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Veröffentlicht am 03.03.2020

Erschreckend realistisch

Im Namen der Lüge
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Düsseldorf, noch drei Wochen bis zur Landtagswahl. Die Regierungspartei befürchtet eine Koalition aus Rot-Rot-Grün. Dem Verfassungsschutz wird ein Strategiepapier zugespielt, in dem zum Aufbau einer revolutionären ...

Düsseldorf, noch drei Wochen bis zur Landtagswahl. Die Regierungspartei befürchtet eine Koalition aus Rot-Rot-Grün. Dem Verfassungsschutz wird ein Strategiepapier zugespielt, in dem zum Aufbau einer revolutionären Front in den Metropolen aufgerufen wird. Brisant, denn seit einiger Zeit werden Geld-Transporte von einer Dreiergruppe (Herlinde, Sibylle und Klaus) überfallen, die der ehemaligen RAF zuzurechnen ist. Terror und Anarchie drohen.

Melia Khalid wird beauftragt, zuständig für die Linksextremismus-Abteilung des Verfassungsschutzes. Sie soll die Antifa-Szene unter die Lupe nehmen und geeignete Gegenmaßnahmen ergreifen. Auch wenn sie sich damit am Rand der Legalität bewegt, heiligt der Zweck noch immer die Mittel. Zweifel an den Informanten und der Vorgehensweise sind erlaubt, sollten aber nicht laut geäußert werden. Sonst landet man ganz schnell auf dem Abstellgleis.

Am rechten Rand des Spektrums ermittelt Vincent Veih eigenmächtig in einem gewaltsamen Todesfall, der vorschnell als Beziehungsdrama eingestuft wurde. Die Ermittlungen gestalten sich schwierig, wird ihm doch der Zugang zu Beweismaterial vorenthalten. Aber er lässt nicht locker, und seine Vermutungen bestätigen sich. Das Opfer war ein investigativer Journalist, der eine Veröffentlichung über die Reichsbürger plante und den seine Recherche in der „Freien Republik Hellerhof“ das Leben kostete.

Auf den ersten Blick scheint es, als hätten die beiden Fälle nichts miteinander zu tun, Aber als die Leiche von Herlinde auftaucht, ergibt sich eine Schnittstelle. Aber bald müssen Khalid und Veih feststellen, dass sie einer weitaus größeren Sache auf der Spur sind. Und damit treten sie Männern mit Macht und Einfluss gewaltig auf die Füsse.

Soweit die Ausgangslage in Horst Eckerts neuem Politthriller „Im Namen der Lüge“, und es sind erschreckend realistische Szenarien, mit denen der Autor seine Leser hier konfrontiert. Erschreckend, weil sich vieles davon bereits genau so zugetragen hat. Erschreckend, weil selbst Vorgänge, die auf den ersten Blick eher wie eine Verschwörungstheorie anmuten, sich genau so zutragen könnten, denn spätestens seit den NSU-Morden ist die Rolle des Verfassungsschutzes ins Zwielicht geraten. Dass diese Organisation an den Schaltstellen sitzt, wenn es darum geht, Einfluss auf die Politik zu nehmen…natürlich, es stehen ja genügend Ressourcen zur Verfügung, beispielsweise die Medien, die blauäugig dabei helfen, lancierte Falschmeldungen zu verbreiten. Und dass dabei der eine oder andere Bauer geopfert werden muss, ist nicht weiter tragisch.

„Im Namen der Lüge“ ist ein Politthriller mit Mehrwert, weil er zum Nachdenken anregt. Komplex, mit vielen unterschiedlichen Facetten, ein Crossover zwischen der Arbeit des Geheimdienstes und der Kriminalpolizei. Überzeugend, weil er tief gräbt, Netzwerke sichtbar macht. Zeigt, dass wir uns von dem Glauben an Einzeltäter verabschieden sollten. Unsere gesellschaftspolitische Wirklichkeit abbildet und deshalb auch auf übertriebene Actionszenen verzichten kann. Spannend, weil die Verwicklungen zwischen den Vertretern des Verfassungsschutzes und der Politik in ihrer ganzen Tragweite erst allmählich sichtbar werden. Wie im richtigen Leben.

Veröffentlicht am 28.02.2020

Gekonnter Mix aus Fakt und Fiktion

Der rote Judas
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Kratzt man an der Oberfläche der „Goldenen Zwanziger“ wird sehr schnell klar, dass diese Zeit nicht nur aus Bubikopf und Charleston besteht. Der Erste Weltkrieg hat Wunden geschlagen und nicht nur das ...

