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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 09.03.2020

Realistisch, schockierend, spannend

Die Wächter
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Stell‘ dir vor, du lebst in den USA und bist Afroamerikaner. Wirst eines Verbrechens beschuldigt, das du nicht begangen hast. Stehst vor Gericht, hast einen Pflichtverteidiger, der seinen Job nur halbherzig ...

Stell‘ dir vor, du lebst in den USA und bist Afroamerikaner. Wirst eines Verbrechens beschuldigt, das du nicht begangen hast. Stehst vor Gericht, hast einen Pflichtverteidiger, der seinen Job nur halbherzig erledigt und wirst trotz zweifelhafter Beweise von einer überwiegend weißen Jury schuldig gesprochen. Es erwartet dich eine langjährige Haftstrafe oder das Todesurteil. Wenn du sehr viel Glück hast, reagiert eine der Organisationen, die gegen Justizirrtümer kämpfen, auf deinen Hilfeschrei und nimmt sich deines Falls an. Wenn nicht, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass du mit dem Leben bezahlst.

In John Grishams „Die Wächter“ kämpfen die „Guardian Ministries“, eine vierköpfige Gruppe engagierter, chronisch unterbezahlter Streiter für Gerechtigkeit, gleich um zwei Leben. Zum einen ist da Duke Russell, beschuldigt der Vergewaltigung und des Mordes an einer weißen Jugendlichen, zum anderen Quincy Miller, der für den Mord an seinem Scheidungsanwalt in der Todeszelle sitzt. Cullen Post, der frühere Priester und jetzige Anwalt der Gruppe, ist von ihrer Unschuld überzeugt. Und er scheut kein Risiko, wenn es darum geht, seine Klienten zu rehabilitieren. Auch wenn er bei seinen Nachforschungen skrupellosen Gegnern auf die Füße tritt und sein eigenes Leben in Gefahr bringt.

Grisham zeigt mit dem Finger auf ein marodes Rechtssystem, in dem sich nicht nur Polizisten und Richter sondern auch Anwälte auf die Aussagen unzuverlässiger Zeugen und zweifelhafter Gutachter verlassen. Nicht zu vergessen die privatisierte, profitorientierte Gefängnisindustrie, die natürlich Vollbelegung erwartet.

Die Mischung aus „Cold case“ Ermittlung einerseits und Justizthriller andererseits generiert einen höchst spannenden, realistischen, aber über weite Strecken auch schockierenden und wütend machenden Roman über Ungerechtigkeit und Korruption in God’s Own Country, in dem die Menschenrechte offenbar nur für die weiße Bevölkerung gelten.

Mit diesem Roman beweist John Grisham einmal mehr, dass er zu Recht zu den ganz Großen des Genres gehört. Lesen!

Veröffentlicht am 03.03.2020

Eine unterhaltsame Reise durch Zeit und Raum

Einfach alles!
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Nicht nur wer kleine Kinder und/oder Enkel hat, wird dieses Kompendium zu schätzen wissen, kommen aus deren Mündern doch oft die erstaunlichsten Fragen, meist mit einem „Warum?“ eingeleitet. Auch wir Erwachsene ...

Nicht nur wer kleine Kinder und/oder Enkel hat, wird dieses Kompendium zu schätzen wissen, kommen aus deren Mündern doch oft die erstaunlichsten Fragen, meist mit einem „Warum?“ eingeleitet. Auch wir Erwachsene sind in der Regel nicht auf allen Gebieten bewandert und mit jeder Epoche vertraut.

Aber Hilfe ist in Sicht: ähnlich wie Bill Bryson bietet Christopher Lloyd, der ehemalige Wissenschaftsjournalist der Sunday Times, hier Unterstützung. Höchst unterhaltsam und dennoch den wissenschaftlichen Fakten verpflichtet. Er startet mit der „Entstehung des Universums, der Erde und allen Lebens“ und arbeitet schrittweise über die verschiedenen Zeitalter und Epochen die diversesten Themen bis zu unserer Gegenwart, der „Welt, wie wir sie kennen, und was die Zukunft bringen könnte“, ab. Hilfreich sind hier auch immer die Zeitleisten, die jeweils zu Beginn die Highlights hervorheben und somit auch der ersten Orientierung dienen.

Es ist eine eher unkonventionelle, populärwissenschaftliche Lektüre, immer den historischen Gegebenheiten verpflichtet, die durch den leichten, unterhaltsamen Ton des Autors zum Schmökern verleitet. Farbige Fotos und Illustrationen ergänzen und veranschaulichen die Texte.

Nicht nur ein Nachschlagwerk sondern auch eine höchst lehrreiche Lektüre, eine unterhaltsame Reise durch Zeit und Raum, die mit Sicherheit immer wieder gerne zur Hand genommen wird und bei der auch Erwachsene noch jede Menge Neues erfahren.

Veröffentlicht am 03.03.2020

Erschreckend realistisch

Im Namen der Lüge
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Düsseldorf, noch drei Wochen bis zur Landtagswahl. Die Regierungspartei befürchtet eine Koalition aus Rot-Rot-Grün. Dem Verfassungsschutz wird ein Strategiepapier zugespielt, in dem zum Aufbau einer revolutionären ...

