Psychologischer Spannungsroman, intensiv und authentisch erzählt
Uwe-Michael Gutzschhahn (Übersetzer)
Wenn die größte Bedrohung für dein Leben dort lauert, wo du dich am sichersten fühlen solltest – in deinem Zuhause
Tausende Krähen belagern die Kleinstadt Auburn, Pennsylvania, und es werden immer mehr. Alle Einwohner empfinden dies als Bedrohung – alle außer der 17-jährigen Leighton und ihren beiden jüngeren Schwestern. Denn die größte Gefahr lebt in ihrem Zuhause: ihr Vater, der immer wieder gewalttätig wird – und ihre Mutter, die schweigt und ihn nicht verlässt. Und die Nachbarn, die konsequent wegschauen. Leighton würde nichts lieber tun, als der Stadt den Rücken zu kehren, aber sie kann und will ihre Schwestern nicht zurücklassen. Denn eins ist klar: Irgendwann wird die Situation eskalieren...
Das Buch beschreibt sensibel und trotzdem schonungslos ehrlich, die Angst der Kinder, wenn ihnen das Zuhause kein Ort der Sicherheit ist, sondern der Ort, an welchen man ungern zurückkehrt. Leighton setzt ...
Das Buch beschreibt sensibel und trotzdem schonungslos ehrlich, die Angst der Kinder, wenn ihnen das Zuhause kein Ort der Sicherheit ist, sondern der Ort, an welchen man ungern zurückkehrt. Leighton setzt sich dafür ein, dass ihnen geholfen wird, doch keiner will etwas davon wissen. Sie will ihre Schwestern beschützen und ihrer Mutter beistehen, welche nicht die Kraft und das Durchhaltevermögen besitzt, ihre Kinder vor dem Vater zu schützen. Es ist erschreckend, dass eine Mutter die Augen vor der Gewalt des Mannes gegen die eigenen Kinder verschließt. Die Krähen symbolisieren einen Vorboten vor dem Unglück, welches über Leighton und ihre Familie reinbrechen wird. Die meiste Zeit habe ich bei dem Buch geweint, weil Leighton so früh schon die Aufgabe übernehmen musste, für Sicherheit zu sorgen, wo das doch in den Aufgabenbereich der Eltern fällt. Außerdem war es erschreckend zu lesen, daß die meisten Menschen Angst haben, sich für solche Kinder einzusetzen, damit ihnen selbst keine Konsequenzen drohen. Doch wer sind wir, wenn man so etwas bemerkt und sich einfach raushält? Durch ihren neuen Freund erkennt Leighton, wie es ist, eine harmonische Familie zu haben, wo das Familienleben nicht davon überschattet wird, wann der nächste Wutausbruch mal kommt. Ein tragisches Buch über die Wahrheit, die wir nicht kennen, aber öfter vorkommt als wir glauben! Zurecht ist es nominiert, denn die Autorin lässt keine Seite aus, ohne dem Leser Gänsehaut zu verschaffen und spannend ist dieses Buch zu einhundert Prozent!
Die Autorin schreibt in ihrer Anmerkung am Ende, dies sei eine "Survival-Story" - die Protagonisten kämpfen hier zwar nicht auf einer einsamen Insel, in der Wüste oder im Eis um ihr Überleben sondern retten ...
Die Autorin schreibt in ihrer Anmerkung am Ende, dies sei eine "Survival-Story" - die Protagonisten kämpfen hier zwar nicht auf einer einsamen Insel, in der Wüste oder im Eis um ihr Überleben sondern retten sich dort von Tag zu Tag, wo sie sich eigentlich am sichersten fühlen sollten: zuhause. Doch was Kyrie McCauley hier geschrieben hat ist nicht nur eine spannende Survival-Story, sondern auch ein hoffnungsvoller Coming-of-Age-Roman, ein schonungslose Gesellschaftskritik und ein düsterer Fantasy-Thriller. Was nach einer absurden Mischung klingt, entwickelt sich aber zu einem der beeindruckendsten Jugendromanen, die ich jemals gelesen habe.
"Ich rieche die Rosen und denke an Frauen, die von anderen Frauen im Stich gelassen werden. Frauen, denen gesagt wird, dass ihr Gehorsam wichtiger ist als ihr Leben- und das nicht von ihren Männern, sondern von ihren Müttern und ihren Freundinnen. Von Frauen, die bereit sind, einander zuzusehen, wie sie aufgrund von Traditionen und überkommenen Vorstellungen verletzt werden."
