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Veröffentlicht am 26.02.2020

Peter Zantingh - Nach Mattias

Nach Mattias
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Mattias ist nicht mehr da. So selbstverständlich er früher Teil ihres Lebens war, müssen sie nun die Lücke füllen, die er hinterlässt. Wer war er? Was macht der Verlust mit jenen, die jetzt ohne ihn weiterleben ...

Mattias ist nicht mehr da. So selbstverständlich er früher Teil ihres Lebens war, müssen sie nun die Lücke füllen, die er hinterlässt. Wer war er? Was macht der Verlust mit jenen, die jetzt ohne ihn weiterleben müssen? Seine Freundin, die das Fahrrad in Empfang nehmen muss, das er noch bestellt hatte; die Großeltern, die sich nichts mehr zu sagen haben und so die Trauer auch nicht zum Ausdruck bringen können; der Freund, der langsam erblindet und mit dem er noch Pläne für ein gemeinsames Café hatte; die Mutter, die gar nicht begreifen kann, was da geschehen ist. Immer mehr Figuren kommen in ihrer Trauer und Wut zu Wort, um das zum Ausdruck zu bringen, was in ihnen los ist und ihre ganz persönliche Verbindung zu Mattias zu schildern, jetzt, wo er kein Teil ihres Lebens mehr ist.

Es gibt viele Bücher, in denen der Tod und Verlust eines geliebten Menschen im Fokus steht. Peter Zantingh hat einen ganz eigenen Weg gefunden, das Thema umzusetzen. Es ist omnipräsent ohne jedoch ausschließlich zu dominieren, der Autor erfasst genau das, was mit jenen passiert, deren Leben weitergeht und nicht einfach stehenbleibt, um dieses Ereignis zu begreifen und verarbeiten. Die Welt dreht sich weiter, sie müssen den Alltag bewältigen, teils banale Dinge tun und können nicht einfach stehenbleiben und innehalten. Dieser neue Gedanke ebenso wie das Nichts, das jetzt den Platz von Mattias eingenommen hat, sind auch da, drängen Mal nach vorne, halten sich mal im Hintergrund, sind aber nun Bestandteil ihrer alltäglichen Realität.

Es gibt Fragen im Leben, auf die es keine Antworten gibt. Warum ist etwas geschehen, warum hat es gerade ihn oder sie getroffen, wie soll es jetzt weitergehen? Sie haben entweder keine Antwort oder ganz viele, da jeder eine eigene für sich selbst finden muss. Genau das müssen Peter Zantinghs Figuren auch. So verschieden ihre Beziehung zu Mattias war, so verschieden sind auch ihre Wege mit der Trauer umzugehen und die Emotionen, die der Verlust mit sich bringt. Sie alle haben Erinnerungen, aber diese könnten unterschiedlicher kaum sein.

„Beim Saubermachen stieß ich ein Buch, in dem er gelesen hatte, von der Fensterbank. Auf dem Fußboden fiel das Lesezeichen heraus. Darüber habe ich eine Stunde lang geheult. Weil ich nun nicht mehr wusste, auf welcher Seite er gewesen war.“

Was vielleicht unter der Last des Kummers zu erdrücken droht, gelingt Zantingh auf eine Weise einzufangen, die einem mitfühlen lässt, aber nicht beklemmt. Gerade diese kleinen Momente, die einem in so einer Ausnahmesituation verzweifeln lassen, beschreibt er und bringt so etwas Urmenschliches hervor, das man gut nachvollziehen kann und doch bisweilen als Außenstehender womöglich leicht einmal abtut.

Die vielen Gesichter der Trauer werden feinsinnig und sensibel geschildert und irgendwie bleibt doch der Gedanke, dass es weitergeht, das mit dem Tod nicht alles aufhört, denn Mattias leben weiter in ihren Gedanken und Erinnerungen.

Veröffentlicht am 26.02.2020

Sasha Filipenko - Rote Kreuze

Rote Kreuze
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Alexander ist noch gar nicht in seine neue Minsker Wohnung eingezogen, als er auch schon die Bekanntschaft mit der scheinbar exzentrischen Nachbarin Tatjana Alexejewna macht, vor der ihn die Maklerin gewarnt ...

