Das Herz vergisst nicht
Nie hätte Josie gedacht, dass sie eines Tages freiwillig nach Vermont, an den Ort ihrer Kindheit, zurückkehren würde. Einst war sie Hals über Kopf von dort geflüchtet, hatte ihre Eltern, den familiär geführten ...
Nie hätte Josie gedacht, dass sie eines Tages freiwillig nach Vermont, an den Ort ihrer Kindheit, zurückkehren würde. Einst war sie Hals über Kopf von dort geflüchtet, hatte ihre Eltern, den familiär geführten weihnachtlichen Themenpark "Snowflake Village" sowie ihre beste Freundin Molly verlassen und sich in Boston ein neues Leben aufgebaut. Auch Ethan, ihren Verlobten, hatte sie - quasi vor dem Altar - zurückgelassen. Nun, nach 10 Jahren Funkstille, hat Josie keine andere Wahl: sie muss zurück nach Echo Lake, da ihr Vater einen Schlaganfall erlitten hat und im Krankenhaus ums Überleben kämpft. Ihre einst alkoholsüchtige Mutter ist so nüchtern wie noch nie, Molly hat nur Abweisung für Josie übrig und Ethan, der mittlerweile beruflich die rechte Hand von Josies Vater geworden ist, behandelt sie mit frostiger Höflichkeit. Warum sieht er immer noch so verdammt gut aus? Wieso bringt ein Blick in seine Augen Josie nach all den Jahren noch immer aus dem Konzept? Sie hatte sich so fest geschworen, dass dies nicht passieren dürfe. Ohne ihren Vater ist das Arbeitspensum im Weihnachtspark nicht zu schaffen und widerwillig erklärt Josie sich bereit, Ethan für ein paar Tage unter die Arme zu greifen. Bald schon wird sie von einer Welle trauriger Erinnerungen überrollt und muss sich gleichzeitig die Frage stellen, ob sie damals nicht die falsche Entscheidung getroffen hat.
Zunächst einmal muss ich gestehen, dass der Weihnachtspark, den Josie als Teenager genervt das 'Ho-Ho-Camp' genannt hatte, ganz nach meinem Geschmack wäre – ein Park, in dem rund ums Jahr Weihnachtsfeeling herrscht, herrlich! Aber auch am scheinbar glücklichsten Ort kann man nicht dauerhaft die Augen vor der Realität verschließen und feststeht: Josie hatte keine schöne Kindheit. Die wenigen Erinnerungen an gewisse Momente mit ihrer damals unzuverlässigen und volltrunkenen Mutter haben gereicht, um zu erkennen, dass Josie früh erwachsen werden musste. Ich war gespannt wie ein Flitzebogen auf den Auslöser, der sie letztlich dazu bewogen hatte, Echo Lake zu verlassen. Diese Erklärung wird gekonnt immer wieder angedeutet, aber erst gegen Ende der Geschichte lüftet die Autorin das Geheimnis. Hinsichtlich dessen hätte ich mir eine etwas kreativere, weniger vorhersehbare Wendung gewünscht. Die Ereignisse waren rückblickend zwar stimmig und Josies Beweggründe waren auch nicht total aus der Luft gegriffen, doch es erschien mir einfach ein wenig zu simpel gelöst. Bei all dem Aufbau und dem konstant aufrechterhaltenen Spannungsbogen hätte ich eben etwas anderes erwartet.
Besonders lobend erwähnen möchte ich den angenehm einladenden Schreibstil, mit dem Maggie McGinnis die Leser direkt nach Echo Lake und mitten hinein in das Gefühlschaos der Protagonisten entführt. Über den ganzen Roman hinweg habe ich mich wunderbar in Josie hineinversetzen können. Auch die Beschreibungen der umliegenden Natur und die wohlige Kleinstadt-Atmosphäre sind herrlich eingefangen worden. Ethan erschien mir teilweise ein wenig wie ein Blättchen im Wind. Seine große Liebe hatte ihn furchtbar verletzt – bei ihrer Rückkehr schmollt er, provoziert sie, weist sie ab und schmachtet ihr nach…und zwar alles zur selben Zeit! Eine tiefgründige Aussprache hätte mir besser gefallen; so blieb man trotz einiger humorvoller Elemente stets ein wenig außen vor.
Gerne hätte ich noch mehr darüber gelesen, wie sich Josie und ihre Mutter annähern. Die neue Umgangsweise miteinander, ihre Gespräche und die zaghafte Annäherung haben mir ausnehmend gut gefallen. Auch der Parkmitarbeiter Ben, die gute Seele von Snowflake Village, hat mich mit seinem gütigen Wesen und seinen schelmischen Sprüchen immer wieder schmunzeln lassen. Eine Figur allerdings, die ich zu Beginn der Story sogar in der Favoritenrolle gesehen habe, hat mich ziemlich enttäuscht: Josies ehemals beste Freundin Molly. Verbittert, biestig, selbstgefällig und egoistisch – getarnt unter einem Mantel oberflächlichen Humors. Mit solchen Freunden braucht man keine Feinde mehr. Ich habe Mollys Enttäuschung über Josies damalige Abreise voll und ganz nachvollziehen können – ihr übergriffiges, beinahe schon peinlich-aufdringliches Verhalten gegenüber Ethan allerdings nicht.
Mit dem Avery House, einem Ferienheim für schwerkranke Kinder und deren Familien, ist ein ernstes Thema angesprochen worden. Einst hatten Ethan und Josie einen schweren Verlust erlitten, über den sie beide nie ganz hinweggekommen sind. Dieser Aspekt des Pflegeheims wurde leider nur ein wenig angekratzt und hätte für meinen Geschmack sehr gerne weiter ausgebaut werden können. Dafür lag der Fokus auf dem Miteinander von Josie und Ethan, was auch völlig in Ordnung war; das zauberhaft schöne Cover lässt schließlich bereits erahnen, dass viel Romantik zwischen den Zeilen mitschwingen wird.
Fazit: Ein netter Roman über die Irrungen und Wirrungen einer Kleinstadt-Liebe, der aufgrund vieler emotionaler Aspekte das Potential gehabt hätte, sehr ergreifend und mitreißend zu werden. Viele thematische 'Baustellen', die dem Werk noch mehr Tiefe verliehen hätten, bleiben unangetastet. So ist es zwar kein Buch geworden, das dauerhaft nachwirken wird, aber eine angenehme kurzweilige Lektüre für ein paar entspannte Lesestunden ist es allemal.