"You are (not) safe here" - die 17-Jährige Leighton und ihre beiden jüngeren Schwestern fühlen sich in ihrem eigenen Haus nicht sicher und das schon eine ganze Weile nicht mehr. Schuld ist ER, ihr Vater, der seine brodelnde Wut nicht unter Kontrolle hat. Warum also finde ich den Titel trotzdem nicht so gut wie das Original? Weil "If these Wings could fly" den Kern der Geschichte besser trifft. Es geht hier zwar um Angst, fehlende Sicherheit und Gewalt - es geht aber auch um den Gegensatz zwischen Liebe und Hass, Fesseln und Flügel, Angst und Hoffnung, welcher sich im englischen Titel meiner Meinung nach besser zeigt. Warum man - wenn man schon einen englischen Titel wählt - nicht einfach beim Original bleiben kann, habe ich noch nie verstanden.
"Die Welt dreht sich um uns herum. Und die Worte steigen von selbst in mir hoch, schnell und ohne Mühe, wie Luft. Worte, die unsichtbar an dem Ding in meiner Brust vorbeijagen, bevor es sie erwischen kann, taumeln aus mir heraus, bevor ich zum Nachdenken komme: "Ich liebe dich."
Auch das deutsche Cover - auch wenn dieses wirklich schön gemacht ist mit der dominanten Schrift, dem schmutzig-weißen Hintergrund, dem rot durchgestrichenen "not" und den schwarzen, rau hervorgehobenen Federn - ist nichts im Vergleich zum Original, welches blaue Silhouetten von Krähen, die im Herzen ein kleines, rotes Haus tragen, zeigt. Sehr schön an der Ausgabe sind jedoch die Einfügungen nach den kurzen Kapiteln, die Datum, Ort und den aktuellen Krähenbestand Auburns anzeigen. Ebenfalls eine gute wie wichtige Idee finde ich die Nennung von Hilfe- und Anlaufstellen ganz am Ende der Geschichte. Denn wie die Autorin in ihrer Widmung schreibt ist das vor allem eine Geschichte für die Überlebenden von häuslicher Gewalt und für alle Nachbarn, Freunde, Mitmenschen, die einfach wegschauen und nicht wissen, was sie tun sollen.
Erster Satz: "Es passiert in der Ausdehnung der Stille, dass ich mich frage, ob sie ganz einfach tot ist."
Mit diesem Gänsehaut-bereitenden Satz steigen wir in die Geschichte von Leighton ein, die Schule, ihre erste Liebe, ihre Zukunftspläne und ihre Träume gegen die Verantwortung ihren Schwestern gegenüber und ihr gemeinsames Überleben in einem Spukhaus abwägen muss. Sich in den charmanten Liam zu verlieben, fühlt sich wie eine Rebellion an, wenn man Zuhause nur Hass gewohnt ist. Von einem Studium in New York zu träumen, fühlt sich wie Verrat an, wenn man dann seine Schwestern mit IHM alleine lässt. Doch soll sie deshalb einfach dableiben und nichts tun, wenn sich jeder weitere Tag wie sterben anfühlt? Jetzt, da ihr nur noch ein einziges Jahr Schule bleibt, läuft ihre Zeit langsam ab und sie muss sich entscheiden, ob sie ihre Flügel ausbreiten und wegfliegen oder dableiben und weiter vor Angst starr ausharren soll. Ob sie endlich ihre Stimme erheben und die unvermeidliche Eskalation in Kauf nehmen oder passiv auf die Explosion warten soll...
"Wie groß ist dein Mut?", überlege ich. Nicht sehr groß. Eher klein. Und er schrumpft immer mehr. Was wird es kosten, diese Stadt zu verlassen? Mut oder Feigheit?"
