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Veröffentlicht am 11.08.2020

Zwischen Bleiben und Gehen

Der letzte Satz
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Was stimmt nicht mit Seethalers melancholischem Mahler-Romänchen „Der letzte Satz“? Dass er nur 120 Seiten hat, auf denen luftig großer Durchschuss den Zeilen viel Platz lässt, ist es nicht, denn die Erzählung ...

Was stimmt nicht mit Seethalers melancholischem Mahler-Romänchen „Der letzte Satz“? Dass er nur 120 Seiten hat, auf denen luftig großer Durchschuss den Zeilen viel Platz lässt, ist es nicht, denn die Erzählung von Gustav Mahlers letzter Reise liest sich gewandt und gefällig. Was also hat mich so gestört, das ich mit dieser Rezension fast zwei Wochen schwanger gehen musste? es hat wohl mit diesem Satz zu tun: „Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald Musik sich beschreiben lässt, ist sie schlecht.“ (S. 65)

Seethaler schreibt nicht über Musik, sondern über einen Komponisten und Dirigenten. Das macht er sehr gut, es finden sich alle wichtigen Stationen aus Mahlers Leben auf den 120 Seiten - ganz plastisch erscheint das Gerüst dieser außergewöhnlichen Vita, wenn ich sie mit dem zu Rate gezogenen Wikipedia-Artikel vergleiche. Aber Seethaler schreibt nicht - oder nur kaum – über die Musik. Welchen Sinn ergibt es, über einen Musiker zu schreiben, wenn man so wenig über die Musik erfährt? Immerhin, und das sind die m.E. stärksten Passagen, kreist der innere Monolog des moribunden Musikers um das Komponieren. Woher kommt die Musik? Was sieht Mahler, das uns ihn hören macht? Eindrücklich über Mahlers innige Musikwerdung durch die Wahrnehmung sowohl des Äußeren (Vögelgezwitscher u.ä.) wie auch des inneren Genius, des autonomen Schöpfers: „Er hätte die Harmonien seines Körpers komponieren sollen. Und noch vielmehr die Disharmonien.“ (S. 114) Gemeint sind Mahlers instabile Gesundheit, der schwere Verlust der älteren Tochter und das zerrüttete Verhältnis zur viel jüngeren und von einem anderen Genius umworbenen Ehefrau Alma.

Beim Lesen sitzen wir nicht nur mit dem totgeweihten Mahler in seinem Deckstuhl auf der letzten Reise aus den USA nach Europa, gezeichnet von der Herzmuskelentzündung, an der die Ärzte in New York, Paris und Wien verzweifelten (und Mahler selbst auch, und zwar immer wieder in diesem Roman), wir sitzen auch mit ihm in seinen Komponierhäuschen. Hier destilliert Mahler die Natur in seine Musik, und Seethaler erspart uns diese klischeehaften Passagen nicht.

Klischeehaft und wie aus dem Lehrbuch zur Textgestaltung wirken allerdings auch andere Absätze: Man nehme ein Ortsdetail, eine innere Ansicht, einen Vergleich und einen synästhetischen Sinneseindruck – anlässlich des Besuchs bei Siegmund Freud auf Seite 98 klingt das so: „In einem Café tranken sie heiße Limonade mit Honig, dann machen sie einen Spaziergang entlang der Rapenburg-Gracht (Detail!). Mahler erinnerte sich (innere Ansicht!) an das das ölige, flaschengrüne (Vergleich!), unter den Brücken und im Schatten der Boote tiefschwarze Wasser. Es war mitten im Sommer, doch es roch schon nach Herbst, faulig und feucht (Synästhesie!).“ Das ist einerseits perfekt erzählt. Andererseits wirkt es auch mechanisch, lehrbuchhaft und damit platt. Überhaupt erscheint es zum Scheitern verurteilt, alle wichtigen biografischen Details Mahlers auf so wenig Seiten mehr listenartig als listenreich abzuhaken.

Abgesehen davon, dass zu wenig Musik auf diesen 120 Seiten erklingt und zu viel schwarze Galle aus der Melancholie von Mahlers umfassenden Abschied vom Leben, der Welt, der Musik und seiner Frau tropft, muss man freilich auch über den Titel des Buches nachdenken: „Der letzte Satz“.

