ausdauer unter extremen Bedingungen durchzuführen.
Jedoch nicht nur das macht Pirio so besonders. Sie hat außerdem einen absolut raffinierten Geruchssinn, was sie befähigt, geringste Spuren selbst von schwierigsten Düften wie Adlerholz und Eichenmoos zu identifizieren.
Man könnte meinen, Pirio wäre eine Superheldin. Doch weit gefehlt. Sie hat hat eine Menge von interessanten, zum Teil scharfen Ecken und Kanten. Zum einen verfügt sie über Eigenschaften, wie ein jeder von uns sie besitzt: Mut, Ausdauer, praktische Intelligenz, Integrität, Klugheit, Ehrlichkeit, Mitgefühl. Das Problem ist, dass wir, obwohl wir alle Zugang zu diesen Eigenschaften haben und sie zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Maße zeigen können, sie nicht immer und zuverlässig herausfinden können. Wir haben Mängel. Und auch darin gleichen wir einander. Die Liste von Pirios Mängeln ist lang und vielfältig: geistlose Rebellion, ein bisschen Faulheit, Menschenverachtung, reflexive Wut, Verwirrung über Liebe und Sex, Zynismus, Unnahbarkeit und Rücksichtslosigkeit. Trotzdem ist es leicht, sie zu mögen. Sie ist kein Schwächling und Beschützerin für Menschen, denen unrecht getan wird und die "unschuldig" sind. Besonders deutlich wird dies im Verhältnis zum zehnjährigen Noah, der unter der Alkoholsucht seiner Mutter Thomasina leidet.
Auf der Suche nach der Wahrheit, die wie sich herausstellt, gleichfalls riskant für ihre Freunde Thomasina und Noah ist, führt Pirios Weg auf eine mondäne Superyacht, wo sie sich - ein wenig naiv - in tödliche Gefahr begibt, und von dort in eine Inuitsiedlung und schließlich zu einer schmalen Bucht in der kanadischen Arktis. Hier sieht sie sich der ultimativen Herausforderung gegenüber, nämlich sich selbst zu vertrauen.
Die Autorin hält die Spannung über weite Strecken des Romans und schafft sympathische, wenn auch fehlerhafte Charaktere neben Pirio. Da ist vor allem auch Milosa hervorzuheben, dessen Liebe zur Tochter durch kleine Gesten zu Ausdruck kommt. Er ist ein launisches Raubein, dessen Zigarrenduft man zu riechen meint. Er war zwar in der Vergangenheit nicht die beste Vaterfigur für ein Kind, das ohne Mutter aufwächst, dient aber als unerschütterlicher Realitätsscheck für die Erwachsene Pirio.
Daneben beschreibt Elisabeth Elo Orte und Momente mit bildhafter Leichtigkeit. Auf dem Weg zur kanadischen Arktis entlang der felsigen Küste hat man das Gefühl, die Gischt zu spüren. Die späteren Szenen in der Bucht von Cumberland Sound begeistern und schockieren gleichermaßen.
Wie ihre Protagonistin ist "Die Frau, die nie fror" vieles: ein Krimi, ein Umwelt-Thriller und ein Familiendrama. Stets drückt man Pirio die Daumen, Licht in das Dunkel der verworrenen Ereignisse zu bringen. Und obwohl die Hauptfigur der Meinung ist: "Ein wirklich gutes Ende ist doch eines, das man nicht kommen sieht", gibt es nie einen Zweifel darüber, wohin die Geschichte letztens Endes führen wird.