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Veröffentlicht am 23.02.2020

Und immer wieder das Meer

Wir Ertrunkenen
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Carsten Jensen setzt den Marstaler Seeleuten ein Denkmal, indem er ihr Werden, Fahren und Ertrinken erzählt. Mit den drei Generationen der Familie Madsen (Laurids, Albert und Knud Erik, der allerdings ...

Carsten Jensen setzt den Marstaler Seeleuten ein Denkmal, indem er ihr Werden, Fahren und Ertrinken erzählt. Mit den drei Generationen der Familie Madsen (Laurids, Albert und Knud Erik, der allerdings kein Madsen mehr ist) geht die Lektüre auf Große Fahrt – von Dänemark bis Shanghai, New York und Samoa. Mehr als hundert Jahre Seefahrt umspannt dieser Roman und intoniert den Abgesang auf die Segelschifffahrt. Ich war mir nicht sicher, ob ich das mögen würde, zumal auf achthundert Seiten.

Aber ich mag es nicht nur, ich liebe es: Jensen hat nämlich große Lust zu erzählen und begibt sich mit einer undefinierten Wir-Perspektive mitten unter die Marstaler, direkt ins Geschehen hinein. Überdies spickt er die Lebensgeschichten der Figuren mit so viel Anekdoten, Geschichten, Seeluft und Salzrändern, dass es nie langweilig wird.

Dabei vergisst Jensen nicht, einige Grundtöne in die Story zu weben, nämlich einerseits die Melancholie angesichts der sich wandelnden Zeiten und der untergegangenen Romantik der Großsegler, andererseits die Entlarvung dieser Romantik als hartes Schicksal voll Arbeit und Schmerz und zum dritten die gespiegelte Geschichte der Daheimgebliebenen, der Mütter, Ehefrauen und Kinder nämlich, die es weniger und weniger ertragen wollen, den Tod auf See als schicksalsgegeben hinzunehmen.

Dieses dritte Motiv verkörpert Klara Friis, Witwe, Erbin und plötzliche Reederin, die es sich zum Ziel gemacht hat, die Schiffe ein für alle Mal aus Marstal zu verbannen und den Männern der Stadt ein Leben an Land aufzuzwingen. Klara ist Jensen gut gelungen, und ihr monströses Ziel, das Meer gleichsam aus Marstal herauszupeitschen, ist großartig.

Dass Jensen bisweilen die Spur verliert, ist auf achthundert Seiten zu vernachlässigen, desgleichen, dass sich die Erzählung in den drei Kreisen der Generationen strukturell wiederholt.

Ich habe „Wir Ertrunkenen“ auch als Abenteuer gelesen und es sehr gemocht – und das nicht etwa, weil ich Segler bin, sondern trotzdem.

Veröffentlicht am 24.01.2020

Viel Schatten in diesem großen Roman

Licht im August
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„Licht im August“ ist eine von den Lektüreerfahrungen, die mit Anstrengung erworben wird. Faulkner erzählt seine Geschichte in Mississippi mit ermüdender Pedanterie, inneren Monologen, ausführlichen Beschreibungen ...

„Licht im August“ ist eine von den Lektüreerfahrungen, die mit Anstrengung erworben wird. Faulkner erzählt seine Geschichte in Mississippi mit ermüdender Pedanterie, inneren Monologen, ausführlichen Beschreibungen der emotionalen Gemütslage oder der haarklein aufgefächerten Gedankenlandschaft der Handelnden. In Rückblenden werden seitenweise Lebensgeschichten auftretender Figuren nachgereicht, die dem Auto notwendig erscheinen, um die Handlungsweise zu motivieren und erklärlich zu machen. Die Erzählperspektive folgt mitunter einer Person in eine Szene, um dann abzubrechen und eine andere Person in und durch dieselbe Szene zu führen, damit beider Personen Bewusstsein im Lesen präsent ist. Zeile für Zeile bewegt man sich nur sehr langsam durch den Text - und dennoch erschafft Faulkner mit seinem Stil ein erstaunliches Leseerlebnis: Plötzlich entsteht aus den Buchstaben ein dichtes, kompaktes Bild, durch das man schreitet, ohne zu merken, dass man eigentlich noch liest. Die Loslösung der eigenen Realität und das tiefe Eintauchen in die fremde Realität hat wohl mit Faulkners akribischer Realitätsnähe zu tun. Ich habe jedenfalls selten ein so monolithisches Textgemälde im Kopf gehabt wie bei diesem Roman.

