Mittelmäßiger historischer Roman mit Unterhaltungswert in der ersten Hälfte
Am Abend vor ihrer Hochzeit wird die schöne und unschuldige Marie von ihrem Bräutigam der Unzucht angeklagt, ins Gefängnis gebracht, dort vergewaltigt und nach einer mehr als schnellen Verhandlung am nächsten ...
Am Abend vor ihrer Hochzeit wird die schöne und unschuldige Marie von ihrem Bräutigam der Unzucht angeklagt, ins Gefängnis gebracht, dort vergewaltigt und nach einer mehr als schnellen Verhandlung am nächsten Morgen ausgepeitscht und aus der Stadt Konstanz vertrieben. Durch die Intrige kann sich ihr Bräutigam, ein unehelicher Sohn eines Grafen, das Vermögen von Maries Vater aneignen. Marie, die nur knapp überlebt, ist fortan gezwungen, als Wanderhure umherzuziehen. Trotz ihrer unglücklichen Umstände, schwört Marie auf Rache.
"Die Wanderhure" von Iny Lorenz war einer der ersten historischen Romane, die ich gelesen habe. In einem Anflug von Nostalgie habe ich ihn kürzlich erneut gelesen, sodass es nun an der Zeit ist, eine Rezension zu schreiben.
Der Roman beginnt spannend mit der Intrige gegen Marie Schärerin und deren Vater. Wie sich das Schicksal von Marie dreht, ist unheimlich mitreißend, hat mich teils aufgrund der schonungslosen Brutalität entsetzt - aber durchweg spannend. Auch die Begegnung mit Hiltrud, und der Anfang von Maries neuem Leben hat mich vom Lesen her überzeugt. Leider fällt die Spannungskurve des Romans stetig und steil ab. Ab der Mitte des Buchs wird es recht langweilig, und die Handlung will nicht mehr so recht in Schwung kommen, sodass ich letzten Endes froh war, als die Geschichte vorbei war.
Der historische Hintergrund ist eher gering. Die Autorin spielt auf das Konzil in Konstanz an, und auch der Name Jan Hus fällt. Die Einbindung in den Roman ist allerdings mehr als oberflächlich. Das Konzil bleibt nur eine Manage für Maries Rache. Das ist sehr schade, denn die damalige Zeit war hochspannend - und es hätte sicherlich Möglichkeiten gegeben, hier eine bessere historische Einbettung zu erreichen.
Die Charaktere sind mittelmäßig überzeugend. Besonders die Charakterentwicklung von Marie fällt eher negativ auf. Vom lieben, schüchternen Mädchen entwickelt sie sich zu einer vorlauten Frau - von Schüchternheit keine Spur mehr. Man mag nun sagen, dass das Leben als Wanderhure diesen Wandel erklärt - dennoch ist es schade, dass die Hintergründe der Charakterentwicklung nicht beleuchtet werden. Der Roman macht einen größeren Zeitsprung - dann ist alles anders und plötzlich hat man eine ganz neue Protagonistin vor sich. Hier hätte weitaus mehr Potential ausgeschöpft werden. Der Umgang mit hochrangigen Adligen oder die Entwicklung von Michel vom vierten Sohn eines Kneipenwirts zum Burgvogt (obwohl ich es ihm gegönnt habe und ihn als Charakter sympathisch finde) ist zudem mehr als unrealistisch.
Obwohl mein neutrales Feedback eher mäßig ausfällt, würde ich den Roman vermutlich auch noch einmal lesen. So ist das vermutlich mit allem, an das man eine positive frühere Erinnerung hat. Zu empfehlen ist der Roman allerdings nur für diejenigen, die mehr Wert auf skandalöse Geschichten als auf einen historischen Hintergrund legen, und die sich an der mittelmäßigen Charakterentwicklung nicht stören. Dann ist es ein ganz unterhaltsamer Roman.