Die neunzehnjährige Liza hat eine merkwürdige Gabe: Sie kann in den Schatten anderer Menschen deren Zukunft sehen. Außerdem hat sie außergewöhnlich starke Kontrolle über ihre Träume, was sich, wie sie feststellen muss, auf die gesamte Traumwelt auswirkt. Als sie zu einem Auslandssemester in Russland aufbricht, kann sie ihre Gabe natürlich nicht zu Hause lassen und so trifft sie in Sankt Petersburg schon bald auf allerlei seltsame Gestalten, die alle irgendwas von ihr wollen. Liza hat keine Ahnung, wem sie vertrauen soll und wie sie ihre Gabe zu kontrollieren lernen kann. Eigentlich wäre es ihr auch lieber, sich nur auf den gutaussehenden Nachbarsjungen konzentrieren zu können! Aber leider sieht sie auch in seinem Schatten eine Gefahr, die unabwendbar scheint.
Was für ein schönes Buch! Das von Marie Graßhoff gestaltete Cover lädt zum ausgiebigen Betrachten ein, auch im Innern des Buchs sind alle Seiten und die Kapitelüberschriften schmuckvoll verziert. Da lohnt es sich, die Print-Ausgabe zu wählen. Ich bin keine „Coverkäuferin“, aber hier hat das Cover zumindest viel dazu beigetragen, mein Interesse zu wecken!
Aber was noch wichtiger ist: Inhaltlich ist der Roman mindestens genauso schön! Ich war eigentlich der Ansicht, dass Jugendbücher nicht mehr so ganz mein Fall sind, aber „Die Schattenflüsterin“ beweist mir das Gegenteil.
Die liebevoll ausgearbeitete Protagonistin Liza findet schnell meine Sympathie und es fällt mir leicht, ihren Gedankengängen und Entscheidungen zu folgen. Obwohl sie noch so jung ist, kann ich mich gut in sie hineinversetzen, denn sie ist eine fröhliche, humorvolle und ein wenig verrückte Person. Auch die anderen Figuren finde ich ansprechend, vor allem scheinen alle irgendwelche Geheimnisse zu haben, was das Lesen durchweg spannend macht. Einzig Lizas „Gastschwester“ finde ich ziemlich anstrengend und auf eher unangenehme Art durchgeknallt. Manchmal, finde ich, stößt sie an die Grenzen ihrer Glaubwürdigkeit.
Erzählt wird hauptsächlich aus Lizas Perspektive in der Ich-Erzähler-Form. Mir gefällt diese Erzählform generell und in Verbindung mit der sympathischen Protagonistin fällt es mir entsprechend leicht in das Buch einzusteigen und bis zum Ende mein Interesse an Lizas Schicksal zu bewahren. Einzelne Kapitel, die sich um ein geheimnisvolles, finsteres Wesen drehen, werden in der dritten Person erzählt, was einen schönen Kontrast bildet, den Lesefluss aber nicht unterbricht.
Die Geschichte hat einen starken Bezug zur slawischen Mythologie, was ich sehr interessant finde, da ich davon bisher rein gar nichts wusste. Ebenso wenig übrigens wie von Sankt Petersburg und offen gestanden Russland generell. So ist der Roman für mich eine herrliche Exkursion in eine mir fremde Kultur. Dabei zeigt die Autorin nicht nur die schönen Seiten und Touristenattraktionen (obwohl auch die nicht zu kurz kommen), sondern lässt den Leser auch die Schattenseiten hinter den Fassaden sehen. Hier fällt deutlich auf, dass sie sich auskennt und genau weiß, wovon sie schreibt. So kommt dem Buch neben der guten Unterhaltung auch ein nicht zu unterschätzender Bildungsaspekt zugute ;)
Der Handlungsverlauf ist sehr spannend, oft kann man als Leser, genau wie Liza, Gute und Böse nicht unterscheiden und fühlt ihr Dilemma. Es gibt einige unerwartete Wendungen und immer mal wieder gut platzierte entschleunigende Szenen z.B. aus Lizas Schulalltag. Des Ende konnte mich angenehm überraschen! Ich hatte zwar eine ungefähre Vorstellung über gewisse Sachverhalte, mit denen ich auch teilweise richtig lag, aber trotzdem hatte die „Auflösung“ noch mehr zu bieten als ich erwartet hatte.
Olga A. Krouk hat einen wunderbar humorvollen Schreibstil, der besonders in den von Liza dominierten Szenen deutlich wird. Ich musste ganz oft schmunzeln und teils laut lachen! Düstere Geschehnisse beschreibt sie jedoch ebenso geschickt wie anschaulich, so dass man innerhalb weniger Sätze eine großartige Gefühlsachterbahn erleben kann.
Und a propos Gefühle: Ein paar romantische Stellen hat das Buch natürlich auch zu bieten, die ich (als Romance-Skeptikerin) sehr schön und ansprechend finde. Sie wirken realistisch und kitschfrei und die verliebten Teenager sind einfach nur süß und liebenswert!
Insgesamt gefällt mir „Die Schattenflüsterin“ außerordentlich gut. Auch als Erwachsene wurde ich gut unterhalten und hatte viel Freude an der spannenden Story!