Mahler lässt die Entstehung seiner neunten Sinfonie und die letzten drei Jahre Revue passieren lässt: Diese neunte wird - wie bei Beethoven oder Bruckner Mahlers letzte sein, mithin der vierte Satz auch Mahlers "letzter Satz". Dieser endet bemerkenswerterweise mit der Spielanweisung "ersterbend" - und genau in dieser elegischen Abschiedsstimmung trifft man lesend Mahler an Bord des Schiffes an. Ich wäre gespannt gewesen, wie Seethaler die Entstehung des letzten Satzes der 9. Sinfonie und das Ersterben Mahlers literarisch konvergieren lässt. Das passiert allerdings nicht, denn die Musik spielt in diesem Roman ja nicht die erste Geige.

Eine andere Spannung aber konstruiert Seethaler, nämlich aus dem letzten Satz, den Mahler in diesem Roman sagt, und dem letzten Satz des Roman schlechthin: „Ich sollte noch ein wenig bleiben“, sagt Mahler auf Seite 118, doch das unerbittliche Ende lautet: „Und das war gut, denn es war Zeit, zu gehen.“ (S. 126)

Diese Spannung zwischen Bleiben und Gehen gelingt Seethaler immerhin durch das Gegenüber von melancholischer Rückschau und Dialog mit dem jugendlichen Decksstewart, der den „Direktor“ bedient und zur interessantesten Nebenfigur wächst.

Mein letzter Satz: „Der letzte Satz“ liefert nicht mehr als der Wikipedia-Artikel zu Gustav Mahler, ist aber deutlich schöner zu lesen.

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Veröffentlicht am 18.05.2020

Das meiste bleibt dunkel

Dunkels Gesetz
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„Dunkels Gesetz“ ist ein hardboiled Thriller im Stil eines „Country Noir“, Sven Heuchert erzählt in knapper Sprache und mit Fokus auf den Zerfall der Gesellschaft, des Menschen und der Welt im Ganzen. ...

„Dunkels Gesetz“ ist ein hardboiled Thriller im Stil eines „Country Noir“, Sven Heuchert erzählt in knapper Sprache und mit Fokus auf den Zerfall der Gesellschaft, des Menschen und der Welt im Ganzen. Die Figuren bleiben grob gezeichnet und bedienen – positiv gesagt – die für die Handlung und die Atmosphäre notwendigen Erzählmuster. Negativ ausgedrückt buchstabieren sie das ABC der Klischees von A wie Alkoholiker-Versagerin bis Z wie Zuhälter: traumatisierter Ex-Söldner, sadistische Kleinkriminelle, unschuldige Teenager, kriminelle Rumänen und hinterfotzige Zuhälter. Das K wie Kräuterweib kann ich nicht in dieses ABC einordnen – ich halte es für einen der Bestandteile, die die Geschichte zum Provinzthriller werden lasen – Kräuterweiber sind schließlich kein urbanes Phänomen.

Über G wie Gewalt muss nicht viel geschrieben werden: Der hardboiled Teil des Romans übertreibt es mit der „useless violence“ ganz erheblich. Weder die Misshandlung der Pferde liefert einen Erkentnismehrwert noch wird der Mord an einem Jungen im Wald sinnvoll instrumentalisiert. Beide Motive wirken wir dekorative Utensilien aus dem Setzkasten 8ohne dabei schmuckvoll zu sein, versteht sich).

Das größte Problem bereitet allerdings, dass Heuchert zwar wahnsinnig viel düstere Atmosphäre gelingt – es reihen sich sehr viele gelungene „harte“ Szenen aneinander, bis man nach drei Fünfteln des Romans endlich begreift, dass der Autor seine Handlung nur indirekt erzählen möchte und das konkrete Geschehen, die Beweggründe und Absichten lieber aus den durchkonstruierten Zustandsbeschreibungen vermitteln möchte, die der Leser durch eigene Lektüreleistung ableiten muss. Das kann gelingen und pfiffig sein, ist hier aber misslungen, weil der Roman gar nicht vom Fleck kommt. Im Ungefähren bleibt dann auch das Ende des Thrillers.