Faulkner stellt sich in diesem 1932 veröffentlichten Roman erneut der Rassenfrage, die für ihn eine ewige Schande des Menschen bzw. des Amerikaners ist. In der Figur von Joe Christmas zeigt er, wie schon das Gerücht, jemand könne „Negerblut“ in den Adern haben, zur Verurteilung führt. Christmas ist ein harter Wanderarbeiter, bindungsunfähig, verschlossen und frauenfeindlich, der mit Gelegenheitsjobs und illegalem Whiskyhandel über die Runden kommt. Er mordet und wird gejagt, obschon zunächst alle Indizien auf seinen zwielichtigen Kompagnon Joe Brown weisen. Der windet sich aus dem Verdacht, indem er Christmas beschuldigt, „Niggerblut“ in sich zu haben.

Ein wenig Licht in diesen August bringen Lena Grove und Byron Bunch, die Hoffnung, Freundlichkeit und Anständigkeit repräsentieren und er Ausweglosigkeit und dem Pessimismus des Romans ein Gegengewicht verleihen, wenn auch kein gleichwertiges.

Faulkners Roman ist auf zwei Ebenen toll: in seinem inneren Humanismus und in seinem Stil - für den, der sich auf die Entschleunigung der Realität einlässt.

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Veröffentlicht am 10.12.2019

Armut ist Makel

Kleiner Mann - was nun?
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Hans Falladas 1932 erschienenen Roman „Kleiner Mann - was nun?“ ist nicht nur mit seinem Titel bis in die heutige Zeit bekannt und aktuell. Der ganze Roman - die ersten gemeinsamen Jahre von Johannes Pinneberg ...

Hans Falladas 1932 erschienenen Roman „Kleiner Mann - was nun?“ ist nicht nur mit seinem Titel bis in die heutige Zeit bekannt und aktuell. Der ganze Roman - die ersten gemeinsamen Jahre von Johannes Pinneberg und seiner Frau Emma „Lämmchen“ erzählt eine Geschichte von zeitloser Bedeutung. Die Pinnebergs kommen aus der schlesischen Provinz, wo sie in der kärglichen Engstirnigkeit der Kleinstadt zueinander finden und in ein Leben starten, das lauter Widrigkeiten aufhäuft, die gelichwohl niemals übertrieben, sondern vielmehr im Gegenteil als zeittypisch erscheinen. Die Hilflosigkeit Pinnbergs gegenüber seinen Chefs und später gegenüber dem Staat - ja: dem Teil des Staates, der für die Fürsorge zuständig wäre - ist schreiend ungerecht. Die Realitätsnähe dieser Ungerechtigkeiten, die plastischen Auswüchse der Hilflosigkeit, der sorgsam bewahrten Anständigkeit und der bis zum Schluss aufrecht erhaltene Wille, alles richtig zum machen, sind glaubwürdig, rührend und immer wieder auch gallenbitter komisch. Fallada hat ein Gespür für plötzlichen Witz - und muss ihn auch haben, weil sonst die Geschichte des fortwährenden Misserfolgs der liebenden Eheleute Pinneberg und Lämmchen mit ihrem „Murkel“ kaum erträglich wäre.

Pinnebergs Courage hält bis fast zur letzten Seite, doch dann ist die Sohle erreicht: „Ordnung und Sauberkeit: Es war einmal. Arbeit und sicheres Brot: Es war einmal. Vorwärtskommen und Hoffnung: Es war einmal. Armut ist nicht nur Elend, Armut ist auch strafwürdig, Armut ist Makel (…).“ (S. 546) Spätestens hier ist man froh über die sozialen Leistungen, die in Deutschland seit Kriegsende, insbesondere durch die deutsche Sozialdemokratie, erreicht wurden.

Ich war über die Frische des Textes, über die Farbkraft des Zeitdokumentes erstaunt, das mit unverstelltem Erzählfluss die Vergangenheit heraufbeschwört und dabei das Zeitlose transportiert. Ich freue mich auf die nächsten Romane von Fallada, die hier schon auf mich warten.

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Veröffentlicht am 13.11.2019

"Liebeskummer führt also zu Hirnschädeln?"

Das böse Mädchen
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Welchen Roman auch immer ich von Mario Vargas Llosa lese – immer begeistert mich seine Fähigkeit, mit Saft und Kraft zu erzählen. Selbst „Das böse Mädchen“ hat mich irgendwann gepackt, obschon ich weder ...

Welchen Roman auch immer ich von Mario Vargas Llosa lese – immer begeistert mich seine Fähigkeit, mit Saft und Kraft zu erzählen. Selbst „Das böse Mädchen“ hat mich irgendwann gepackt, obschon ich weder die lebenslange kitschige Ergebenheit Ricardos noch die eiskalte egoistische Aufstiegsgier des bösen Mädchens besonders anziehend fand. Doch auch ich erlag im Vorbeigang der Seiten der Faszination, die das „böse Mädchen“ umgibt und fieberte der nächsten Begegnung der beiden, der nächsten ungeheuerlichen Trennung entgegen.

