Platzhalter für Profilbild

Buecherhexe

Lesejury Star
offline

Buecherhexe ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Buecherhexe über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 03.04.2020

Ein Gerücht und seine unabsehbaren Folgen

Das Gerücht
0

Und dabei beginnt alles so harmlos. In einer kleinen idyllischen Stadt am Meer bringen morgens die Mütter ihre Kinder in die Schule, tauschen noch ein paar Worte aus, jede Mutter geht dann ihrer Wege. ...

Und dabei beginnt alles so harmlos. In einer kleinen idyllischen Stadt am Meer bringen morgens die Mütter ihre Kinder in die Schule, tauschen noch ein paar Worte aus, jede Mutter geht dann ihrer Wege. Ganz normaler Alltag. Wenn da nicht eine der Mütter von einer Kindermörderin erzählen würde, die vielleicht sogar in dieser kleinen idyllischen Stadt leben könnte. Von jetzt an nimmt das tragische Geschehen seinen Lauf. Einmal etwas Gesagtes kann nicht mehr zurückgenommen werden. Joanna bekommt die Mörderin nicht mehr aus dem Kopf, vermutet sogar in allen Frauen, die etwa im Alter der Mörderin sind und deren Anfangsbuchstaben S und M sind, also mit der Sally McGowan übereinstimmen, die Täterin zu identifizieren. Ob es eine Laden- oder Hausbesitzerin ist, Joanna vermutet, stellt Theorien auf, verwirft sie wieder, hadert mit sich selbst, warum sie von diesem Gerücht nicht loskommt. Und sie steckt auch andere damit an. Bis sich der Verdacht erhärtet und Joanna plötzlich selbst bedroht wird und ihr Sohn Alfie auch. Bis das letzte Puzzlestück an seinen Platz fällt und Joanna erkennt, dass sie im Auge des Sturms ist und dass Sally McGowan ihr viel Näher ist, als sie sich jemals hätte träumen lassen. Es kommt zu einem filmreifen Showdown, im Laufe dessen Sally McGowan die Bluttat von vor über 50 Jahren vor unseren Augen wieder auferstehen lässt. Sally war damals selbst ein Kind, 10 Jahre alt, von den Eltern geschlagen und misshandelt, vom Vater noch zusätzlich sexuell missbraucht, war sie ein Kind ohne Kindheit. Der fünfjährige Junge starb mit dem Messer in der Brust, ein Messer das Sally vorher noch in der Hand gehabt hatte. Sally wurde verurteilt lebte lange Zeit in einer besonderen Anstalt für straffällige gewalttätige Kinder, wurde nach langen Jahren entlassen, bekam eine falsche Identität und lebte unentdeckt und fern der Öffentlichkeit, immer bemüht keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch die Familie des getöteten Kindes fand keine Ruhe. Immer wieder tauchten Journalisten auf, rissen alte Wunden auf, hielten in der Mutter und in der Schwester des getöteten Kindes den abgrundtiefen Wunsch nach Rache wach. Da sie kein Zeugenschutzprogramm genossen, so wie Sally McGowan, waren sie der Öffentlichkeit preisgegeben, praktisch Freiwild.
Ich kann beide Parteien gut verstehen: sowohl die Mutter und Schwester des kleinen Robbie Harris, die von Rachegedanken zerfressen keine Ruhe finden können, als auch die Erwachsene Sally McGowan, die ihr Leben dafür hergeben würde, den einen schrecklichen Moment ihrer Kindheit ungeschehen zu machen. Ihr Leben ist zerfressen von Selbstvorwürfen und Reue, Gedanken, die sie aber niemandem zeigen kann, weder den liebsten Menschen, die sie umgeben, noch irgendjemand anderem. Nur eine einzige Frau weiß Bescheid, die kann ihr aber auch nur heimlich helfen und sie unterstützen, denn es darf ja niemand von dem schrecklichen Geheimnis erfahren.
Die Sprache ist perfekt an die Handlung angepasst: zuerst heiter, angenehm, so wie das Leben in Flinstead selber, ändert sie sich im Laufe des Romans, wird düsterer, dunkler, voller kataphorischer Textverweise, die zuerst den Gedanken an eine Paranoia Joannas denken lassen, weil sie plötzlich überall Gefahren und Bedrohungen zu erkennen glaubt und dann auf die drohende Gefahr anspielen, in der Joanna und Alfie schweben.
Nach dem Coup de Théâtre löst sich die Handlung auf, alle Fäden werden zu Ende gesponnen, Sally McGowan hat wieder eine neue Identität bekommen und lebt irgendwo an einem anderen Meer in Sicherheit und unerkannt, Joanna, ihr Freund Michael und ihr gemeinsamer Sohn Alfie leben weiter in der kleinen Stadt am Meer, alles ist gut.
Na ja, fast gut. Denn die letzte Szene im buch rüttelt alles wieder auf und lässt die Ereignisse damals, in dem zerfallenden Haus in den sechziger Jahren in ein anderes Licht erscheinen. Und wir, die Leser kommen wieder ins Grübeln.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 11.03.2020