Kratzt man an der Oberfläche der „Goldenen Zwanziger“ wird sehr schnell klar, dass diese Zeit nicht nur aus Bubikopf und Charleston besteht. Der Erste Weltkrieg hat Wunden geschlagen und nicht nur das gesellschaftliche Leben auf den Kopf gestellt. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, der wirtschaftliche Aufschwung noch nicht in Sicht. Eine ungewisse Zukunft, in die die Kriegsheimkehrer entlassen werden.

Fremd in der eigenen Stadt, so fühlt sich auch Paul Stainer, als er 1920 aus der Gefangenschaft zurück nach Leipzig kommt. Er muss eine neue Wohnung finden, weil seine Frau offenbar nicht mit seiner Rückkehr gerechnet und mittlerweile einen neuen Partner hat. Und auch der Wiedereinstieg in seinen alten Job als Polizist ist wegen seines Aufenthaltes in der Psychiatrie mehr als fraglich. Aber zumindest diese Befürchtungen lösen sich wegen der Personalknappheit in Luft auf, er wird zum Kriminalinspektor befördert und mit den Ermittlungen im Mord an einem Lehrer beauftragt. Und dann tauchen in einer Fabrikantenvilla weitere Leiche auf. Missglückter Einbruch, oder steckt mehr dahinter? Je tiefer Stainer in die Fälle eintaucht, desto mehr verdichtet sich die Gewissheit, dass die Fälle zusammenhängen und es Verbindungen zu einer Militäroperation in Belgien gibt, die völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Mit allen Mitteln soll verhindert werden, dass dies an die Öffentlichkeit gelangt, und dafür schrecken die Beteiligten auch nicht vor Mord zurück. Dünnes Eis, auf dem sich Stainer bewegt.

Für die Heimkehrer hat sich alles verändert. Sie kehren in eine Welt zurück, die sie nicht mehr wiedererkennen. Bettler säumen die Straßen. Die Frauen zeigen Initiative und dringen in Bereiche vor, die bisher Männern vorbehalten waren. Die ehemaligen Soldaten sind körperlich versehrt, traumatisiert, müssen ihre Fronterlebnisse verarbeiten. Die einen suchen Hilfe in medizinischer Betreuung, die anderen tragen es mit sich selbst aus, kämpfen mit ihrer Schuld. Wollen den Menschen erzählen, was 1914 wirklich in Belgien passiert ist. Wollen die Verbrechen der Reichswehr öffentlich machen. Wollen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Und sei es um den Preis des eigenen Lebens.

Es ist ein gekonnter Mix aus Fakt und Fiktion, den der Autor hier abliefert. Äußerst spannend verknüpft er das historisch verbürgte Massaker im belgischen Dinant mit individuellen Schicksalen und lässt den Leser/die Leserin so en passant an einer Geschichtsstunde teilnehmen. Man merkt, dass Ziebula gründlich recherchiert hat, und das betrifft nicht nur die historischen Geschehnisse sondern auch die Beschreibungen der Leipziger Lokalitäten und des Alltagslebens der damaligen Zeit. Aber auch das Gerangel um Macht und Einfluss in den Anfangstagen der Weimarer Republik, die Verflechtungen innerhalb und zwischen den Institutionen, in denen die Nationalisten mit aller Härte und skrupellos gegen alle vorgehen, die ihre Pläne gefährden könnten. Sie als „Rote“ brandmarken, einschüchtern und mundtot machen wollen. Klingelt da etwas?

Veröffentlicht am 18.02.2020

Entlarvend. Fordernd. Außergewöhnlich.

Milchmann
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2018 ging der Man Booker Prize für Belletristik an „Milkman“, und Anna Burns war damit die erste Preisträgerin aus Nordirland. Die Handlung des Romans ist dortverortet, der zeitliche Rahmen nicht näher ...

2018 ging der Man Booker Prize für Belletristik an „Milkman“, und Anna Burns war damit die erste Preisträgerin aus Nordirland. Die Handlung des Romans ist dortverortet, der zeitliche Rahmen nicht näher bestimmt. Man weiß nur, dass sich die Ereignisse während des Bürgerkriegs, der „Troubles“, abgespielt haben, einer Zeit geprägt von Gewalt und Misstrauen.