Düsseldorf, noch drei Wochen bis zur Landtagswahl. Die Regierungspartei befürchtet eine Koalition aus Rot-Rot-Grün. Dem Verfassungsschutz wird ein Strategiepapier zugespielt, in dem zum Aufbau einer revolutionären Front in den Metropolen aufgerufen wird. Brisant, denn seit einiger Zeit werden Geld-Transporte von einer Dreiergruppe (Herlinde, Sibylle und Klaus) überfallen, die der ehemaligen RAF zuzurechnen ist. Terror und Anarchie drohen.

Melia Khalid wird beauftragt, zuständig für die Linksextremismus-Abteilung des Verfassungsschutzes. Sie soll die Antifa-Szene unter die Lupe nehmen und geeignete Gegenmaßnahmen ergreifen. Auch wenn sie sich damit am Rand der Legalität bewegt, heiligt der Zweck noch immer die Mittel. Zweifel an den Informanten und der Vorgehensweise sind erlaubt, sollten aber nicht laut geäußert werden. Sonst landet man ganz schnell auf dem Abstellgleis.

Am rechten Rand des Spektrums ermittelt Vincent Veih eigenmächtig in einem gewaltsamen Todesfall, der vorschnell als Beziehungsdrama eingestuft wurde. Die Ermittlungen gestalten sich schwierig, wird ihm doch der Zugang zu Beweismaterial vorenthalten. Aber er lässt nicht locker, und seine Vermutungen bestätigen sich. Das Opfer war ein investigativer Journalist, der eine Veröffentlichung über die Reichsbürger plante und den seine Recherche in der „Freien Republik Hellerhof“ das Leben kostete.

Auf den ersten Blick scheint es, als hätten die beiden Fälle nichts miteinander zu tun, Aber als die Leiche von Herlinde auftaucht, ergibt sich eine Schnittstelle. Aber bald müssen Khalid und Veih feststellen, dass sie einer weitaus größeren Sache auf der Spur sind. Und damit treten sie Männern mit Macht und Einfluss gewaltig auf die Füsse.

Soweit die Ausgangslage in Horst Eckerts neuem Politthriller „Im Namen der Lüge“, und es sind erschreckend realistische Szenarien, mit denen der Autor seine Leser hier konfrontiert. Erschreckend, weil sich vieles davon bereits genau so zugetragen hat. Erschreckend, weil selbst Vorgänge, die auf den ersten Blick eher wie eine Verschwörungstheorie anmuten, sich genau so zutragen könnten, denn spätestens seit den NSU-Morden ist die Rolle des Verfassungsschutzes ins Zwielicht geraten. Dass diese Organisation an den Schaltstellen sitzt, wenn es darum geht, Einfluss auf die Politik zu nehmen…natürlich, es stehen ja genügend Ressourcen zur Verfügung, beispielsweise die Medien, die blauäugig dabei helfen, lancierte Falschmeldungen zu verbreiten. Und dass dabei der eine oder andere Bauer geopfert werden muss, ist nicht weiter tragisch.

„Im Namen der Lüge“ ist ein Politthriller mit Mehrwert, weil er zum Nachdenken anregt. Komplex, mit vielen unterschiedlichen Facetten, ein Crossover zwischen der Arbeit des Geheimdienstes und der Kriminalpolizei. Überzeugend, weil er tief gräbt, Netzwerke sichtbar macht. Zeigt, dass wir uns von dem Glauben an Einzeltäter verabschieden sollten. Unsere gesellschaftspolitische Wirklichkeit abbildet und deshalb auch auf übertriebene Actionszenen verzichten kann. Spannend, weil die Verwicklungen zwischen den Vertretern des Verfassungsschutzes und der Politik in ihrer ganzen Tragweite erst allmählich sichtbar werden. Wie im richtigen Leben.

Veröffentlicht am 28.02.2020

Gekonnter Mix aus Fakt und Fiktion

Der rote Judas
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Kratzt man an der Oberfläche der „Goldenen Zwanziger“ wird sehr schnell klar, dass diese Zeit nicht nur aus Bubikopf und Charleston besteht. Der Erste Weltkrieg hat Wunden geschlagen und nicht nur das ...

Kratzt man an der Oberfläche der „Goldenen Zwanziger“ wird sehr schnell klar, dass diese Zeit nicht nur aus Bubikopf und Charleston besteht. Der Erste Weltkrieg hat Wunden geschlagen und nicht nur das gesellschaftliche Leben auf den Kopf gestellt. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, der wirtschaftliche Aufschwung noch nicht in Sicht. Eine ungewisse Zukunft, in die die Kriegsheimkehrer entlassen werden.