Geschichte aus einem anderen Blickpunkt

Der Empfänger
0

Ein vielschichtiger Roman der eine recht turbulente Zeit des 20 Jahrhunderts zum Thema hat. Auf drei Zeitebenen spielend und auf drei Kontinenten, beginnt und endet der Roman in Costa Rica 1953. Dies ist ...

Ein vielschichtiger Roman der eine recht turbulente Zeit des 20 Jahrhunderts zum Thema hat. Auf drei Zeitebenen spielend und auf drei Kontinenten, beginnt und endet der Roman in Costa Rica 1953. Dies ist die Rahmenhandlung und die erste Zeitebene.
Die Haupterzählung spielt in den USA, genauer in New York. Nach dem ersten Weltkrieg, der Vater ist gleich zu Beginn des Krieges gefallen, beschließen zwei Brüder aus Deutschland nach Amerika auszuwandern. Doch der jüngere verliert durch einen Unfall ein Auge, er kann nicht mehr nach Amerika, auf Ellis Island würde er sofort ausgemustert werden. So bleibt er in Deutschland, heiratet, hat zwei Kinder. Joseph, nun Joe, der nach Amerika ausgewanderte Bruder, schlägt sich durch, arbeitet zuletzt in einer Druckerei und in seiner freien Zeit ist er als Amateurfunker in Verbindung mit der ganzen Welt. So lernt er Lauren kennen, eine junge Amerikanerin, die auch in New York lebt, so wie er. Doch es kommen schwere Zeiten. Nach der großen Wirtschaftsdepression geht es zwar aufwärts, aber langsam. Und immer mehr dringt das Politikum in das Leben aller Menschen, in Deutschland wie in den USA. Die Deutschen, die ausgewandert sind, spalten sich in zwei große Parteien: einerseits die vor Nazideutschland geflüchteten, Juden, Liberale, Intellektuelle. Andererseits die Deutschen rechter Gesinnung, die auch in Amerika der gleichen Propaganda frönen, wie auch in der alten Heimat. Sie versuchen Stimmung für Hitler zu machen, treten diversen Volksgruppen bei, sind fest überzeugt, Hitler allein könne Amerika retten, spionieren für das Hitlerregime. Joe lebt still, zurückgezogen, fühlt sich von dem groben Hurrapatriotismus seiner Landsleute abgestoßen. Doch durch sein Hobby ist er den Nazi-Agenten aufgefallen und ohne seinen Willen in deren Machenschaften verwickelt. Er muss geheime Botschaften nach Deutschland funken. Joe versucht auszusteigen, er will da nicht mitmachen, aber er wird brutal zusammengeschlagen. Letztendlich wendet er sich an das FBI, aber die helfen ihm auch nicht, sie wollen ihn als Doppelagenten benutzen. Erst als Joe Klein einen Autounfall provoziert, wird er von beiden Seiten in Ruhe gelassen und einige Monate danach endlich verhaftet. Er bleibt interniert bis 1949, als er nach Deutschland abgeschoben wird. Einige Monate lebt er bei seinem Bruder Carl, kann aber nicht heimisch werden weder in der Enge der zerbombten deutschen Städte, noch in der kleinbürgerlichen Atmosphäre in der Carl lebt und in der er auch seine Frau Edith und seine beiden Kinder zu leben zwingt. Die zwei Brüder finden weder den richtigen Umgangston miteinander noch auf seelischer Ebene zueinander. Joe wandert nach Südamerika aus. Als er merkt, dass er wieder von den alten Naziseilschaften umgarnt wird, wie einst in New York, gelingt es ihm endlich einen klaren Trennstrich zu ziehen, Nein zu sagen und sich nicht mehr in dunkle Machenschaften der Altnazis einwickeln zu lassen.
Während Costa Rica und 1953 dem Roman einen Rahmen geben, sind die beiden anderen Zeit- und Handlungsebenen miteinander verwoben, sie wechseln sich ab, ergeben zusammen eine interessante bunte Patchworkdecke. Einerseits Joes Leben in New York, sein Versuch sich von den ausgewanderten Deutschen fern zu halten, die Art wie er von Agenten der Reichsabwehr gezwungen wird zu kooperieren, seine Liebe zu Lauren, die ihm letztendlich zuvorkommt und ihn beim FBI anzeigt, seie Tätigkeit als Doppelagent, seine Zeit im Gefängnis, all dies wird in Rückblenden erzählt während er 1949 bei seinem Bruder lebt, versucht seiner Schwägerin Edith und den Kindern zu helfen, weil Carl, genau wie weiland der Vater zu Gewaltausbrüchen neigt.
Für Carl spricht, dass er sich während der Nazizeit geweigert hat ein arisiertes Haus zu kaufen und es vorgezogen hat ein altes, renovierungsbedürftiges Haus zum „normalen“ Preis zu kaufen und auch sonst sich nicht politisch betätigt hat. Im Gegensatz dazu Joe. Er hat auch versucht apolitisch zu leben, es ist ihm aber nicht gelungen und so musste er geheime Nachrichten nach Deutschland funken. Nur durch seine Verhaftung konnte er sich sowohl der deutschen Abwehr als auch dem FBI entziehen. War er tapfer? War er feige? Spielt keine Rolle. Joe Klein ist ein ganz normaler Mensch, weder ein Held noch ein Hasenfuß. Er will einfach nur so leben, wie es ihm gefällt, ohne anderen zu schaden oder zu verletzen. Er ist aber beileibe kein Herr Biedermann. Der bekanntlich die Brandstifter selbst in sein Haus lies. Joe versucht sich zu wehren, versucht auszusteigen, zu kündigen. Erst viele Jahre später wird ihm dies gelingen, in Costa Rica.
Der Schreibstil ist eher nüchtern, dadurch Joes Lebensgeschichte glaubwürdig machend. So klar und präzise der Stil ist, so überraschen ab und zu Sprachbilder von eigenartiger Schönheit: die Nacht senkt sich über Harlem wie ein Schleier der die Farben stetig löscht (S. 151), Nadelbäume die vor dem Nachtblauen Himmel Fächer bilden, „filigrane, asiatisch wirkende Bäume“ (S. 213), das Meer wie „Wasserteppiche die sich übereinander schoben“ (S. 219). Während der Überfahrt Richtung Buenos Aires bestaunt Joe den „Sauberen Nachthimmel“ (s.230)
Ein gutes, schön und spannend geschriebenes Buch mit einem interessanten Thema und literarisch auf hohem Niveau gehalten.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 11.03.2020

