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Veröffentlicht am 21.07.2020

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Paradise City
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Liina lebt in einer „schönen neuen Welt“, in der Krankheiten und Armut überwunden sind und vor allem die Katastrophen längst Geschichte sind, die von unserer Zivilisation zu Beginn des 21. Jahrhunderts ...

Liina lebt in einer „schönen neuen Welt“, in der Krankheiten und Armut überwunden sind und vor allem die Katastrophen längst Geschichte sind, die von unserer Zivilisation zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausgelöst wurden: Pandemien haben ganze Städte entvölkert, der Klimawandel lässt die Küsten versinken und Verbrechen sind fast nicht mehr bekannt und die staatlichen Medien berichten über die Großartigkeit der modernen Welt. der Preis, den jede/r Einzelne dafür bezahlt, ist die Einschränkung der persönlichen Freiheit. Gesundheit und Sicherheit stehen an erster Stelle, die Rechte des Individuums stehen dahinter zurück. Das Individuum etwa wird durch sein Smartcase sowie die Gesundheits-App „KOS“ überwacht. KOS gibt nicht nur Hinweise zum Gesundheitsstatus, sondern auch zur Fitness, Ernährung und Medikamentierung. KOS ist ein von Menschen erdachtes Programm, das für die optimale körperliche Verfassung der Bürger sorgen soll - und das Programm versieht seine Aufgabe nach paternalistischem Algorithmus ohne Kompromisse. Der Staat verfährt ganz ähnlich mit dem „Volkskörper“: Teil des Systems ist, wer produktiv, arbeitsam, gesund und willig ist. Wer sich dagegen sträubt, kann bei den „Parallelen“ leben, nicht aber in den Genuss der Zivilisation neusten Standards in Deutschland gelangen.

Der Roman, der irrtümlich als „Thriller“ gekennzeichnet ist, verwendet sehr viel Zeit auf das Setting, den Kontext und das gesellschaftliche Arrangement, wobei allerdings der Verlust der Nordseeküste, der Untergang Berlins oder die technische Beschaffenheit der Smartcases eigentlich nur Kulisse sind, nicht Handlung. Immerhin ist Adenauers Traum doch noch wahr geworden: Frankfurt wurde Hauptstadt. Die eigentliche Handlung - eine mysteriöse Tote in der Uckermark, die tödlichen Attacken auf Mitarbeiter der letzten unabhängigen Presseagentur „Gallus“, die Zusammenhänge mit dem Programm KOS und deren Entwicklerin Simona Arendt - diese Handlung kommt zwischen der Dystopie-Folklore kaum voran.

Zoe Beck habe das, was derzeit geschehe, nur konsequent weitergedacht und daraus eine Gesundheitsdiktatur konstruiert, erläuterte die Autorin in mehreren Interviews. Dieses Arbeitsprinzip gilt für alle Dystopien - und das macht ihren Reiz und ihre Gegenwartsrelevanz aus. Becks Gedanken mitzudenken, ist deshalb gewinnbringend und erschreckend zugleich: Was passiert, wenn ein Staat oder eine künstliche Intelligenz unbarmherzig alle Abweichungen von der Norm zu korrigieren versucht? Was ist eigentlich „normal“? Wo bleib die individuelle Freiheit, ja: das Individuum in einem solchen System? Schafft sich eine demokratische Gesellschaft womöglich aus Bequemlichkeit selbst ab, weil sie wichtige Entscheidungen lieber einem Algorithmus überlassen möchte? Weil sie irrtümlich annimmt, „Sicherheit“ sei ein „Supergrundrecht“, wie ein Innenminister der Bundesrepublik wirklich schon einmal fantasiert hat?

„Paradise City“ regt zu vielen guten Gedanken an, die sich so oder so ähnlich aber auch in Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“ von 1932, Kazuo Ishiguros „Alles was wir geben mussten“ von 2005 und Juli Zehs „Corpus Delicti“ von 2009 finden. Eigentlich ist es deshalb umso beunruhigender, dass unsere Gesellschaft mit ihrem Gesundheitswahn, der Lust an der einfachen Antwort und der Selbstaufgabe persönlicher Rechte immer noch weiter macht und Becks Roman deshalb so aktuell ist.

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Veröffentlicht am 18.05.2020

Thriller vom Holzschnitzer

Der Unterhändler
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"Der Unterhändler" ist ein Hollywood-Blockbuster, geschrieben um das Ende des Kalten Krieges, als die Autoren der Spannung so manche Geneuigkeit leichtherzig geopfert haben (alle außer John le Carré, versteht ...

"Der Unterhändler" ist ein Hollywood-Blockbuster, geschrieben um das Ende des Kalten Krieges, als die Autoren der Spannung so manche Geneuigkeit leichtherzig geopfert haben (alle außer John le Carré, versteht sich).

Die Hauptfogur Quinn ist eine echte "Mary Sue" - kann alles, weiß alles, rettet dem Dämchen immer das Leben, stiehlt ihr aber auch ständig die Show (sie ist CIA-Agentin, nicht Strickliesel, Mann!).