Fremd in der eigenen Stadt, so fühlt sich auch Paul Stainer, als er 1920 aus der Gefangenschaft zurück nach Leipzig kommt. Er muss eine neue Wohnung finden, weil seine Frau offenbar nicht mit seiner Rückkehr gerechnet und mittlerweile einen neuen Partner hat. Und auch der Wiedereinstieg in seinen alten Job als Polizist ist wegen seines Aufenthaltes in der Psychiatrie mehr als fraglich. Aber zumindest diese Befürchtungen lösen sich wegen der Personalknappheit in Luft auf, er wird zum Kriminalinspektor befördert und mit den Ermittlungen im Mord an einem Lehrer beauftragt. Und dann tauchen in einer Fabrikantenvilla weitere Leiche auf. Missglückter Einbruch, oder steckt mehr dahinter? Je tiefer Stainer in die Fälle eintaucht, desto mehr verdichtet sich die Gewissheit, dass die Fälle zusammenhängen und es Verbindungen zu einer Militäroperation in Belgien gibt, die völlig aus dem Ruder gelaufen ist. Mit allen Mitteln soll verhindert werden, dass dies an die Öffentlichkeit gelangt, und dafür schrecken die Beteiligten auch nicht vor Mord zurück. Dünnes Eis, auf dem sich Stainer bewegt.

Für die Heimkehrer hat sich alles verändert. Sie kehren in eine Welt zurück, die sie nicht mehr wiedererkennen. Bettler säumen die Straßen. Die Frauen zeigen Initiative und dringen in Bereiche vor, die bisher Männern vorbehalten waren. Die ehemaligen Soldaten sind körperlich versehrt, traumatisiert, müssen ihre Fronterlebnisse verarbeiten. Die einen suchen Hilfe in medizinischer Betreuung, die anderen tragen es mit sich selbst aus, kämpfen mit ihrer Schuld. Wollen den Menschen erzählen, was 1914 wirklich in Belgien passiert ist. Wollen die Verbrechen der Reichswehr öffentlich machen. Wollen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Und sei es um den Preis des eigenen Lebens.

Es ist ein gekonnter Mix aus Fakt und Fiktion, den der Autor hier abliefert. Äußerst spannend verknüpft er das historisch verbürgte Massaker im belgischen Dinant mit individuellen Schicksalen und lässt den Leser/die Leserin so en passant an einer Geschichtsstunde teilnehmen. Man merkt, dass Ziebula gründlich recherchiert hat, und das betrifft nicht nur die historischen Geschehnisse sondern auch die Beschreibungen der Leipziger Lokalitäten und des Alltagslebens der damaligen Zeit. Aber auch das Gerangel um Macht und Einfluss in den Anfangstagen der Weimarer Republik, die Verflechtungen innerhalb und zwischen den Institutionen, in denen die Nationalisten mit aller Härte und skrupellos gegen alle vorgehen, die ihre Pläne gefährden könnten. Sie als „Rote“ brandmarken, einschüchtern und mundtot machen wollen. Klingelt da etwas?

Veröffentlicht am 18.02.2020

Entlarvend. Fordernd. Außergewöhnlich.

Milchmann
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2018 ging der Man Booker Prize für Belletristik an „Milkman“, und Anna Burns war damit die erste Preisträgerin aus Nordirland. Die Handlung des Romans ist dortverortet, der zeitliche Rahmen nicht näher ...

2018 ging der Man Booker Prize für Belletristik an „Milkman“, und Anna Burns war damit die erste Preisträgerin aus Nordirland. Die Handlung des Romans ist dortverortet, der zeitliche Rahmen nicht näher bestimmt. Man weiß nur, dass sich die Ereignisse während des Bürgerkriegs, der „Troubles“, abgespielt haben, einer Zeit geprägt von Gewalt und Misstrauen.

Schießereien, Autobomben und Molotow-Cocktails, letztere gerne bis zu ihrem Einsatz in Milchkisten deponiert. Eine Zeit die Ängste schürt, Unsicherheit verbreitet. Nur nicht auffallen ist die Parole, die auch die achtzehnjährige Erzählerin verinnerlicht hat, denn gar zu schnell gerät man in das Visier, wird selbst zum Ziel, zum Täter oder zum Kollateralschaden. Kein einfaches Leben für die Heranwachsenden, die sich aus diesen ganzen Verwicklungen raushalten wollen.

„Milchmann“ ist keine einfache Lektüre. Es irritiert, dass sämtliche Personen namenlos sind und lediglich nach ihren Beziehungen zur Protagonisten bezeichnet werden. Irgendwer McIrgendwas, Schwager, Schwester und natürlich Milchmann. Letzterer ein unangenehmer Zeitgenosse, dessen obsessives Verhalten nicht nur die Erzählerin verunsichert. Ein Stalker, der immer dann auftaucht, wenn man es am wenigsten erwartet, permanent präsent ist. Latent bedrohlich.

Dieses Empfinden wird durch die verwendete Erzähltechnik verstärkt, die darauf verzichtet, eine durchgehende Handlung zu entwickeln, zu beschreiben und zu erklären. Es ist quasi ein innerer Monolog, dem wir hier folgen. Die Gedanken und Sichtweisen der Erzählerin, die uns Innen- und Außenwelt präsentiert. Nicht gradlinig sondern sprunghaft und willkürlich.

Entlarvend. Fordernd. Außergewöhnlich. Ein Roman, für den man ein gewisses Maß an Leseerfahrung mitbringen sollte.