Alexander ist noch gar nicht in seine neue Minsker Wohnung eingezogen, als er auch schon die Bekanntschaft mit der scheinbar exzentrischen Nachbarin Tatjana Alexejewna macht, vor der ihn die Maklerin gewarnt hat. Eigentlich möchte er nicht auf einen Plausch zu ihr kommen, doch dann fesselt ihn die Lebensgeschichte der 91-Jährigen, die an Alzheimer erkrankt ist und oftmals heute schon vergessen hat, was gestern geschehen ist. An ihre Vergangenheit kann sie sich jedoch sehr gut erinnern. Den Zweiten Weltkrieg, ihre Arbeit im Außenministerium, ihren vermissten Mann Ljoscha und die Tochter Assja, die man ihr entrissen hat, als man sie wegen Volksverrat ins Lager schickte. Ein bewegtes Leben hat sie hinter sich, das exemplarisch für viele in der ehemaligen Sowjetunion steht. Mit dem Erzählen ihrer eigenen Geschichte, bewahrt sie diese nicht nur vor dem eigenen Vergessen, das der Krankheit geschuldet ist, sondern auch vor dem kollektiven Verdrängen der Straftaten, die die Kommunisten hinter dem Eisernen Vorhang über viele Jahre verübten.

„Rote Kreuze“ ist der erste Roman des weißrussischen Autors Sasha Filipenko, der ins Deutsche übersetzt wurde. Der Journalist und Drehbuchautor sagt im Nachwort zu seinem Roman, dass für ihn ein guter Roman nicht nur eine Geschichte erzählen soll, sondern Geschichte haben muss. Die Recherche um die Gräuel des Stalin-Regimes setzt er literarisch um und schafft es, auf nicht einmal 300 Seiten ein wichtiges Kapitel der russischen Geschichte wieder ins Bewusstsein zu rufen und den Opfern mit Tatjana Alexejewna eine Stimme zu verleihen.

Trotz ihrer Geburt in London und zahlreicher Reisen in Westeuropa, wird Tatjana Alexejewna schnell eine Anhängerin des Kommunismus als sie nach Moskau übersiedelt. Rückblickend fällt es ihr schwer nachzuvollziehen, wie sie so lange die Augen vor den untrüglichen Anzeichen des sich nähernden Krieges verschließen konnte. Sie dient ihrem Land und wird doch als Verräterin hart bestraft. Nicht die Prügel und die Entbehrungen des Straflagers sind es jedoch, die ihr zusetzen, sondern die Ungewissheit darüber, was mit ihrem Mann und ihrer Tochter geschah und vor allem das schlechte Gewissen wegen einer Kleinigkeit, einem minimalen Betrug, von dem sie hoffte, dass sie so dem Schicksal ein Schnippchen würde schlagen können. Am Ende ihres Lebens angekommen, kann sie nichts mehr beängstigen, nicht einmal mehr Gott, sollte es ihn denn geben:

„Jetzt denkt sich Gott, dieser von mir erdachte Gott, für mich Alzheimer aus, weil er Angst hat! Er hat Angst mir in die Augen zu schauen! Er will, dass ich alles vergesse.“

Vergessen und Erinnern sind die zentralen Themen des Romans. Nicht nur die alte Dame, sondern auch der junge Nachbar kann und will vor der Erinnerung nicht davonlaufen. Alexanders Los ist zwar gänzlich anders gelagert, aber auch er hadert mit unabwendbaren Entscheidungen einer übermenschlichen Macht, denen er jedoch alles Menschenmögliche entgegensetzt.

Neben der historischen Relevanz des Themas begeisterte mich Filipenko mit unzähligen wundervollen, treffsicheren Formulierungen, die das Lesen zu einem Fest machen. Auch vermeintliche Nebensächlichkeiten wie die wiederholten Verbindungen von Handlung mit Musik - wie etwa Tschaikowskys 5. Symphonie, die nach Tatjana Alexejewnas Empfinden die ganze Dramatik der russischen Geschichte widerspiegelt – man mag sich die Stücke sofort anhören, um noch mehr in die Handlung einzutauchen als man das ohnehin schon tut.

Ein Roman, bei dem einfach alles stimmt – schon jetzt eins der Highlights 2020.

Veröffentlicht am 24.02.2020

Nava Ebrahimi – Das Paradies meines Nachbarn

Das Paradies meines Nachbarn
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Der Produktdesigner Sina Koshbin befindet sich gerade etwas in der Sinnkrise als er einen neuen Chef bekommt: Ali Najjar, Star der Szene und wie er mit iranischen Wurzeln. Bei Sina beschränken diese sich ...