Ricardo und Lily stammen beide aus Peru und wachsen dort in kleinen, bürgerlichen Verhältnissen auf. Schon früh allerdings sorgt Lilys Geltungssucht für einen gewaltigen Eklat: Dass sie aus Chile sei, aus gutem Hause zudem, ist nur erfunden! Fortan war die Schülerin aus der Clique verbannt, von der Schule geflohen. Der einzige, der noch zu ihr halten möchte, ist der in sie „wie ein Mondkalb verschossene“ Ricardo – doch kann es nicht: Denn sie ist weg. Dieses Muster – Hochstapelei, Eklat, Verschwinden – wiederholt sich in der großmannssüchtigen, mythomanischen Lebensweise der Gottesanbeterin immer und immer wieder. „Ich werde nie zufrieden sein mit dem, was ich habe. Ich werde immer mehr wollen.“ (S. 83) Auch Ricardos Verzeihen, denn die einzige Konstante im Leben des bösen Mädchens ist die Liebe, Ricardos, die bedingungslos zu sein scheint. Seine Rolle scheint lebenslang zu sein: „Der arme Teufel, der nur lebt, um dich zu begehren und an dich zu denken.“ (S. 175)

Der Roman führt seine beiden Protagonisten an unterschiedliche Schauplätze außerhalb Perus – Paris, London, Tokyo und Madrid – und durch vierzig Jahre ihres Lebens. Doch Ricardo verliert den Kontakt nach Peru nicht, wie auch Vargas Llosa nicht vergisst, an sein Peru zu denken. Immerhin hat der Nobelpreisträger ja sogar einmal versucht, peruanischer Präsident zu werden, weshalb das Gesellschaftliche bei ihm nie ganz fehlen darf.

Das böse Mädchen wechselt im Laufe der Kapitel ihre Identitäten und ihre Namen. Mal ist sie, die als Otilia geboren wurde, Madame Arnaux, dann Ms Richardson, mal Kuriko. Der Erzähler – es ist Ricardo – nennt sie bei ihren neuen Namen, nur die Bezeichnung „böses Mädchen“ bleibt.

Die großen Themen des Romans sind die Frage nach Liebe und Lebensglück – und ob sie zusammenhängen. Mich hat die Dichte der Erzählung beeindruckt, wie auch der ständige Rollenwechsel des bösen Mädchens, zu dem sich Ricardo, „der gute Junge“ stets neu verhalten musste. Was ist Glück? Macht Reichtum glücklich? Führt ein Leben auf Kosten anderer zu einem guten Ende? Der Roman hat hierauf eine eindeutige Antwort. Nicht so eindeutig hingegen ist die Frage beantwortet, ob Liebe die Lösung ist. Oder anders gesagt: „Liebeskummer führt also zu Hirnschädeln“ (S. 367).

Wunderbar erzählte, traurig-schöne Geschichte.

Veröffentlicht am 24.09.2019

Der unbekannte Vater einer ganzen Generation

Im Frühling sterben
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Rothmann erzählt die Geschichte zweier junger Männer – Fiete und Walter –, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges noch in die Waffen-SS gezwungen und an die Front in Ungarn geschickt werden. ...

Rothmann erzählt die Geschichte zweier junger Männer – Fiete und Walter –, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges noch in die Waffen-SS gezwungen und an die Front in Ungarn geschickt werden. Rothmann versteht es, in diesem kurzen Roman die Coming-of-Age-Geschichte Walters zu erzählen und dabei gleichzeitig tiefe Freundschaft, große Liebe und Nachdenken über den Tod im Angesicht des Granatenhagels zu den Themen von Walters Generation zu machen. Walter will überleben und Fiete einfach nur raus. Der eine ist pragmatisch und kommt aus dem Krieg, um nicht gerade das Leben eines Siegers zu führen, der andere zu freigeistig, um sich zu beugen.

Mir hat vor allem gefallen, wie es „Im Frühling sterben“ schafft, eine Geschichte zu erzählen, die gleichzeitig so gewöhnlich wirkt, wie sie außergewöhnlich ist, so dass sie auch als Geschichte einer ganzen Altersgruppe funktioniert, nämlich jener Flakhelfergeneration, von der die Bundesrepublik nach dem Krieg so geprägt wurde. Es erscheint folgerichtig, dass in der Rahmenhandlung Walters Sohn zum Erzähler wird und die ahnungslose Fragehaltung der Nachgeborenen einnimmt, die ratlos vor der Kriegserfahrung der Väter stehen.

Überdies ist der Roman ganz unaufgeregt und nachdenklich geschrieben und hätte auch das Etikett Liebesgeschichte verdient.

Eine echte Leseempfehlung.