Einfühlsam erzählter, ruhiger, berührender und tiefgründiger Roman über das Altern und das Lebensende!
Spoilerfreie Rezension!
Inhalt
Michka leidet an Wortfindungsstörungen. Nach und nach verliert sie ihre Sprache, bis sie in ein Pflegeheim umziehen muss, weil sie nicht mehr alleine leben kann. In ihrem ...
Spoilerfreie Rezension!
Inhalt
Michka leidet an Wortfindungsstörungen. Nach und nach verliert sie ihre Sprache, bis sie in ein Pflegeheim umziehen muss, weil sie nicht mehr alleine leben kann. In ihrem neuen Roman beschäftigt sich Delphine de Vigan mit dem Lebensende und dem, was uns dann noch bleibt.
Übersicht
Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, Figuraler Erzähler / allwissender Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche und männliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel (weitere Unterteilung innerhalb der Kapitel)
Tiere im Buch: + Im Buch werden kein Tiere verletzt, gequält oder getötet.
Triggerwarnung: Depression, Suizid, Tod von Menschen;
Warum dieses Buch?
Ich hatte über die Bücher der Autorin immer nur Gutes gehört. Außerdem beschäftigt mich das Thema „Altern“ sehr!
Meine Meinung
Einstieg (5 Lilien)
„Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie oft Sie in Ihrem Leben wirklich Danke gesagt haben? Als Ausdruck Ihrer Dankbarkeit, Ihrer Anerkennung, der Schuld, in der Sie stehen.
Wem?“ E-Book, Position 44
Der Einstieg in die Geschichte ist mir sehr leicht gefallen, was bestimmt auch am gelungenen Schreibstil liegt. Ab der ersten Seite wollte ich wissen, wie es weitergeht!
Schreibstil (5 Lilien ♥)
„‘Marie kommt gleich zu Ihnen.‘ […]
‚Oje.‘
Sie hat das ‚Oje‘ in genau dem Ton gesagt, in dem man ‚okay‘ sagen würde.“ E-Book, Position 90
Ich finde Delphine de Vigans Schreib- und Erzählstil ganz wunderbar! Einerseits schreibt sie sehr flüssig, klar, schnörkellos und einfach, gleichzeitig sind ihre Worte aber auch sehr eindringlich, einfühlsam, warmherzig, zärtlich und tiefgründig und schafften es, mein Herz zu erreichen und mich zu berühren. Auch die authentischen Dialoge, in denen das Ausmaß von Michkas Krankheit deutlich wird, sind sehr gut gelungen! Besonders weil man sich auch als Leserin oft schwertut, zu verstehen, was Michka eigentlich sagen möchte. Eine besondere Herausforderung muss die Übersetzung dieses Werkes aus dem Französischen dargestellt haben – doch diese wurde von Doris Heinemann bravourös gemeistert! Ich bin wirklich beeindruckt!
Idee, Inhalt, Themen & Ende (5 Lilien ♥)
„Alt werden heißt verlieren lernen. […] Das verlieren, was einem geschenkt wurde, was man gewonnen, was man verdient, wofür man gekämpft und wovon man geglaubt hat, man würde es für immer behalten.“ E-Book, Position 994
„Dankbarkeiten“ ist ein dünner Roman, der mich trotz der wenigen Seiten berühren und emotional aufwühlen konnte. Es ist stellenweise ein trauriges, deprimierendes, melancholisches, schmerzhaftes und herzzerreißendes Buch, das nur Leute mit einem Herz aus Stein kaltlassen wird. Sensible und empathische Menschen wie ich werden unwillkürlich mit Michka mitleiden. Ich habe auch die eine oder andere Träne beim Lesen vergossen. Trotzdem enthält der Roman auch zahlreiche Momente voller Wärme, Liebe, Dankbarkeit und Humor, wodurch die Geschichte immer wieder aufgelockert wird. Diese Kombination hat mir sehr gut gefallen!
„Dankbarkeiten“ beschäftigt sich auf tiefgründige Weise mit Themen wie Vergänglichkeit, Altern, Verfall, Tod, Sprache, Einsamkeit, Liebe, Dankbarkeit, Verzweiflung und Lebensende. Auch Michkas unheimliche Albträume und die dunkelsten Stunden Deutschlands (Judenverfolgung zur Zeit des Zweiten Weltkrieges) werden im Buch thematisiert. Nie rutscht die Geschichte ins Pathetische oder Kitschige ab. Alte Menschen und ihre Probleme werden in unserer Gesellschaft ja gerne mal verdrängt oder übersehen. Ich finde es schön, dass Delphine de Vigan diesen Lebensabschitt in ihrem Roman einmal in den Mittelpunkt rückt.