Was ist Liebe?

Ein wenig Glaube
0


Liebe ist mit einem kleinen Jungen auf dem Friedhof Verstecken zu spielen.
Liebe ist diesem kleinen Jungen den schmackhaftesten Apfel der Welt zu zeigen, zu erklären und zu geben, einen Apfel der nach ...


Liebe ist mit einem kleinen Jungen auf dem Friedhof Verstecken zu spielen.
Liebe ist diesem kleinen Jungen den schmackhaftesten Apfel der Welt zu zeigen, zu erklären und zu geben, einen Apfel der nach Erdbeeren und aller Süße der Welt schmeckt.
Liebe ist den Tod des eigenen Kindes zu überwinden und ein fremdes Mädchen zu adoptieren und es bedingungslos zu lieben.
Liebe ist all die pubertären Terroreinlagen des Mädchens zu erdulden, nie den Kontakt zum Mädchen abreißen zu lassen und es weiterhin bedingungslos zu lieben.
Liebe ist dem Mädchen – nun eine junge Frau - und ihrem Sohn zuliebe, in eine Kirche zu gehen, in der einem alles fremd und unangenehm ist. Aber wenn die junge Frau das so will, nimmt man es klaglos hin. Die Eltern wollen verhindern, dass der Kontakt zur Tochter und zum Enkel abbricht.
Liebe ist zu akzeptieren, wenn ein fremder unsympathischer Mensch das eigene Leben vor anderen Leuten ausbreitet und seine persönlichen Ansichten darin hineininterpretiert, nur um in der Nähe der Tochter und des Enkelsohnes bleiben zu können. Der selbst ernannte Priester tut dies, weil er Shilohs Eltern instrumentalisieren will, sie den anderen Gläubigern als Anhänger darstellt um dadurch sein eigenes Ansehen zu steigern.
Liebe ist weiterhin in diese Kirche zu gehen, obwohl man den Schweinepriester durchschaut in all seinen schlechten Absichten und betrügerischen Plänen, nur um weiterhin präsent zu sein im Leben der Tochter und des Enkels.
Liebe ist dem kranken Enkel beizustehen, ihn buchstäblich in letzter Sekunde der Sekte zu entreißen und in ein Krankenhaus zu bringen.
Liebe ist die Tochter zu lieben obwohl sie dem Vater Besuchsverbot im Krankenhaus erteilt hat, weil der Enkel im Koma liegt und künstlich am Leben erhalten wird. Und Liebe ist auch, sein Haus trotz des Besuchsverbots, der Tochter weiterhin uneingeschränkt zur Verfügung zu stellen.
Liebe ist sich über das Besuchsverbot hinwegzusetzen und dem Kind einen blühenden Apfelzweig ins Zimmer zu stellen.
Liebe ist mit seinem ganzen Herzen im Stillen und mit den wahren Freunden für das Leben des Enkels zu beten.
Liebe ist in einem späten Wintereinbruch eine ganze Nacht Feuer im Apfelgarten am Leben zu erhalten, bei Sturm und heftigen Schneefall, um wenigstens ein paar Apfelbäume zu retten.
Liebe ist dem todkranken Freund den Herzenswunsch zu erfüllen und ein wunderschönes Thanksgiving im sonnigen September zu feiern, weil nicht sicher ist, ob der Freund bis Thanksgiving noch lebt oder schon zu schwach sein wird, um am Fest teilzunehmen.
Liebe ist dem Freund beizustehen, ihn zu allen Arztterminen zu fahren, zu pflegen, bei ihm zu sitzen, ihm das Gefühl zu geben, nicht allein zu sein.
Liebe ist, sich mit seinem Partner wortlos zu verstehen, zu wissen was der geliebte Mensch denkt, was wichtig ist, worauf es wirklich ankommt im Leben.