Der Produktdesigner Sina Koshbin befindet sich gerade etwas in der Sinnkrise als er einen neuen Chef bekommt: Ali Najjar, Star der Szene und wie er mit iranischen Wurzeln. Bei Sina beschränken diese sich jedoch auf seinen Erzeuger, dessen Name und Aussehen er geerbt hat, er beherrscht weder die Sprache noch kennt er das Land. Trotzdem verbindet die beiden das Anderssein und als Ali ihn bittet, mit ihm nach Dubai zu reisen, um dort etwas Wichtiges zu erledigen, begleitet er ihn ohne zu wissen, worauf er sich einlässt. Alis Stiefbruder hat ihn dorthin gebeten, denn er muss ihm von der verstorbenen Mutter einen Brief übergeben und es war ihr Wunsch, dass er dies persönlich tut. Warum Ali den Mann nicht treffen will, kann Sina zunächst nicht nachvollziehen, er soll an seiner Stelle zu dem Treffen gehen und den Brief in Empfang nehmen. Die Begegnung rückt bei Sina nicht nur das Bild des exzentrischen Designers zurecht, sondern lässt auch ihn selbst nicht unberührt.

Wie auch in ihrem Debütroman „Sechzehn Wörter“ führt die Journalistin Nava Ebrahimi in „Das Paradies meines Nachbarn“ alte und neue Heimat zusammen. Sie gehört zur Riege der deutschsprachigen Autoren mit Migrationshintergrund, die über die Literatur ihre biografischen Erfahrungen zugänglich machen und sich in ihren Werken zwischen beiden Ländern bewegen und damit die thematische Bandbreite deutlich ausweiten. Die Herkunft ist das scheinbar verbindende Element der beiden Protagonisten, bald wird jedoch klar, dass dies nur äußerlich der Fall ist und dass die Frage nach Identität, geworden oder geschaffen, sich ganz anders bestimmt.

Sina wie auch Ali sind komplexe Charaktere, was sich erst im Laufe der Handlung offenbart. Sina erscheint zunächst recht typisch frustriert in der Midlife-Crisis, bei der Beförderung übergangen, kennt seine künstlerischen Grenzen und die Luft ist aus seiner Beziehung mit Katharina ebenfalls raus. Durch die Konfrontation mit Ali, der in ihm zunächst auch vorrangig den Iraner erkennt, wird die Frage aufgerissen, wie er sich selbst definiert. Aufgewachsen In Deutschland bei einer deutschen Mutter hat er sich nie als Ausländer begriffen, wird aber immer wieder wegen seines Aussehens und Namens dazu gemacht. Der Kontakt zum Vater ist spärlich, er weiß weder, wo dieser sich aktuell aufhält, noch womit er eigentlich sein Geld verdient. Wie viel kann so ein Mann ihm mitgegeben haben bei der Herausbildung seiner Persönlichkeit?

Bei Ali ist die Herkunft klarer, als Geflüchteter konnte er jedoch eine neue Legende über sich selbst schaffen, angepasst an das, was man gerne von ihm hören wollte, so oft wiederholt, dass er es selbst irgendwann glaubte.

„Ich habe keine andere Wahl, wenn ich kein Opfer sein will.“

Seine Rolle hat ihn hart zu sich und zu anderen werden lassen. Angriff als Verteidigungsmethode hat sich im Laufe der Jahre als erfolgreich herausgestellt und so begegnet er den Menschen aggressiv, um seinen Platz zu behaupten, aber auch, um sie nicht zu nah an sich heranzulassen, denn er weiß, dass er dann Gefahr läuft, dass sie hinter die Fassade blicken können, hinter der er seine Vergangenheit gut verpackt in schöne Geschichten versteckt hält. Nun scheint der Tag gekommen, sich dem zu stellen, was vor seiner Flucht gewesen ist. Und der Schuld, die er in sich trägt. Hier kommt eine dritte Figur ins Spiel, die die Handlung in Gang setzt, deren Rolle jedoch lange unklar bleibt, sich dann aber mit einem lauten Knall zeigt, der den gefeierten Designer nochmals in anderem Licht erscheinen lässt.