Ich denke es wird schon im Klapptext sofort klar, worum es hier im Kern geht: häusliche Gewalt. Dennoch hat mich die Autorin überrascht, in dem sie das schwierige Thema mal etwas anders angepackt hat. Hier gibt es keine Schläge, kein Missbrauch, keine bei der Einlieferung ins Krankenhaus vorgetäuschte "Unfälle" sondern die Gewalt, die Leighton, ihren Schwestern und ihrer Mutter zugefügt wird, spielt sich mehr auf psychischer Ebene ab. Besonders beeindruckt hat mich aber, dass es die Autorin nicht bei der Täter-Opfer-Dimension und teilnahmslosen Zuschauern belässt sondern das komplexe Thema weiter aufrollt. Sie schreibt von Machtverhältnissen, Abhängigkeit, Selbstwertproblemen und dem großen Schaden des Kleinredens des Problems und prangert ganz nebenbei die gesellschaftliche Rolle von Frauen allgemein an. Wie geschickt und natürlich sie dabei vielfältige Aspekte und Denkanstöße miteinfließen lässt und beispielsweise durch die Diskussion des Klassikers "Tess von den d'Urbervilles: Eine reine Frau" oder die Recherche von Krähen-Mythen auf Themen wie Rassismus, Perspektivlosigkeit und toxische Normen kommt und eine kleine feministische Debatte auslöst, hat mich nur staunen lassen. Es stecken unfassbar viele tolle und wichtige Gedanken in dieser besonderen Geschichte, die ich wirklich jedem ans Herz legen kann!
"Hier nennen sie Ignoranz Tradition und machen weiter, als ob sie das Recht erworben hätten, grausam zu sein."
Ein weiterer Punkt, der die Problematik so eindrücklich wirken lässt ist, dass das Familienleben sehr authentisch dargestellt ist und gerade deshalb so unter die Haut geht. Es wechseln sich intaktes Familienleben und albtraumhafte Ausbrüche, grausame Wut und einsichtige Reue, einfache Normalität und unleugbare Gewalt ab und gerade dieser Wechsel macht die Bedrohung für Leighton und ihre Schwestern so schrecklich. Diese Ungewissheit, ob heute ein guter oder ein schlechter Tag ist, die ständige Nervosität, etwas Falsches zu sagen oder zu tun und die Angst, dass es DIE Nacht sein wird, in dem er nicht zu einer Tasse oder einer Vase greift sondern seine Pistole oder ein Messer zur Hand nimmt. Die Autorin zeichnet das Bild einer Familie zwischen Hass und Liebe, Wut und Vergebung, Erniedrigung und Stärke, Hoffnung und Angst, welches aufrüttelt und tief berührt. Ganz besonders schön ist dabei, dass man bald feststellt, dass Leighton trotz der vielen Wut, der Angst und des Leids, das sie durchstehen muss, so viel Liebe um sich herum hat. Ihre Schwestern, ihre Mutter, ihre beste Freundin, ihre Oma, ihr Freund und dessen Familie - alle versuchen für sie da zu sein und geben ihr Bestes für sie. Und genau aus diesem Grund ist dieses Buch, so hässlich und tragisch es an manchen Stellen erscheint im Kern doch wunderschön!
"All die Worte, die ich nicht sage. Stattdessen schlucke ich sie herunter und die Buchstaben sind spitz an den Ecken und scharf an den Kanten. Es schmerzt, wenn sie ich runterschlucke. Und sie bleiben in mir und machen mir Bauchschmerzen. Manchmal denke ich, wenn man mich aufschneiden würde, wären all die Worte tatsächlich sichtbar. Wie bei einem Wal, der zu viel Müll gefressen hat, bis der Körper nur noch eine Zeitkapsel ist für all das, was Menschen wegwerfen."
Passend dazu sind die Charaktere sehr feinfühlig gezeichnet. Da wäre Hauptprotagonistin, die die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt und zwischen Isolation und Mitteilungsbedürfnis, zwischen Kämpfen und Weglaufen, Beschützen und sich selbst retten gefangen ist. Mit ihrer stoischen, mutigen aber realistischer Weise auch ein wenig gebrochenen Art wächst sie dem Leser sofort ans Herz und man wünscht ihr, dass ihre Flügel wirklich fliegen können. Besonders berührend sind aber auch die Nebencharaktere wie die süße, unschuldige Juniper, die mit ihrer Verletzlichkeit und Angst immer wieder unter die Haut geht; die nachdenkliche, direkte Campbell, die tagsüber wie ein Wirbelwind durch Auburn saust und wilde Schneeballschlachten führt und sich nachts wie versteinert von Leightons Schattenfiguren ablenken lässt; die offenherzige Sofia, die Leighton in der Schule den Rücken freihält und in stillem Einvernehmen nicht in der Wunde bohrt; der sensible Liam, der Leighton durch ihre ehrliche, zarte Beziehung die Hoffnung auf eine eigene Zukunft und neue Kraft schenkt; die liebevolle Mutter, die nach allem was vorgefallen ist, in ihrem Mann immer noch ihr Zuhause sieht und nicht aus Schwäche sondern aus Liebe immer wieder zu ihm zurückkehrt und der Vater, der durch seine eigene Kindheit ein Vermächtnis von Wut gelehrt wurde und seinen Lebensfrust an seiner Familie auslässt und dennoch mehr ist als ein Monster. Diese wundervollen Protagonisten tragen dazu bei, dass diese Geschichte hässlich und schön, unheimlich und alltäglich, brutal und zärtlich, düster und hoffnungsvoll zugleich wirkt und wir hier ein differenziertes, facettenreiches Bild erhalten.