Liebe ist all das und noch vieles mehr, aber vor allem, sie ist leise, unaufdringlich, immer präsent, immer eine Stütze für die anderen.
Aber mal eine andere Frage: was ist Glaube? Wie weit kann oder darf Glaube gehen? Für einen Menschen zu beten ist gut und schön, wir tun es ja alle, die an Gott glauben. Aber kann das Gebet wirklich den Arzt oder die medizinische Behandlung ersetzen? Kann der Glaube Insulin ersetzen? Der Glaube versetzt bekanntlich Berge. Den Blutzuckerspiegel aber nicht.
Kann man wirklich ein fünfjähriges Kind zwingen kranke Menschen zu berühren, weil man das Kind als Heiler darstellen will? Heiler mit magischen Kräften, die aber durch das Gebet des betrügerischen Priesters gelenkt werden müssen? Hat Shiloh, die Mutter des kranken Isaac, wirklich geglaubt, sie würde ein Heilerkind haben, oder wollte sie nur nicht ihre Verbindung zum falschen Prediger aufs Spiel setzen? Wann geht Glaube in Fanatismus über?
Kreationismus oder Evolution? Ist das wirklich eine Frage? Schlagen wir sie doch mit eigenen Argumenten. Gott hat die Sonne nicht am ersten Tag geschaffen. Bis dahin gab es also nicht den 24 Stunden Tag, also hätte der erste Tag länger dauern können, einige Millionen Jahre vielleicht? Und warum nicht Evolution akzeptieren? Hat Gott nicht nach der Sintflut und mit Erschaffung des Regenbogens versprochen, sich nicht mehr in die Geschicke der Erde einzumischen? Wäre da also eine nachträgliche Evolution nicht annehmbar? Das Thema der Kreation wird nicht vordergründig im Roman behandelt, nur am Rande, in einem Gespräch zwischen Peg Hovde, Isaacs Großmutter und einer jungen streng gläubigen Frau, die lauthals und selbstsicher ihre kreationistischen Theorien posaunt.
Dies ist ein berührendes Buch, das keinen kalt lässt. Aus jeder Seite schlägt einem die Liebe entgegen, in ihrer schönsten und reinsten Form, selbstlos, uneigennützig, immer auf das Wohl und das Glück der anderen bedacht. Zu keiner Zeit kitschig oder pathetisch, ist die Liebe die Lyle und Peg vereint und die sie ihrer Tochter, ihrem Enkelsohn, ihren Freunden und der Natur angedeihen lassen herzerwärmend, ergreifend und bezaubernd. Im Kontrast dazu steht Shiloh, die trotz der Liebe die sie seit ihrer frühesten Kindheit erfahren hat, zu einer engstirnigen bornierten Sektiererin wird, das Leben ihres Kindes aufs Spiel setzt, weil ihr Prediger Glaube und Gebet über alles setzt. Sie bricht den Kontakt zum Vater ab, verzeiht ihm sein Eingreifen nicht. Aber Lyle musste eingreifen. Isaac lag im Sterben, der Schweinepriester zog es vor mit anderen Sektenmitglieder zu beten anstelle das Kind in Behandlung zu geben. Und weil Lyle recht hat und Shiloh erkennen muss, wie falsch sie an ihrem Kind gehandelt hat, zieht sie es vor, Lyle das Zerbrechen ihrer Beziehung mit dem Prediger vorzuwerfen. Aber der Prediger ist ein Betrüger. Er hat andere Liebschaften nebenher, eine andere Frau geschwängert, Geld entwendet, den kleinen Isaac gegen Bezahlung für Kranke beten lassen.