Noch eine Bemerkung zum Setting: ich bin ein Stadtmensch, kenne aber wirklich viele Ecken in Deutschland. Ich hätte eine solch flächendeckende gesellschaftliche und wirtschaftliche Einöde innerhalb der Bundesrepublik nicht für möglich gehalten. Das heißt: Ich halte sie nicht für möglich. Wäre die Geschichte im mittleren Westen der USA angesiedelt oder in Rumänien, hielte ich sie für glaubhafter.

Alles in allem lautet das Gesetz in „Dunkels Gesetz“: das meiste bleibt dunkel.

Veröffentlicht am 18.05.2020

so phantasievoll wie nervtötend

Im Brunnen der Manuskripte
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„Der Fall Jane Eyre“ war etwas ganz Neues - die Agentin Thursday Next wurde buchstäblich in die Literatur geschickt, um zu verhindern, dass mit den Werken innertextlich Schindludergetrieben wird. Dabei ...

„Der Fall Jane Eyre“ war etwas ganz Neues - die Agentin Thursday Next wurde buchstäblich in die Literatur geschickt, um zu verhindern, dass mit den Werken innertextlich Schindludergetrieben wird. Dabei trifft sie auf die Figuren der Geschichte, die wie Darsteller eines Film auch mal frei haben, aber dennoch nicht wissen, wie man eine Toilette benutzt, sich Schuhe bindet oder andere Tätigkeiten des Alltags, die während des Erzählens ausgelassen werden und deshalb dem Erfahrungshorizont der Figuren entgehen. Jaspar Fforde hat sich viel Mühe gegeben, die innertextliche Logik zu durchdringen: Wie ist es, wenn Thursday Next plötzlich Dialoge ändert, indem sie mit Figuren interagiert? Woher kommen eigentlich die Figuren (unterschiedlicher Klassen von „Lückenfüller à la Mitreisende des Hauptdarstellers“ bis zum Klasse-A-Protagonisten vom Schlage Jane Eyres)?

Die Fülle der brillanten Einfälle entzückt auch Leser, die nie ein Germanistikstudium erlitten haben. Aber auch die kommen auf ihre Kosten, wenn etwa endlich einmal der Prozess des Lesens als Teil des Kunstwerks dargelegt wird: „Schließlich ist Lesen ein äußerst schöpferischer Vorgang, der die Vorstellungskraft sehr beansprucht. Vielleicht sogar mehr als das Schreiben. Wenn sie Gefühle in ihren Köpfen entstehen lassen, wenn sie die Farben eines Sonnenuntergangs vor ihren inneren Augen erzeugen oder dahin kommen, dass sie eine frische Brise auf ihrer Haut spüren, dann leisten Leserinnen und Leser eine ganz erstaunliche Vorstellungsarbeit und verdienen mindestens so viel Lob wie der Autor - wenn nicht sogar mehr.“ (S. 59)

Dieses Leserlob habe ich mir nicht verdient, der Autor sich m.E. das seine aber auch nicht. Es reicht m.E. nämlich nicht, eine Pointe an die andere zu reihen, eine skurrile Textidee au die nächste zu häufen und die Agentin Thursday Next von einer Situation in die nächste zu schubsen, um sie wie einen Lackmusteststreifen reagieren zu lassen. Dieses Serielle hat mir den ganzen Roman verleidet, auch weil ich ein Fan davon bin, eine Handlung miterleben zu dürfen. Dann scheitern meine Bemühungen auch nicht, Sonnenuntergänge und frische Brisen zu imaginieren.

Ein fader dritter Teil einer der pfiffigsten Ideen seit langem.

Veröffentlicht am 17.03.2020

Maintal Psycho statt American Psycho

Allegro Pastell
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Schon lange habe ich keinen Roman mehr gelesen, der mir so auf die Nerven ging, obwohl ich nicht wusste, ob er so gut oder so schlecht war. „Allegro Pastell“ ist so eine durchdesignte Beziehungskiste zwischen ...