Schlimmer aber noch die die Gegner: ein Irrer von Gottes Gnaden, ein paedophiler Sadist und sein widerliches, jüngeres Alter Ego - das sind nicht nur Bösewichte, sondern böse, böse Bösewichte, also verabscheuungswürdige Abziehbilder aus der Holzschnitzerklause ohne Grauschattierungen.

Dennoch vergehen die fast 600 Seiten wie im Flug - meistens unterhaltsam und spannend, eben wie ein Hollywood-Blockbuster.

Veröffentlicht am 18.05.2020

Das Gewohnte verloren in Tunesien

Das Zittern des Fälschers
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Howard Ingham ist Schriftsteller mit aufkeimenden Bestselleraussichten, der für einen befreundeten Produzenten einen Roman zum Drehbuch umarbeiten soll und zu diesem Zweck nach Tunesien reist. Dort erwartet ...

Howard Ingham ist Schriftsteller mit aufkeimenden Bestselleraussichten, der für einen befreundeten Produzenten einen Roman zum Drehbuch umarbeiten soll und zu diesem Zweck nach Tunesien reist. Dort erwartet er den Produzenten. der nicht erscheint, sondern sich umbringt – und auf Nachrichten seiner Verlobten Ina, die auf seine Nachrichten nicht antwortet. Howard bleibt trotz dieser Misserfolge und Schicksalsschläge in Tunesien, offenbar weil ihn die Atmosphäre zum Beginn eines neuen Romans motiviert.

Umgeben ist Howard von tunesischen Hotelpagen mit sinisteren Absichten, langfingrigen Eingeboren, einem homosexuellen dänischen Fotografen und einem neugierigen Amerikaner mit politisch halbgarer Agenda. Dieser Adams rückt Howard immer weiter auf die Pelle, nachdem jener einen Einbrecher vermutlich getötet hat – sicher ist das nicht. Im Folgenden entwickelt sich ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Adams, Howard und Howards Gewissen, in dem als Katalysatoren auch der Däne und schließlich die Verlobte Ina mitmischen. Während des Spiels wird deutlich, wie Howard langsam den Boden unter den Füßen verliert und damit auch sein unerschütterliches, us-amerikanisches Koordinatensystem für Menschlichkeit und das Richtige. Howard blickt in die Abgründe seiner selbst und wir Lesenden mit ihm.

Es gelingt Highsmith vortrefflich, die Ansichten und Absichten ihrer Figuren zu beschreiben, im Alltäglichen das Fremde und um Fremden das Alltägliche vorzuführen, um es anschließend zu verzerren. Allerdings macht es einem der Roman nicht leicht, sich durch die Zeilen zu bewegen, weil der deskriptive Stil und die Handlungsarmut kaum vermuten lässt, dass Highsmith eigentlich für Kriminalliteratur bekannt ist. Die Autorin hat „das Zittern des Fälschers“ als ihren wichtigsten Roman bezeichnet; das mag sein, wärmt aber dennoch nicht mein abschließendes Urteil: Erreichte mich nicht.

Veröffentlicht am 23.02.2020

Unfreiwillig in Canaris‘ Diensten - handwerklich gelungen

Der Empfänger
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Josef möchte lieber Joe heißen, notfalls Josef, aber bitte nicht José. Er kommt aus Deutschland, wanderte in den späten 1920ern nach New York aus und muss nach dem Krieg in Argentinien und Costa Rica wohnen, ...

Josef möchte lieber Joe heißen, notfalls Josef, aber bitte nicht José. Er kommt aus Deutschland, wanderte in den späten 1920ern nach New York aus und muss nach dem Krieg in Argentinien und Costa Rica wohnen, will aber eigentlich immer zurück nach America. Darum auch Joe. Ulla Lenze erzählt die interessante Auswanderergeschichte Josefs und öffnet gleichzeitig den Blick in ein Kapitel der Geschichte, das keine große Lobby hat, nämlich das Schicksal der vielen Deutschen in den USA während der Nazizeit. Wie rotteten sich die Gesinnungsnazis damals in den USA zusammen? Wie wurden sie für die Pläne des Deutschen Reichs instrumentalisiert? Welche Rolle spielten sie auf dem Spielbrett des Krieges? Welche Aktivitäten entfaltet die deutsche Abwehr seinerzeit unter den möglicherweise rekrutierbaren Volksgenossen im Ausland? Das ist spannend und interessant - im Anhang gibt es gleich eine Reihe von Literaturtipps, denen man weiter folgen kann. Muss man aber nicht, denn Lenzes Roman ist womöglich Sachbuch genug.



Das Buch krankt an einem Unglück, das historisch verbürgte Stoffe - Lebensgeschichten von Verwandten zumal - oft befällt: Es wirkt zu einzelfallartig, zu stringent erzählt, zu wenig exemplarisch, zu „komplett“. Dabei kann Lenze schreiben, ihr fallen unverbrauchte Metaphern ein, sie setzt Figuren und Schauplätze anschaulich in Szene und hat ein bewunderungswürdiges Auge für das Detail. Auch die verschachtelte Konstruktion unterschiedlicher Zeiten ist handwerklic gelungen.