Die Autorin überlässt es dem Leser, eine Antwort auf die Frage nach der Verantwortung für das Leben eines anderen zu finden, eine Beurteilung von Ali Najjars Schuld vorzunehmen, die er noch als Kind unbedacht und unwillentlich auf sich geladen hat, diesen Flügelschlag eines Schmetterlings, der jedoch für einen anderen lebensbestimmend werden sollte. Unerwartet wird man so essentiellen Fragen ausgesetzt, auf die es keine schnellen und keine einfachen Antworten geben kann. Großartig erzählt mit einem starken Ende, das einem nachdenklich zurücklässt.

Veröffentlicht am 20.02.2020

Feuerland

Feuerland
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Nur noch die eine Entführung, dann wird Nicolas mit seiner Schwester endlich aus Stockholm verschwinden. Ivan ist ein zuverlässiger Partner, es kann nichts schiefgehen, denn wie beim letzten Mal ist alles ...

Nur noch die eine Entführung, dann wird Nicolas mit seiner Schwester endlich aus Stockholm verschwinden. Ivan ist ein zuverlässiger Partner, es kann nichts schiefgehen, denn wie beim letzten Mal ist alles minutiös geplant. Doch dann laufen die Dinge anders, denn die Legion, eine der berüchtigtsten Banden Schwedens, hat einen Auftrag für Nicolas: er soll zehn Straßenkinder entführen. Nicolas hat nach seinen Jahren bei einer Eliteeinheit des Militärs kein Interesse an krummen Geschäften, die Entführungen sind so geplant, dass niemand zu Schaden kommt und die Lösegeldforderungen bleiben moderat. Kommissarin Vanessa Frank wartet derweil darauf endlich wieder in den Dienst zurückkehren zu dürfen, aber nur weil sie suspendiert ist, heißt das ja nicht, dass das Verbrechen pausiert und prompt gerät sie zwischen die Fronten.

Der schwedische Journalist Pascal Engman konnte mich im letzten Jahr mit seinem Debüt „Der Patriot“ bereits von seinem schriftstellerischen Können überzeugen, sein zweiter Thriller „Feuerland“ steht dem in nichts nach. Verschiedene Handlungsstränge werden geschickt miteinander verwoben, politisch brisante Themen dabei aufgegriffen und die Handlung von interessanten Figuren getragen. Tempo und Spannung sind hoch, so dass keine Wünsche offenbleiben.

Der Roman bietet viele beachtenswerte Einzelaspekte, die es verdient hätten, ausführlich besprochen zu werden, was aber den Rahmen einer Rezension bei weitem sprengen würde. Die politischen Themen - Korruption innerhalb der Ermittlungsbehörden, kaum einzudämmende Bandenkriminalität, europäischer Kolonialismus in Südamerika, globaler Organ- und Menschenhandel, geheime Interventionen von Spezialeinheiten, die nie an die Öffentlichkeit geraten - finden ihren Platz in der Handlung, ohne diese zu stark zu dominieren und mit ihrer Brisanz zu erdrücken. Engman gelingt es die dahinterliegenden Mechanismen aufzuzeigen und lädt so den Leser zum Nachdenken und Hinterfragen ein.

Im Vordergrund stehen sich zwei scheinbar gegensätzliche Protagonisten gegenüber, die jedoch beide nicht in das vorgezeichnete Schema passen wollen. Vanessa ist nicht die rechtschaffene Polizistin, die gesetzestreu agiert und Vorschriften befolgt. Nicolas ist ein Verbrecher mit Ehrenkodex und festen Regeln, die von einem erstaunlichen Humanismus geprägt sind. Beide werden sie herausgefordert und ihre Ansichten infrage gestellt.

Zwar war mir das Ende etwas zu dick aufgetragen, aber das tut dem Gesamteindruck keinen Abbruch. Von dem ungleichen Paar Vanessa und Nicolas würde ich gerne noch mehr lesen.

Veröffentlicht am 14.02.2020

Christian Baron - Ein Mann seiner Klasse

Ein Mann seiner Klasse
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Kann man dem scheinbar unvermeidlichen Schicksal ein Schnippchen schlagen und sich auf einen anderen Weg machen als den, der vorgezeichnet scheint? Christian Baron berichtet von seiner Kindheit in Kaiserslautern, ...

