Eine schillernde Familie in Barcelona
Auf Care Santos bin ich durch das wundervolle Buch „Als das Leben vor uns lag“ aufmerksam geworden. Auch in „Die Geister schweigen“ beweist sie ihren angenehmen Schreibstil, ihr flüssiges Erzähltalent. ...
Auf Care Santos bin ich durch das wundervolle Buch „Als das Leben vor uns lag“ aufmerksam geworden. Auch in „Die Geister schweigen“ beweist sie ihren angenehmen Schreibstil, ihr flüssiges Erzähltalent.
Care Santos führt uns hier durch mehrere Jahrzehnte in der Geschichte von Barcelona und der fiktiven Familie Lax. Am Ende der 1880er lernen wir die feudale Welt des spanischen Großbürgertums kennen, die nach dem Ersten Weltkrieg ein wenig bröckelt und vom Spanischen Bürgerkrieg brutal zerstört wird. Ebenso wie die Familie begleitet uns ihr Stadtpalais in Barcelona durch die Geschichte, wird uns immer vertrauter.
Die Geschichte wird auf ständig wechselnden Zeitebenen erzählt – wir beginnen im Jahr 1932, springen im nächsten Kapitel ins Jahr 1889, sind in einem weiteren Kapitel kurz in den 1920er Jahren und so geht es weiter. Es ist wie bei einem Familienalbum, in dem auf Zufall verschiedene Seiten aufgeschlagen werden. Diese Zeitsprünge gelingen Care Santos hervorragend. Es ist nie verwirrend, es webt sich alles ins Gesamtgeschehen. Ein Leitmotiv des Buches sind Gemälde und so kann man die Erzählweise auch sehen: es wird immer ein kleines Stück des Gemäldes ausgemalt, auf wechselnden Stellen der Leinwand, und irgendwann ist das Bild komplett. Eine Zeitleiste und ein Stammbaum vorne im Buch helfen ein wenig bei der Gesamtzuordnung der Geschehnisse, aber ich habe diese kaum gebraucht. Es hat Spaß gemacht, sich der Familie Lax auf diese Weise zu nähern, durch die Jahrzehnte zu springen und ich war immer gespannt, welchem Jahr, welchen Personen wir uns im nächsten Kapitel widmen würden. Briefe, Zeitungsartikel und Bildbeschreibungen aus Ausstellungsstücken runden die Geschichte ab, liefern auch manchmal nützliche historische Informationen.
Leider gibt es auch eine durchaus gravierende Schwäche des Buches: in einer Art Rahmenhandlung kehrt Violeta, vierte Generation der Lax, im Jahre 2010 aus den USA nach Barcelona zurück. Während es zu Anfang noch eine neue Perspektive hineinbringt, das Stadtpalais nun in der Gegenwart zu sehen, sind Violetas Kapitel quälend langweilig. Nach den farbigen zwei ersten Generationen der Familie scheint nicht so viel Persönlichkeit übrig geblieben zu sein. Violetas Vater Modesto kommt nur am Rande vor und interessiert schon nicht sonderlich, aber Violeta ist völlig farblos. Ihre Geschichte erfahren wir hauptsächlich durch zähe Emails, die sie schreibt und erhält, und nach der Intensität der Geschichte zwischen 1889 und 1940, den schillernden vielseitigen Charakteren, ist Violetas persönliches Leben dröge und hält die Geschichte eher auf. Auch die „Geheimnisse“, die sie entdeckt, wurden durch den eigentlichen Roman schon hinreichend (und besser) dargestellt. Man hätte den gesamten 2010-Teil streichen können und das Buch hätte meines Erachtens dadurch erheblich gewonnen und volle fünf Sterne bekommen.
Der Klappentext fängt den wesentlichen Charakter des Buches meiner Meinung nach nicht gut ein. „Was ist mit den Frauen ihrer Familie geschehen?“ wird da gefragt und dunkelste Geheimnisse angedeutet. Um „vier Generationen von Frauen“ soll es gehen. Es gibt genau ein Familiengeheimnis, das sich schnell abzeichnet und das für mich gar nicht der Höhepunkt des Buches war. Ansonsten ist den Frauen der Familie nicht „geschehen“. Und es geht nicht um „vier Generationen von Frauen“, es geht um vier Generationen einer Familie, beziehungsweise in der Essenz um zwei Generationen einer Familie, die eine ganze Reihe faszinierender Persönlichkeiten aufweisen – Frauen und Männer.
Wenn man die überflüssigen 2010-Episoden wegläßt, kann man zum Buch sagen: Die Verwebung der Familie mit der Geschichte Barcelonas ist gut gelungen (wenn auch an manchen Stellen einige historische Details etwas zu krampfhaft hineingenommen wurden und dadurch vereinzelte Szenen langatmig wurden, die Geschichte aufhielten). Man erfährt so viel Interessantes über das Leben der Oberschicht wie auch der Dienstboten, ist sowohl beim sich allmähliche ändernden Alltag wie auch bei den dramatischen geschichtlichen Entwicklungen direkt dabei. Die Familienbeziehungen sind wundervoll dargestellt und vielschichtig. Eine facettenreiche farbenfrohe Familiensaga mit gelungen ungewöhnlicher Erzählweise. Die Charaktere und auch das Haus haben mich berührt, ich habe viel über Barcelona in diesen Jahrzehnten erfahren und Care Santos Schreibstil wieder einmal sehr genossen.