Das Problem ist also die Grundanlage des Romans selbst: Josef ist ein Heimtaloser, ein Zerrissener, ein Antiheld-wider-Willen. Er wird gegen seinen Willen vom deutschen Geheimdienst eingesetzt und gegen seinen Willen vom FBI benutzt. Nach Internierung abgeschoben wieder in Deutschland kebt er gegen seinen Willen beim Bruder Carl, um dann verlegenheitshalber nach Argentinien zu pilgern, um wieder nach New York kommen zu können. Man liest viel Interessantes über die Ultrarechte in den USA, über Nazis jenseits des Großen Teichs. Über frühe Fake News wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ (S. 44) und die mehr als aktuell klingende Agitation der klerikalen Fundamentalisten in den Staaten. Über die Truppe von Canaris und dessen klandestinen Widerstand. Über die Schwierigkeiten des Neuanfangs in Deutschland nach der Befreiung. Über das verkorkste Brüderverhältnis der Zwischenkriegsgeneration. Über die unverbesserlichen Alten Kameraden.

Aber nach „der Empfänger“ habe ich den Eindruck, nicht mehr zu wissen, als mir ein Sachbuch auch vermittelt hätte.

Das hat auch sehr viel mit den beiden zentralen Figuren zu tun, den Brüdern Josef und Carl: Beide sind nicht nationalsozialistisch, nicht rassistisch, nicht antisemitisch eingestellt, Beide müssen nicht im Krieg dienen. beide sind eher Opfer der Zeitläufte, in denen sie leben. Vor allem Josefs Einsatz als Funker im Dienste des Reiches ist eine Tätigkeit ohne Schuld. „Ich denke nur, dass ich einfach zu blöd war.“ (S. 295) Der Eindruck beschleicht mich auch. Aus diesem Einzelschicksal kann ich keine Erkenntnis über die Zeit saugen. ich kann nur feststellen, dass ein Auswandererschicksal offenbar das Gefühl fundamentaler Entwurzelung erzeugt. Und? Das hätte ich vorher schon gewusst. Am besten gelingt Lenze die Spannung zwischen Josef und seiner (sehr) amerikanischen Freundin Lauren, die in ihrem Freund den Kollaborateur vermutet und ihn als Deutschen kritisch begleitet.

Mit dem Nazimilieu in New York um 1939, mit Canaris, mit der Nachkriegsnot am Rhein, mit der „Rattenlinie“ nach Argentinien und den dortigen Alt-Nazikolonien hat sich Lenze thematisch überladen und führt nichts richtig aus. Mithin: Gut lesbarer, interessanter Stoff mit mangelnder Tiefe.

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Veröffentlicht am 23.02.2020

Das macht der Hut gut

Der Hut des Präsidenten
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Antoine Laurain hat ein Wohlfühlbuch geschrieben, ausgehend von Francois Mitterands
rätselhaftem Satz aus der Neujahrsansprache 1994: „Ich glaube an die Kräfte des
Geistes“. Das Buch will uns an die rätselhaften ...

Antoine Laurain hat ein Wohlfühlbuch geschrieben, ausgehend von Francois Mitterands
rätselhaftem Satz aus der Neujahrsansprache 1994: „Ich glaube an die Kräfte des
Geistes“. Das Buch will uns an die rätselhaften Kräfte von Mitterands Hut
glauben machen. Und man will an sie glauben, denn die Kräfte des Hutes sind
gut: Wer auch immer den „Hut des Präsidenten“ auf dem Kopf trägt, über den Filz
der Krempe streicht, dessen Leben wandelt sich zum Besseren. Dies geschieht
nacheinander vier Personen, ehe der Hut seinem Schicksal folgt.

Was heißt „gut“? Gut sind in diesem Buch die Erfolgreichen, die Modernen, die
Liberalen, die Kunstsinnigen - also Menschen, wie sie dem linksliberalen Mainstream
entsprechen. Das ist diskutabel, denn Konservative könnten diese Texte
womöglich nicht ganz so wohlfühlend empfinden. Aber für die hat Laurain auch nicht
geschrieben.

Ich für meinen Teil habe mich in der magisch angehauchten Geschichte wiedergefunden,
mit wohl gefühlt und an der Seichtheit, Vorhersehbarkeit und Eindimensionalität
der Episoden nicht gestört. Ganz am Ende lässt das Lektorat Mitterrand sogar
noch ein Jahr länger leben, denn der Präsident habe 1996 noch ein letztes Mal
Weihnachten gefeiert - wo, frage ich mich, ist er doch am 8. Januar 1996
gestorben.

Wer nicht zuviel erwartet und Geschichten mag, die gut ausgehen, ist hier genau
richtig.

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