Jetzt könnten wir sagen, das geschieht weit weg von uns, irgendwo in Amerika. Wirklich? Ist Amerika wirklich so weit weg? Wer erinnert sich heute noch an den Fall „Olivia“, das sechsjährige Mädchen aus den Neunzigern? Das Mädchen hatte Krebs, die Eltern vertrauten dem Wunderheiler Ryke Geerd Hamer und verweigerten die Behandlung für das Kind. Erst nachdem den Eltern das Fürsorgerecht entzogen wurde, konnte das Kind behandelt und geheilt werden. Andere Kinder hatten nicht so viel Glück. Immer wieder werden Fälle in Westeuropa bekannt, in denen Gebete und Vitamine mehr Vertrauen entgegengebracht wird als der Medizin. Wenn das bei Erwachsenen geschieht, können wir das hinnehmen. Gegen Borniertheit ist kein Kraut gewachsen. Aber im Fall von Kindern muss ein klarer Trennstrich gezogen werden. Zum Glück erlaubt es das Gesetz in der EU den Eltern in solchen Fällen die Erziehungsberechtigung zu entziehen und das Kind in eine korrekte medizinische Behandlung zu geben.
Butler greift in seinem Buch dieses Thema auf, aber nicht vordergründig, marktschreierisch. Sehr still und zurückhaltend und nur sehr langsam wird immer mehr der Problematik aufgedeckt. Wie nebenbei erfahren die Großeltern, was der Prediger mit ihrem Enkel vorhat, das Kind als Heiler durch Gebet und Fürsprache einzusetzen. Das erste Mal merken Lyle und Peg, dass etwas im Argen liegt, als Isaac den ersten diabetischen Anfall hat und Shiloh ihnen vorwirft, das Kind ins Krankenhaus gebracht zu haben. Das steigert sich, als Shiloh die Besuche ins Elternhaus unterlässt, weil der Vater ihr nicht gläubig genug sei. Erst nach dem Gespräch Lyles mit der Chorleiterin der Sekte ist klar, der Junge schwebt in Lebensgefahr und Lyle greift dann ein und holt das Kind mit Gewalt aus dem Elternhaus raus um es ins Krankenhaus zu bringen.
Gottesglaube ja, aber nicht Fanatismus. Mit Liebe und Verständnis kann man das Leben meistern. Dies ist vielleicht die Kernaussage des Buches.
Abschließend einen bekannten Spruch aus den Korinthern:
Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. Dieses Buch erbringt einen wunderschönen Beweis für diesen Spruch.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.08.2024

Gibt es gerechte Kriege?