Schießereien, Autobomben und Molotow-Cocktails, letztere gerne bis zu ihrem Einsatz in Milchkisten deponiert. Eine Zeit die Ängste schürt, Unsicherheit verbreitet. Nur nicht auffallen ist die Parole, die auch die achtzehnjährige Erzählerin verinnerlicht hat, denn gar zu schnell gerät man in das Visier, wird selbst zum Ziel, zum Täter oder zum Kollateralschaden. Kein einfaches Leben für die Heranwachsenden, die sich aus diesen ganzen Verwicklungen raushalten wollen.

„Milchmann“ ist keine einfache Lektüre. Es irritiert, dass sämtliche Personen namenlos sind und lediglich nach ihren Beziehungen zur Protagonisten bezeichnet werden. Irgendwer McIrgendwas, Schwager, Schwester und natürlich Milchmann. Letzterer ein unangenehmer Zeitgenosse, dessen obsessives Verhalten nicht nur die Erzählerin verunsichert. Ein Stalker, der immer dann auftaucht, wenn man es am wenigsten erwartet, permanent präsent ist. Latent bedrohlich.

Dieses Empfinden wird durch die verwendete Erzähltechnik verstärkt, die darauf verzichtet, eine durchgehende Handlung zu entwickeln, zu beschreiben und zu erklären. Es ist quasi ein innerer Monolog, dem wir hier folgen. Die Gedanken und Sichtweisen der Erzählerin, die uns Innen- und Außenwelt präsentiert. Nicht gradlinig sondern sprunghaft und willkürlich.

Entlarvend. Fordernd. Außergewöhnlich. Ein Roman, für den man ein gewisses Maß an Leseerfahrung mitbringen sollte.

Veröffentlicht am 14.02.2020

Knapp, hart, heftig, roh und auf das Wesentliche reduziert

Young God
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„Young God“, der erste Roman aus der neuen Taschenbuch-Reihe des Polar-Verlags ist heftig. Richtig harte Kost. Nikki heißt die „junge Göttin“, gerade einmal dreizehn Jahre alt. Aufgewachsen in den Hügeln ...

„Young God“, der erste Roman aus der neuen Taschenbuch-Reihe des Polar-Verlags ist heftig. Richtig harte Kost. Nikki heißt die „junge Göttin“, gerade einmal dreizehn Jahre alt. Aufgewachsen in den Hügeln North Carolinas, wo die Landschaft so trostlos wie das Leben ihrer Bewohner ist. Ein typisches Rural-Noir-Setting, das wir nicht nur aus David Joys „Wo alle Lichter enden“ (ebenfalls Polar Verlag) kennen.

Beschissene Kindheit, abgeschoben ins Heim. Dann verunglückt die Mutter tödlich. Nach einem kurzen Intermezzo mit deren Lover klaut sie dessen Auto und fährt in die Berge zu ihrem Vater, ehemals der größte Koksdealer der Gegend. Der wurde erst kürzlich aus dem Knast entlassen, haust jetzt in einem heruntergekommenen Trailer und finanziert seinen Lebensunterhalt damit, junge Mädchen auf den Strich zu schicken. Auch wenn sie von ihm enttäuscht ist, sie will ihm gefallen, will von ihm geliebt werden. Dafür tut sie alles, führt ihm sogar eines der Mädchen, das sie aus dem Heim kennt, zu.

Aber sie hat Pläne, will nicht den üblichen Weg der jungen Frauen in diesem Milieu gehen und ihren Körper für ein paar Dollar und ein bisschen Sicherheit verkaufen. Will der Perspektivlosigkeit entkommen, genug Geld für ein selbstbestimmtes Leben haben, weshalb sie fest entschlossen ist, in den Drogenhandel einzusteigen und das Unternehmen wieder hin zu alter Stärke zu führen. Und wehe, es stellt sich ihr jemand in den Weg. Dann geht sie über Leichen und kennt weder Freund noch Feind noch Familie.

Auffällig an diesem Roman sind Stil und Sprache. Knapp, hart, heftig, roh und auf das Wesentliche reduziert, haut uns die Autorin die Story um die Ohren. Die Sprache ist dementsprechend rau und derb, die Sätze kurz und knackig, prasseln stellenweise wie Trommelfeuer auf den Leser ein. Da wird nichts beschönigt oder romantisiert, niemand hat Gewissensbisse, so etwas wie persönliche Moral schon überhaupt nicht. Das eigene Verhalten in Frage stellen? Niemals. Emotionen? Könnten ja als Schwäche ausgelegt werden. Das Leben ist hart und muss bewältigt werden. Und deshalb darf man nicht zimperlich in der Wahl der Mittel sein.