"Es hockt in meiner Brust - dieses Ding. Es ist Angst. Und ich habe sie weggesperrt wie ein gefährliches Wesen, das sie ja auch ist. Denn Angst lässt mich unbedacht handeln. Angst macht mich schwach. Ich würde ja weglaufen, möchte ich dem flatternden Ding in meinem Inneren sagen, wenn ich nur einen Ort wüsste, wohin. Es gibt einen Ort. EsgibtaufderWeltkeinenOrtwoichhinkann."
So kam es wie es kommen musste und ich war trotz des eher langsamen Erzähltempos, den vielen Wiederholungen und einiger Schwächen im Aufbau absolut gebannt von der Geschichte. Kyrie McCauley fesselt uns mit vielen kurzen Szenen, bildhafter Sprache und atmosphärischer Spannung schleichend an die Geschichte. Bevor man es sich versieht, wird man von dem bedrückenden Szenario verschlungen, das sich weniger rasant, eher wie ein zäher aber stetiger Fluss vorwärts bewegt - auf eine unvermeidliche Eskalation zu.
"Was ist das Gewicht eines Worts? Vielleicht wird es in Tinte und Papier gemessen. Vielleicht aber auch daran, wie viel Schmerz es verursacht."
Auch wenn die Geschichte vergleichsweise viele "normale", gewöhnliche Szenen enthält, spürt man von Anfang an, dass etwas in der Luft liegt. Das wird nicht nur durch die ernste Problematik sondern auch durch einen genialen Kunstgriff der Autorin verursacht. Sie hat der realen Handlungsebene auf einer Metaebene eine magische, surreale Komponente hinzugefügt, die vor allem für die grandiose Atmosphäre des Buches sorgt. Zwar war ich teilweise verwirrt, was magische Elemente wie ein böses Haus, das die Spuren von Gewalt tilgt und die Schuld zusammen mit Glassplittern und Putzbröckchen verschwinden lässt, sodass außer verletzten Gefühlen keine Hinweise mehr zurückbleiben, in dieser Geschichte verloren haben. Die teilweise merkwürdigen Ereignisse, die das Haus wie eine Art verfluchtes Paralleluniversum erscheinen lassen, passen aber wirklich gut zur Thematik und tragen auch maßgeblich zur Darstellung und Pointierung des Konflikts bei.
"Die meisten Spukhäuser werden von Toten heimgesucht, nicht von Lebenden. Außer dieses. Dieses ist von uns allen besessen, sogar wenn wir nicht da sind. Als wenn es kleine Teile von uns nimmt und sie in seinem Fundament, seinen Nägeln und seinem Holz ablegt, da wo es nachgibt.
Lauf. Ich bleibe auf der Treppe stehen.
Lauf weg, schreit etwas tief in meinem Inneren."
Die sich langsam aufbauenden atmosphärische Spannung der Geschichte geht einher mit dem wachsenden Krähenbestand in Auburn. Waren es zu Beginn noch gerade mal 212 Krähen, sind es gegen Ende fast 100 000 der schwarzen Vögel, die die Bäume, Straßen und Häuser der Kleinstadt besetzen. Was der Ornithologe, den Leighton für ihre Zeitungskolumne kontaktiert für ein spannendes Zugphänomen hält und die Stadtbewohner als Bedrohung wahrnehmen, empfindet Leighton als alles andere als beunruhigend. Wie sollte sie auch vor ein paar Krähen Angst haben, wenn sie Nacht für Nacht mit ihren Schwestern im alten Schrank ihrer Großmutter ausharrt und zittern darauf wartet, dass die Schreie von unten aufhören. Nein, sie fühlt sich eher beschützt von tausenden Augenpaaren, die endlich hinsehen, von schwarzen Flügeln, die tröstlichen Schatten werfen, von klugen Köpfen, die ihr immer wieder kleine Geschenke bringen. Die Autorin setzt die Krähen auf Hitchcock-Weise als Stilmittel um eine düstere, unheilschwangere Stimmung zu schaffen, ein, gibt dem Schwarm aber auch eine weitere Bedeutung: Hoffnung. Denn Krähen können nicht nur für Tod sondern auch für Veränderung oder Neuanfang stehen - und den hat die Familie definitiv notwendig.