Kann man dem scheinbar unvermeidlichen Schicksal ein Schnippchen schlagen und sich auf einen anderen Weg machen als den, der vorgezeichnet scheint? Christian Baron berichtet von seiner Kindheit in Kaiserslautern, wo er mit seinem älteren Bruder und den beiden jüngeren Schwestern aufwuchs. Sie wohnten nicht im allerschlechtesten Stadtteil, zumindest die Adresse verriet nicht, was die Kinder zu Hause erlebten. Der Vater war entweder besoffenen oder gerade dabei, die Mutter zu prügeln, die dann auch früh schon an Krebs verstarb. Mit dem Einkommen als Möbelpacker waren die sechs Mäuler kaum zu stopfen und schon gar nicht, wenn sein Vater gerade mal wieder rausgeflogen war, weil seine Diebstähle aufgeflogen waren. Der Mann vom Jugendamt, der das Sorgerecht nach dem Tod der Mutter und dem Verschwinden des Vaters innehatte, war sich jedenfalls sicher: aus diesen Kindern kann nichts anderes werden als eine weitere Generation asoziale Sozialhilfeempfänger.

„Andere hätten ihre ganze Kindheit über gehofft, er würde verschwinden, dieser trinkende und prügelnde Vater. In meinem Fall war es anders. Mochte er auch gesoffen und geprügelt haben, ich wollte immer, dass er bleibt.“

Christian Baron verdeutlicht in seinem Bericht die Absurdität, die von Außenstehenden nur schwer zu begreifen ist. Obwohl von dem Vater nur wenig Positives kam – das Einkommen hat er in die Kneipe getragen, die Mutter schlug er wegen Nichtigkeiten, die Aufmerksamkeit gegenüber den Kindern war wohldosiert und überschaubar – war er doch der Vater, das Vorbild, an dem sich gerade die beiden Jungs stark orientierten. Sie wollten werden wie er, ein starker Möbelpacker, der sich bei den Kneipenschlägereien durchsetzen und den Rang unter Seinesgleichen behaupten konnte. Und gleichzeitig regierte immer auch die Angst vor seinem Jähzorn, seiner unkontrollierten Gewalt, die sich an der Familie entlud.

Zwar hat er dem Vater auf dem Sterbebett die Absolution verweigert, mit einem gewissen Abstand jedoch kann er ihn nun mit anderen Augen betrachten und ihn als das sehen, was er war: ein Mann seiner Klasse, der nicht nur nicht aus seiner Haut konnte, sondern schlichtweg das weitergelebt hat, was auch er schon als üblichen Lebenswandel vorgelebt bekam. Die Mutter hätte die Chance gehabt, dem Milieu, in das sie geboren wurde, zu entkommen. Eine zu frühe Schwangerschaft und jugendliche Liebesschwüre haben diese jedoch rasch zunichtegemacht.

Trotz all der Widrigkeiten gelingt dem Jungen der soziale und Bildungsaufstieg. Abitur an der Gesamtschule, später das Studium. Als Journalist öffnet er nun die Tür zu einer Welt, die in unserem reichen Land existiert, deren Existenz man jedoch gerne verdrängt. Kinder wachsen in hochprekären Situationen auf, nicht nur Gewalt und mangelnde Fürsorge, auch ganz profaner Hunger sind für sie Alltag. Benny und Christian erfahren erst im Grundschulalter, dass es auch andere Lebensmodelle gibt, die Familienstruktur sich anders gestalten kann. Die Scham bringt sie zum Schweigen und Wegducken, so dass niemand sieht, wie ihr Leben hinter der verschlossenen Wohnungstür ausschaut.

Édouard Louis hat vor einiger Zeit Aufsehen erregt mit seinen autobiografischen Romanen, die eine ähnliche Geschichte erzählen. Auch er wuchs in einem von Gewalt und Alkohol und vor allem einem toxischen Männlichkeitsbild geprägten Umfeld auf und hat dennoch den Sprung ins Bildungsbürgertum geschafft. Wo Louis distanzierter gegenüber seinem Herkunftsmilieu bleibt, versucht sich Baron gerade durch die Sprache wieder die Nähe herzustellen, der er lange zu entfliehen versuchte. Erfahrungen kann man nicht ganz ablegen und so macht Baron etwas Nützliches aus ihnen: einen Tatsachenbericht, der unter die Haut geht und erschreckt.