„Young God“ ist keine Unterhaltungslektüre, nichts für Zartbesaitete. Ein Buch, das an die Nieren geht. Lesen!

Veröffentlicht am 12.02.2020

Zwei Epochen, zwei Frauen und der Palais de la Femme

Das Haus der Frauen
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Der „Palais de la Femme“ ist eine Institution in Paris, ein historisches Gebäude im 11. Arrondissement und wird noch heute von der Heilsarmee betrieben. Ein Haus, das Frauen, die aus den verschiedensten ...

Der „Palais de la Femme“ ist eine Institution in Paris, ein historisches Gebäude im 11. Arrondissement und wird noch heute von der Heilsarmee betrieben. Ein Haus, das Frauen, die aus den verschiedensten Gründen an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, Obdach bietet und den Hintergrund für Laetitia Colombanis zweiten Roman bildet.

Es ist die Geschichte der Blanche Peyron, einer Frau aus bürgerlichen Verhältnissen, die ihre Berufung im Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit findet. Als Mitglied der Heilsarmee kommt sie in jungen Jahren nach Paris, wo sie sich gegen alle Widerstände behauptet und in der Organisation ihren späteren Mann kennenlernt, der sie in all ihren Belangen vorbehaltlos unterstützt. Das Elend der obdachlosen Frauen in den Straßen der französischen Metropole lässt sie nicht los, und so fasst sie den utopischen Plan, genug Geld aufzutreiben, um ein zum Verkauf stehendes Gebäude mit 743 Zimmern (!) zu erwerben und zu renovieren. Gegen alle Widerstände kann sie mit Hilfe ihrer Organisation und zahlreichen Spenden dieses utopische Projekt realisieren, sodass 1926 der „Palais de la Femme“ seine Tore öffnet und ab dieser Zeit bis heute Frauen ein Zuhause bietet.

Zurück in die Gegenwart: Solène, eine erfolgreiche Anwältin, erleidet nach dem Selbstmord eines Mandanten einen Nervenzusammenbruch. Nach längerem Aufenthalt in der Psychiatrie quält sie sich noch immer mit Selbstvorwürfen. Ihren Beruf hat sie aufgegeben, isoliert sich und kann trotz Medikamenten ihren Alltag kaum bewältigen. Um sie ins Leben zurück zu führen, rät ihr Therapeut ihr zu sozialem Engagement. Widerwillig lässt sie sich auf diesen Vorschlag ein und nimmt eine ehrenamtliche Stelle als Schreiberin im Haus der Frauen an. Anfangs eher zögerlich setzt sie sich mit den Lebensgeschichten der Bewohnerinnen auseinander. Allesamt Frauen, die schwere Zeiten hinter sich haben, deren Leben von Flucht, Misshandlungen, Obdachlosigkeit, Vergewaltigungen geprägt war, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden und nun hier einen Zuflucht gefunden haben. Diese Arbeit zwingt sie dazu, gegen alle Widerstände ihre Komfortzone zu verlassen, Empathie zu entwickeln, Solidarität zu spüren und auf diesem Weg auch wieder zu sich selbst zu finden.

Der Originaltitel des Buches lautet „Les Victorieuses“, die Siegerinnen, und ja, starke Frauen sind sie allesamt. Blanche, Solène, die Frauen im Palais. Sie waren zwar nicht auf Rosen gebettet und wurden von widrigen Lebensumständen in die Knie gezwungen, aber sie haben nicht aufgegeben, sich gestellt, gewehrt, Unterstützung gefunden. Natürlich lief es nicht immer glatt, gab es Rückschläge, aber dennoch sind sie als Siegerinnen aus dem Kampf hervorgegangen.

Ist „Das Haus der Frauen“ deshalb ein feministischer Roman? Ja, in der Tat, das ist er. Colombani rückt unterschiedliche Themen durch die persönlichen Geschichten der Bewohnerinnen in den Fokus: Die Bereitschaft der Frauen, den Erwartungen/Wünschen von Eltern und Partnern bis hin zur Selbstverleugnung zu entsprechen. Ihre eigenen Träume zu vergessen. Sie spricht die Vergewaltigungen obdachloser Frauen und die Nicht-Wahrnehmung dieser Verbrechen in der Öffentlichkeit an. Die rituellen Verstümmelungen kleiner Mädchen. Die Misshandlungen in der Ehe, die mit einem Schulterzucken abgetan werden. Die Namenlosigkeit derer, denen man einen Platz in der Gesellschaft verwehrt.

Ein Roman, der die Leserin nachdenklich zurücklässt. Sehr empfehlenswert