Wie genau die Lösung für das verzwickte, komplizierte Problem aussehen soll, ist natürlich nicht klar und es würde dem Thema auch nicht gerecht werden, einen einfachen Ausweg anzubieten. Wie die Lösung der Autorin aussieht, was dann am Ende passiert, will ich natürlich nicht verraten. Nur so viel: es schnell, überstürzt und anders als man denkt - dennoch hat Kyrie McCauley das perfekte Ende gefunden!
"In Auburn geboren. Stolz auf Auburn.
Hier ist, was ich über Stolz weiß. Ich weiß, dass er die Geheimnisse grausamer Männer bewahrt. Ich weiß, dass er uns im Schatten hält, weil wir zu stolz sind zuzugeben, dass wir Hilfe brauchen. Ich weiß, dass Stolz den Ruf eines Mannes über das leben einer Frau stellt. Stolz nennt Frauen egoistisch, wenn sie den Mund aufmachen, selbst wenn sie die Wahrheit sagen. Gerade dann.
Und hier ist, was ich über Auburn weiß. Ich weiß von panischem Klopfen nachts an Türen, das ignoriert wird. Ich weiß von Männern, die wegschauen, wenn ihr Freund das Problem ist. Denn Auburn ist eine Stadt, in der Menschen nur sehen, was sie sehen wollen. (...)
Es sind nicht die Krähen, die Auburn hässlich machen."
Fazit:
Eine spannende Survival-Story, die gleichzeitig auch ein hoffnungsvoller Coming-of-Age-Roman, ein schonungslose Gesellschaftskritik und ein düsterer Fantasy-Thriller ist. Kyrie McCauley zeichnet feinfühlig aber schonungslos das Bild einer Familie zwischen Hass und Liebe, Wut und Vergebung, Erniedrigung und Stärke, Hoffnung und Angst, welches aufrüttelt und tief berührt.
You Are Not Safe Here erzählt von häuslicher Gewalt. Von einem Vater, der seine Familie liebt wie er Liebe von seinem Vater erlernt hat. Von seiner Familie, die ihn liebt. Und deshalb Stillschweigen bewahrt ...
You Are Not Safe Here erzählt von häuslicher Gewalt. Von einem Vater, der seine Familie liebt wie er Liebe von seinem Vater erlernt hat. Von seiner Familie, die ihn liebt. Und deshalb Stillschweigen bewahrt über die Momente, in denen er die Fassung verliert. In denen er seine Frau und Kinder psychischem und physischem Terror aussetzt. Erzählt wird die Geschichte aus Sicht von Leighton, seiner ältesten Tochter, die sich gegenüber ihren jüngeren Schwestern verpflichtet fühlt. Sonst hätte sie vermutlich schon längst das Weite gesucht.
Zu dem Zeitpunkt, an dem die Geschichte beginnt, lassen sich mehr und mehr Krähen in Auburn nieder. Die Einwohner der Stadt sind verzweifelt und fühlen sich von den Tieren bedroht. Alle außer Leighton und ihre Schwestern, die wissen, dass die wahre Gefahr ganz woanders lauert.
Die Autorin bringt einem die Situation nahe und erklärt sehr anschaulich, dass ebenjene Gefahr nicht bloß von dem Täter selbst ausgeht, sondern von allen geschürt wird, die wegsehen. Allen Nachbarn, Freunden, entfernten Bekannten, die merken, dass etwas nicht stimmt und dennoch nicht nachhorchen. Sie zeigt, dass diese Gewalt über Generationen hinweg praktiziert wurde und dass sie von Individuum zu Individuum als unterschiedlich gefährlich eingestuft wird. Die Älteren halten sie offenbar für normal. Die Opfer suchen nach Entschuldigungen und geben sich selbst die Schuld für die Gewalt, die ihnen widerfährt. Ein Teufelskreis, aus dem die Familie nicht entkommen kann bis es völlig eskaliert oder einer spricht.
