Einzigartig, neuartig und berührend, ein Jahreshighlight!
Auf George Saunders wurde ich durch Fuchs 8 aufmerksam, dass mir sehr gefallen hatte. Da ich mir eh vorgenommen hatte mal meine Komfortzone zu verlassen und mich in anderen Genre umzuschauen, kam das ...
Auf George Saunders wurde ich durch Fuchs 8 aufmerksam, dass mir sehr gefallen hatte. Da ich mir eh vorgenommen hatte mal meine Komfortzone zu verlassen und mich in anderen Genre umzuschauen, kam das Buch wie gerufen. Wobei so ganz ohne phantastisches Element ist dieses Buch ja auch nicht, immerhin kommen hier mehr Tote, als Lebende zu Wort.
Eine Kakophonie aus Hunderte von Stimmen
Wie auch schon in seiner fuchsigen Kurzgeschichte, beschreitet George Saunders völlig neue Wege was die Art des Erzählens betrifft. Der Großteil des Buches ist in einer Art "Dialog" geschrieben, in den die Geister des Oak Hill Cemetery das Geschehen kommentieren. Wer gerade spricht, erfährt man durch einen Vermerk. Ich setzte Dialog in Anführungszeichen, da die Geister nicht zwangsläufig ein Gespräch miteinander führen. Vielmehr hat man den Eindruck, man würde in einem riesigen Raum voller Leute stehen und alle rufen einem gleichzeitig ihre Meinung zu.
Das mag im ersten Moment verwirren, doch mit der Zeit entfaltet sich ein vielstimmiger und interessanter Chor, denn all diese Geister hängen im Bardo fest und haben alle ihre eigene Geschichte. Das Bardo stammt aus dem Tibetischen Buddhismus, bei Saunders ist es eine Art Zwischenreich zwischen dem Tod und dem, was auch immer danach kommt. Menschen, die sich ihren eigenen Tod nicht eingestehen, oder sonst wie das Bedürfnis haben noch etwas zu erledigen, hängen hier fest. Dabei spiegelt sich ihre Lebensweise in ihrem Aussehen und Verhalten wider. Ein Jäger z. B. der sein Leben lang Tiere zum Spaß an der Jagd getötet hat muss nun mit jedem einzelnen getöteten Tier Freundschaft schließen. Hans Vollmann, einer der drei Geister, die die Geschichte maßgeblich erzählen, starb, als er sich gerade darauf freute endlich die Ehe mit seiner geliebten Frau zu vollziehen und läuft nun mit einem gewaltigen Ständer herum. An diesen Stellen beweist der Autor einen makabere, witzigen Sinn für Humor.
All diese Geister verbindet eines: Das Gefühl, noch nicht gehen zu können. Die Gründe dafür sind so vielfältig wie das Leben selbst und Saunders gibt sich sichtlich Mühe ein breites Spektrum an Menschen zu Wort kommen zu lassen. Nach eigenen Angaben kommen in seinem Buch 166 Geister vor. Er bildet damit einen Querschnitt durch die amerikanische Gesellschaft des 19. Jh. ab. Vom Säufer bis zum Kaufmann, Sklaven, wie Sklavenhalter, einfache Bauern und Junggesellen, Mütter, Priester und noch viele mehr, so gut wie jeder hat eine Stimme und auch wenn die meisten kaum eine Seite lang von sich selbst erzählten, berührten mich viele Schicksale.
Historische (Un)genauigkeiten
Doch die zahlreichen Geisterstimmen sind nicht das einzige Besondere an diesem Buch. Zusätzlich hat der Autor Kapitel mit Zitaten und Anekdoten aus historischen Quellen hinzugefügt und nimmt so ganz nebenbei die Subjektivität ebenjener aufs Korn. So führt er zwölf Quellen auf, die den Mond am Abend eines Festes im weißen Haus beschreiben. Je nach Quelle ist Vollmond, Sichelmond oder Neumond und er leuchtet weiß, gelb, blau, grün oder rot. Amüsanter kann man nicht verdeutlichen, das solche Berichte stets von Vergesslichkeit und persönlichen Intentionen des Erzählers getrübt sind. Herr Saunders legt sogar zu diesem Aberwitz noch einen drauf, indem er manche seiner Quellen (aber nicht alle!) frei erfunden hat.
Eine Geschichte vom Tod und dem Leben
Wahrscheinlich klingt das Alles, so wie ich es jetzt erzähle ziemlich chaotisch und eigentlich ist es das auch, aber uneigentlich hatte ich beim Lesen nie das Gefühl, dass der rote Faden fehlt. Dieser findet sich nämlich in zwei zentralen Themen: Präsident Lincoln und der Tod, die letztendlich beide aber gar nicht so deutlich voneinander zu trennen sind. Die historischen Quellen vermitteln das Bild des Präsidenten, wie ihn seine Zeitgenossen kannten, wir als Leser bekommen aber ein anderes Bild des Staatsmannes, nämlich nicht das des stolzen 16. Präsidenten, sondern vielmehr das, eines trauernden Vaters. Eines Vaters, der nicht Abschied nehmen kann und will von seinem heiß geliebten Sohn, dessen tief gehende Trauer nicht nur die Herzen der Geister von Oak Hill erweicht, sondern auch dem Leser nahe geht. Gleichzeitig ist dies keine reine Erzählung voller Trauer und Schatten, nein es findet sich auch Liebe, Licht und vor allem etwas Lebensbejahendes in dem Roman, sodass man das Buch am Ende mit einem guten Gefühl zuschlägt.
Fazit:
In einem neuem Erzählkonzept verarbeitet Saunders die Trauer der Zurückgeblieben ebenso, wie die unerfüllten Träume der Toten und füllt das ganze auch noch mit historischen Anekdoten an. Was auf den ersten Blick wie ein heilloses Chaos anmutet, entpuppt sich beim weiteren Lesen durch den roten Faden: Leben, Trauer, Tod, als grandiose Erzählkunst, die tief berührt. Schon jetzt ein Jahreshighlight!