Mich selbst beschäftigen die Themen „Älterwerden“ und „Lebensende“ trotz meines relativ jungen Alters sehr. Ich gebe ehrlich zu, dass ich mich vor meinen letzten Jahren fürchte, vor allem nach einem Ferialjob in einem trostlosen Altenheim, der mir die Augen geöffnet hat. Es tut weh, zu sehen, wie diese ehemals stolze und unabhängige Frau immer weiter abbaut und immer hilfloser wird, weshalb das Buch für mich nicht immer leicht zu verdauen war. Trotzdem schafft es die Autorin, dass man bei der Lektüre nicht in ein Loch fällt, weil sie auch die schönen Momente am Ende des Lebens in den Fokus rückt. Ihre Botschaft: Gerade wenn das Lebensende naht, gilt: „Carpe diem – nutze den Tag!“ Jeder gemeinsame Moment mit der alten Dame wird von ihren Bezugspersonen dankend angenommen und genossen, was ich sehr schön fand. Auch das Ende ist sehr passend und gelungen, es hat mich zufrieden zurückgelassen.
Protagonist*innen und Figuren (4 Lilien)
„Sie heißt Michka. Eine alte Dame mit dem Habitus eines jungen Mädchens. Oder ein junges Mädchen, das versehentlich, durch ein böses Schicksal, alt geworden ist.“ E-Book, Position 67
Auch mit ihrer Figurenzeichnung konnte mich die Autorin überzeugen. Besonders gelungen ist die Hauptfigur des Buches: Michka, eine alte Dame und frühere Lektorin mit einer sympathischen Persönlichkeit, die langsam ihre geliebten Worte verliert und dadurch immer hilfloser wird. Hauptsächlich wird Michka jedoch von der jungen Frau, um die sie sich als Kind gekümmert hat, und von ihrem Logopäden beschrieben, meistens sehen wir also Michka durch ihre Augen. Beide waren mir sehr sympathisch – besonders Jérôme mochte ich sehr! Gerade deshalb fand ich es etwas schade, dass ihre Leben im Buch so wenig Raum einnehmen. Ich hätte sie gerne noch näher kennengelernt.
Spannung (4 Lilien) & Atmosphäre (5 Lilien)
„Dankbarkeiten“ ist eine eher ruhige Geschichte, von der man (wenig überraschend) keine Actionszenen, Verfolgungsjagden und atemlos spannende Momente erwarten darf. Dennoch entwickelt das Buch seinen ganz eigenen Sog, weil man unbedingt wissen möchte, wie die Geschichte weitergeht – auch wenn man ein wenig Angst hat vor dem, was auf einen zukommt, weil man weiß, dass es für Michka leider nur mehr in eine Richtung weitergeht: bergab. Die Atmosphäre im Altenheim und die unheimliche Stimmung in Michkas Albträumen fand ich von der Autorin ebenfalls gelungen beschrieben.
Feministischer Blickwinkel (5 Lilien ♥)
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: keine!
Auch hier gibt es (bis auf ganz kleine Schönheitsfehler, auf die ich nicht näher eingehen werde) nichts auszusetzen. Michka ist eine beeindruckende, starke und intelligente und gut gebildete Frau, die in ihren jüngeren Jahren ganz unkonventionell auf eigene Kinder verzichtet hat, um ihre Karriere nicht aufs Spiel zu setzen. Gefallen hat mir außerdem der sensible, einfühlsame männliche Logopäde. Das Buch besteht außerdem problemlos den Bechdel-Test und ist frei von Geschlechterstereotypen.
Mein Fazit
„Dankbarkeiten“ ist ein dünner und leiser, aber sehr emotionaler und berührender Roman. Traurige, schmerzhafte Stellen wechseln sich mit Momenten voller Humor und Wärme ab. Themen wie Vergänglichkeit, Dankbarkeit und das Lebensende werden auf tiefgründige Weise behandelt. Überzeugen konnten mich auch der klare, schnörkellose, aber sehr einfühlsame und warmherzige Schreibstil, die bravouröse Übersetzung, die sympathische Hauptfigur, der Sog, den die Geschichte entwickelt und die authentischen Dialoge. Lediglich die beiden Bezugspersonen Marie und Jérôme hätte ich gerne noch näher kennengelernt. Ich kann euch dieses dünne Büchlein jedenfalls nur wärmstens ans Herz legen – wenn ihr euch bereit dafür fühlt, euch mit dem Thema „Lebensende“ intensiv auseinanderzusetzen. Taschentücher sollten auf jeden Fall in Griffweite sein!
Bewertung
Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Lilien ♥
Umsetzung: 5 Lilien ♥
Worldbuilding: 5 Lilien
Einstieg: 5 Lilien
Ende / Auflösung: 5 Lilien ♥
Schreibstil: 5 Lilien ♥
Figuren: 4 Lilien
Spannung: 4 Lilien
Atmosphäre: 5 Lilien
Emotionale Involviertheit: 5 Lilien ♥
Feministischer Blickwinkel: 5 Lilien ♥
Insgesamt:
❀❀❀❀❀♥ Lilien
Dieses Buch bekommt von mir fünf Lilien und ein Herz – und damit den Lieblingsbuchstatus!