McCauley schafft den perfekten und typischen Kleinstadtflair. Jeder kennt jeden. Es wird geredet. Aber jeder kümmert sich nur um seine eigenen Angelegenheiten. „Mind your own business!“ Das habe ich in meiner Zeit in den Staaten oft gehört und ich fühlte mich durch die Geschichte wie zurückversetzt. Nicht nur Leighton und ihre Familie leiden unter der Gleichgültigkeit der Freunde und Nachbarn. Auch Liam, ein Freund von Leighton, und einer der sehr wenigen Schwarzen in Auburn hat mit dem allgemeinen Konservativismus zu kämpfen.
Besonders schön fand ich, wie die Entwicklung von Identität thematisiert wird. Die Protagonisten müssen ihre finden zwischen den Erwartungen, die an sie gestellt werden und den eigenen Vorstellungen von ihrer Zukunft. Leighton und Liam finden beide ihren Platz in der Welt durch einen Raum, den sie selbst erschaffen: Leightons großes Ziel ist es, Journalistin zu werden, um den Menschen, die Lügen verdecken und permanent wegschauen, endlich die Wahrheit aufzutischen. Ihr Talent mit Worten umzugehen, gibt ihr eine Stimme, die nicht überhört werden kann.
Liam findet sich selbst in seiner Kunst. Durch seine Kunst verleiht er seinen Gefühlen Ausdruck und gibt anderen transkulturell aufwachsenden Kindern und Jugendlichen etwas, woran sie sich festhalten können – ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, ein „du bist nicht allein.“
Nun zu den weniger gelungenen Punkten:
Die Krähen hielt ich zunächst für eine Metapher oder ein stilistisches Mittel, um eine noch düsterere Atmosphäre zu schaffen und den Horror zu unterstreichen, den Leighton und ihre Familie durchleben. Absolut unnötig, da die Thematik an sich schon schockierend genug ist. Im weiteren Verlauf beschreibt die Autorin die Vögel als „Symbol für Verönderung. Neubeginn. Als großes Erwachen. Eine Auflösung des Status quo.“~S. 276. Ein tröstlicher und literarisch gut durchdachter Gedanke.
Gegen Ende des Buches nehmen sie aber eine sehr viel zentralere Rolle ein, die das Buch für mich ein wenig ruinierte. Das Ende ist sehr abstrus und ich fühlte mich gelegentlich, als spulte ein Horrorfilm in meinem Kopf ab.
Außerdem störte mich, dass die Autorin den Eindruck vermittelte, dass immer nur Männer die „Bösen“ seien. So gehört der folgende Satz zu meinen liebsten Textstellen:
„Doch ich frage mich langsam, wie viele Männer zwei Gesichter haben. Eines für im Haus und eines für draußen.“~S. 81
Ich wünschte nur, McCauley hätte statt Männer „Menschen“ geschrieben, denn es gibt auch Frauen, die ihrer Familie Gewalt antun.
Deshalb kann ich „nur“ 4 Sterne vergeben.
Trotzdem möchte ich allen nahelegen, sich ein wenig mit der Thematik zu beschäftigen, da häusliche Gewalt in vielen deutschen Haushalten brutale Realität ist. Seid aufmerksam, hört zu, lest zwischen den Zeilen und bietet eure Hilfe, wenn sie gebraucht wird.
Meine liebsten Textstellen (Spoiler):
„Ich weiß, warum in Horrorfilmen Leute Türen öffnen und in verdunkelten Kellern nachschauen. Warum sie das Monster suchen. Sie tun es, weil manchmal nichts mehr wehtut als die Vorahnung.“~S. 47
„Worauf würde sich seine Wut richten, wenn es niemanden gäbe, der sie bezeugt?“~S. 52
„Doch ich frage mich langsam, wie viele [Menschen] zwei Gesichter haben. Eines für im Haus und eines für draußen.“~S. 81
„Rote und blaue Lichter blitzen über die abgenutzte, früher mal weiße Verkleidung des Hauses. Rot, blau und grau.
Eine andere Art von amerikanischem Traum.“~S. 341