Die Unvollkommenheit des Glücks
0

Clara Maria Bagus schreibt so leicht, fast oberflächlich und gleichzeitig erschütternd über den Krieg, dass es mir den Atem verschlagen hat. Zunächst glaubt Lew der Propaganda, belächelt seine Mutter und ...

Clara Maria Bagus schreibt so leicht, fast oberflächlich und gleichzeitig erschütternd über den Krieg, dass es mir den Atem verschlagen hat. Zunächst glaubt Lew der Propaganda, belächelt seine Mutter und erst nach zahlreichen Einsätzen und endlich aufkeimenden Fragen merkt er im Gespräch mit seinem Kopiloten, wofür er sich eigentlich hergibt. Lew wird das auch nicht mehr lange mitmachen, er wird aktiv gefangene Kinder retten und sich in Gefahr im eigenen Land bringen. Denn ein unzurechnungsfähiger und machtgieriger Präsident hat auch genau solche Wasserträger, die blind seinen Befehlen gehorchen. Der Traum vom einstigen Reich, die eingebildete Schmach, das eigene Streben nach immer mehr Macht, und die Motive und Hintergründe für einen ungerechten Angriffskrieg sind da.
Der Gegenspieler von Lew ist Ana, lange Zeit ein richtiges Mauerblümchen. In der Kindheit und Jugend von Mutter und Schwester drangsaliert und unterdrückt, wird ihre achtjährige Beziehung zu Mika auch immer mehr zu einem Gefängnis. Langsam, sehr langsam, findet sie aus dieser seelischen Gefangenschaft heraus, begegnet anderen Menschen, öffnet sich in Gesprächen mit Margret, der Leiterin eines Waisenhauses im Urlaubsort von Ana. Nun blüht Ana auf, arbeitet im Waisenhaus mit und bringt sich da voll ein.
Das Buch zerfällt in zwei Teile, die abwechselnd zu Wort kommen. Lews Teil liest sich mit Spannung, ist brisant, weil wir den Krieg in der Nachbarschaft erkennen und den Aggressor verachten. Die Sprache ist unverblümt, direkt, reißt uns mit. Lews Gedankengänge und Schlussfolgerungen sind direkt nachvollziehbar und einleuchtend. Auch seine schwere Zeit im Gefängnis, die dermaßen an die Ära des KGB und an das berüchtigte Lubjanka erinnert, dass es mir Schauer über den Rücken gejagt hat,.Aber es stehen nicht alle hinter dem psychopathischen Präsidenten. Plötzlich hören Lews Misshandlungen und Schläge auf. Der brutalste und gefährlichste aller Wärter nimmt ihn unter seine Fittiche, weil ein Freund ihn darum bittet. Es ist diese stillschweigende und verborgene, aber selbstverständliche Solidarität, die an den unglaublichsten Stellen in Erscheinung tritt, die uns Hoffnung macht, dass dieses wunderbare Land und seine offenherzigen und ehrlichen Menschen doch noch zu einem zivilisierten und mitfühlenden Leben fähig sind.
Bei den Kapiteln über und mit Ana musste ich schwer arbeiten, um nicht einzuschlafen, um weiterzulesen, ohne direkt zu Lew weiterzublättern. Erst später, als sie aktiv im Waisenhaus mitarbeitet und sie sich um gerettete Kinder kümmert, wurde es wieder interessant. Für meinen Geschmack hat Bagus viel zu viele alte, ausgelutschte Gemeinplätze da verwendet, solche philosophischen Platituden zu Papier gebracht, dass sie kaum tragbar für das Buch sind. Diese Gedanken, die sich um die gleiche Mitte drehen, egal ob Ana oder Margaret, sie äußern, kratzen hart am Oberflächlichen vorbei. Da muss ich leider einen Punkt abziehen. (und an mich vergeben, weil ich trotz Gähnen und nervösen Fingerzucken zum nächsten Kapitel zu blättern, drangeblieben bin). “Wir alle müssen uns auf den Weg machen. Ganz gleich, wie lang er ist und wohin er uns schiebt” (S. 100) oder “Wir leben nur einmal. Wir haben nur dieses eine Leben…” (S. 176) oder: “Sie ist endlich zurück in ihrem eigenen Leben, zu ihren eigenen Bedingungen.” (S 194) “Niedrige Erwartungen zu haben, ist die glücklichere Variante. Dann wird man nicht so oft enttäuscht…. Das Schicksal formt uns, unsere Persönlichkeit, unseren Charakter. Niemand weiß, wie man lebt. Leben ist ein Ausprobieren. Versuch und Irrtum” (S. 197). Unter uns Pastorentöchter gesagt, was ist der genaue Unterschied zwischen Persönlichkeit und Charakter?
Das Buch hat ein versöhnliches Ende. Der Wahnsinnspräsident verliert an allen Fronten und muss seine Niederlage eingestehen. “Sein (des Präsidenten) Gesicht ist verhärtet, grau und müde - wie rissiger Granit -, als er abgeführt wird. Abgeführt von der Bühne einer Welt, die er schlechter gemacht hat, als sie vor seiner Präsidentschaft war” (S. 403)
Aber Ana und Lew finden zueinander. Als Lew nach langen Haft bei Kriegsende endlich aus dem Gefängnis entlassen wird, sind alle 37 von ihm geretteten Kinder - davon einige mittlerweile erwachsen geworden - zur Stelle, um ihn zu begrüßen, ihre Dankbarkeit zu zeigen. Zusammen mit Ana sind sie alle gekommen. Ana und Lew lassen einander nicht mehr los. Zu kostbar ist das Leben um getrennt zu sein.
Das Buch hat ein paar Szenen, die richtig zu Herzen gehen, ohne kitschig zu sein: als 36 Kinder in Fallschirmen über der norddeutschen Halbinsel in Fallschirmen zu Boden gehen und die Menschen aus der Umgebung sofort zu Hilfe eilen, oder die Szene, als Ana bei Lews Prozess auftaucht und sie sich erkennen. Die nächste bewegende Szene ist Lews Entlassung aus der Haft und schließlich die letzte Szene im Buch. Sie ist die logische Schlussfolgerung von Anas und Lews Geschichte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.06.2024