Schon lange habe ich keinen Roman mehr gelesen, der mir so auf die Nerven ging, obwohl ich nicht wusste, ob er so gut oder so schlecht war. „Allegro Pastell“ ist so eine durchdesignte Beziehungskiste zwischen Tanja und Jerome, wahnsinnig hip, modern, kontrolliert und seicht. Sind die heute 30-Jährigen so, dass für sie alles gleich wichtig oder unwichtig ist, dass Drogen oder Sex nur eine von vielen Kommunikationsformen oder Zeitvertreiben sind, denen man nachgehen kann, wenn das Wetter verregnet ist? Kann einem eine Textnachricht „gefallen“, weil ihr „Tonfall souverän“ ist? (S. 37) Die Sprache mit ihren Anglizismen und aus der mündlichen Sphäre entnommenen Ungenauigkeiten nervt gewaltig - spricht man heute so, wenn man in einer Berliner Wegagentur arbeitet? Oder schlimmer: Schreibt man so?

Gleichzeitig hat Leif Randt freilich seine Sprache gut im Griff und erlaubt sich keine Ausrutscher. Einige Sätze entlarven durch Konstruktion und Inhalt das geschehen als leer und seicht: „Marlene besaß eine optimalere Pfanne las Tanja.“ (S. 267) Das spiegelt die Einfältigkeit vieler Gespräche und hebt gleichzeitig mittels unsinnigen Superlativs en Finger.

Offenbar geht es hier ums Älterwerden oder ums Nicht-Erwachsen-Werden einerseits und die hohle Welt der Dinge andererseits. Die ganze Handlung ist derartig unreif, eindimensional und platt, wie sie bestimmt genauso gewollt ist. Das wirft die Frage auf, ob Leif Randt hier eine phänotypische Fallstudie in Sozioethnologie abbilden wollt, ob er zur Analyse der geistigen Dürftigkeit der rezenten Leistungsträger aufruft oder ob er subtil zur satirischen Anklage anhebt.

Mir ist es fast egal, weil ich es entweder nach 80 Seiten schon begriffen oder eben nicht verstanden hatte und den ganzen Rest in quälender Abundanz nur erleiden konnte.

Hat den Leipziger Buchpreis ja auch nicht bekommen.

Veröffentlicht am 24.01.2020

Mutmaßungen über „Mutmaßungen über Jakob“

Mutmassungen über Jakob
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Uwe Johnsons Roman – mutmaße ich mal – ist eine dieser Literaturerscheinungen, die nur denkbar sind in der frühen Zeit der Systemauseinandersetzung, des Wiederaufbrauchs nach dem totalen Missbrauch der ...

Uwe Johnsons Roman – mutmaße ich mal – ist eine dieser Literaturerscheinungen, die nur denkbar sind in der frühen Zeit der Systemauseinandersetzung, des Wiederaufbrauchs nach dem totalen Missbrauch der deutschen Sprache und dem Sinnsuchen einer ganzen Generation. Während Uwe Johnsons Nachbar Günter Grass gut erzählt, aber auch mal kräftig vom geraden Weg entgleist, vermeidet Johnson den nämlichen einfach.

Obwohl ‚einfach‘ und Johnsons Sprache schlecht zusammenpassen. Denn einfach macht sich Johnson sein Erzählen nicht, und dem Leser die Lektüre schon gar nicht. Vielstimmig nähert er sich dem Eigentlichen fast immer uneigentlich. Wie in der frühen DDR mutmaßlich üblich, bleibt vieles Direkte unausgesprochen, was es schwer macht, Handlung und Figuren in einen klaren Blick zu bekommen. Ich habe Jakob, den Bahnarbeiter mit Abitur, seine Gesine Cresspahl und ihren Vater, den „heiligen Cresspahl“, zwar während des Lesens zu mögen begonnen (und den Stasi-Schlapphut Rohlfs und den schlaffen Jonas Blach abzulehnen gelernt), aber Johnsons Sprache mochte ich bis zum Schluss nicht.

Dabei ist der erste Satz so großartig: „Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.“ Wieso konnte der erfahrene Bahnarbeiter unter den Zug geraten - Selbstmord? Was haben die Republikflucht seiner Mutter und seiner Nennschwester Gesine damit zu tun? Was die Annäherungsversuche der Staatsmacht? Ich hätte mir gewünscht, dass aus dieser Gemengelage ein Publikumsliebling geworden wäre und kein Kritikerliebling.

Ende der Mutmaßungen - ich bin nicht überzeugt.

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