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Paradise CityLiina lebt in einer „schönen neuen Welt“, in der Krankheiten und Armut überwunden sind und vor allem die Katastrophen längst Geschichte sind, die von unserer Zivilisation zu Beginn des 21. Jahrhunderts ...
Liina lebt in einer „schönen neuen Welt“, in der Krankheiten und Armut überwunden sind und vor allem die Katastrophen längst Geschichte sind, die von unserer Zivilisation zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausgelöst wurden: Pandemien haben ganze Städte entvölkert, der Klimawandel lässt die Küsten versinken und Verbrechen sind fast nicht mehr bekannt und die staatlichen Medien berichten über die Großartigkeit der modernen Welt. der Preis, den jede/r Einzelne dafür bezahlt, ist die Einschränkung der persönlichen Freiheit. Gesundheit und Sicherheit stehen an erster Stelle, die Rechte des Individuums stehen dahinter zurück. Das Individuum etwa wird durch sein Smartcase sowie die Gesundheits-App „KOS“ überwacht. KOS gibt nicht nur Hinweise zum Gesundheitsstatus, sondern auch zur Fitness, Ernährung und Medikamentierung. KOS ist ein von Menschen erdachtes Programm, das für die optimale körperliche Verfassung der Bürger sorgen soll - und das Programm versieht seine Aufgabe nach paternalistischem Algorithmus ohne Kompromisse. Der Staat verfährt ganz ähnlich mit dem „Volkskörper“: Teil des Systems ist, wer produktiv, arbeitsam, gesund und willig ist. Wer sich dagegen sträubt, kann bei den „Parallelen“ leben, nicht aber in den Genuss der Zivilisation neusten Standards in Deutschland gelangen.
Der Roman, der irrtümlich als „Thriller“ gekennzeichnet ist, verwendet sehr viel Zeit auf das Setting, den Kontext und das gesellschaftliche Arrangement, wobei allerdings der Verlust der Nordseeküste, der Untergang Berlins oder die technische Beschaffenheit der Smartcases eigentlich nur Kulisse sind, nicht Handlung. Immerhin ist Adenauers Traum doch noch wahr geworden: Frankfurt wurde Hauptstadt. Die eigentliche Handlung - eine mysteriöse Tote in der Uckermark, die tödlichen Attacken auf Mitarbeiter der letzten unabhängigen Presseagentur „Gallus“, die Zusammenhänge mit dem Programm KOS und deren Entwicklerin Simona Arendt - diese Handlung kommt zwischen der Dystopie-Folklore kaum voran.
Zoe Beck habe das, was derzeit geschehe, nur konsequent weitergedacht und daraus eine Gesundheitsdiktatur konstruiert, erläuterte die Autorin in mehreren Interviews. Dieses Arbeitsprinzip gilt für alle Dystopien - und das macht ihren Reiz und ihre Gegenwartsrelevanz aus. Becks Gedanken mitzudenken, ist deshalb gewinnbringend und erschreckend zugleich: Was passiert, wenn ein Staat oder eine künstliche Intelligenz unbarmherzig alle Abweichungen von der Norm zu korrigieren versucht? Was ist eigentlich „normal“? Wo bleib die individuelle Freiheit, ja: das Individuum in einem solchen System? Schafft sich eine demokratische Gesellschaft womöglich aus Bequemlichkeit selbst ab, weil sie wichtige Entscheidungen lieber einem Algorithmus überlassen möchte? Weil sie irrtümlich annimmt, „Sicherheit“ sei ein „Supergrundrecht“, wie ein Innenminister der Bundesrepublik wirklich schon einmal fantasiert hat?
„Paradise City“ regt zu vielen guten Gedanken an, die sich so oder so ähnlich aber auch in Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“ von 1932, Kazuo Ishiguros „Alles was wir geben mussten“ von 2005 und Juli Zehs „Corpus Delicti“ von 2009 finden. Eigentlich ist es deshalb umso beunruhigender, dass unsere Gesellschaft mit ihrem Gesundheitswahn, der Lust an der einfachen Antwort und der Selbstaufgabe persönlicher Rechte immer noch weiter macht und Becks Roman deshalb so aktuell ist.