Ein Fantasy zum Träumen

Vengeance (Academy of Dream Analysis 1)
0

Interessanter Fantasy, der aber so einige Fragen aufwirft. Warum sind Menschen, die Träume beeinflussen, besser als Menschen, die in die Träume anderer eindringen können? Die einen werden direkt “herangezüchtet” ...

Interessanter Fantasy, der aber so einige Fragen aufwirft. Warum sind Menschen, die Träume beeinflussen, besser als Menschen, die in die Träume anderer eindringen können? Die einen werden direkt “herangezüchtet” und hochgelobt, die anderen verteufelt und verdammt. wo ist eigentlich bitte der Unterschied? Die Direktorin der Traumakademie, Jupiter Sterling, sagt: 'Wir träumen um die reale Welt zu beeinflussen… um die Welt zu verbessern” (S. 11). Aber dafür lässt sie ziemlich sadistische Lehrer auf ihre Zöglinge los, wie Professor O. Andere Frauengestalten im Roman kommen auch nicht so gut weg, wie zum Beispiel die zwei Mütter von Nemesis und Victoria. Kalt, egoistisch, quälen sie ihre Töchter und geben ihnen das Gefühl, nie gut genug zu sein. Nemesis von Winthers Counterpart ist der gutaussehende (wie denn sonst?) Mercy Sterling, Vollwaise und Neffe der Schulleiterin. Wie es zu erwarten war, sind sie zuerst verfeindet und werden dann allmählich zu Liebenden. Ist auch gut so, sonst wären wir um einige treffende Repliken ärmer.
Ich weiß, Sex sells, aber dieses Buch ist gar nichtmal so schlecht. Es hat ein paar interessante Ideen, die weiter verfolgt und ausgebaut werden. Es hat interessante jugendliche Hauptgestalten und einige fragwürdige Erwachsene. Dass sich Nemesis und Mercy ineinander verlieben ist unausweichlich. Weshalb also die expliziten und schwachen Sexszenen? Es hätte sie wahrlich nicht gebraucht. Es bringt wirklich nichts, wie Audrey Carlan zu schreiben, bloß Minuspunkte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere