Frauen in einer neuen Zeit
VioletEngland in den 30iger Jahren. Violet ist eine alleinstehende Frau. Unverheiratet und kinderlos ist sie für die Gesellschaft das, was man als „alte Jungfer“ bezeichnet. Seit dem Tod ihres Verlobten im Ersten ...
England in den 30iger Jahren. Violet ist eine alleinstehende Frau. Unverheiratet und kinderlos ist sie für die Gesellschaft das, was man als „alte Jungfer“ bezeichnet. Seit dem Tod ihres Verlobten im Ersten Weltkrieg versucht sie sich ihr eigenes Leben in Winchester aufzubauen, um ihrer herrischen Mutter zu entkommen und ohne der Familie ihres Bruders zur Last zu fallen. Sie schließt sich einer Gruppe von Stickerinnen an, die für die Kathedrale Sitz- und Kniekissen anfertigen. Schnell werden die Frauen und das neue Hobby zu Violet’s Lebensmittelpunkt und nicht zuletzt gibt die Nähe zum älteren Glöckner Arthur ihr den Lebensmut, sich ihrem Leben zu stellen und an ihr Glück zu glauben…
Tracy Chevalier zeichnet in ihrem Roman die Rolle der Frau in den 30igern des 19. Jahrhunderts einfühlsam nach. Es war kein leichtes Leben für die Frauen, da sie oft auf finanzielle Unterstützung durch ihre Familien angewiesen waren und nur allzu oft für ihren emanzipierten Lebensstil von der Gesellschaft naserümpfend ausgestoßen oder gemieden wurden. Es geht um Verlust, Emanzipation, Freiheit und die Auseinandersetzung zwischen alten konservativen Ansichten und neuen selbstbewussten Lebensweisen. Ich fand die Figur der Violet wunderbar gezeichnet. Eine junge, selbstbewusste Frau auf der Suche nach Anerkennung und Liebe, nicht ohne Zweifel an dem, was sie tut, aber dennoch fest entschlossen, sich dem Leben und den an sie gestellten Herausforderungen zu stellen. Violet wird oft von Selbstzweifeln geplagt und sie ist nach wie vor an die Normen und an die familiäre Verantwortung gebunden - eine Rolle, die ihr auch ihr geliebter Bruder aufzwingt. Aber meiner Meinung nach gelingt es der Autorin sehr gut, dass sich ändernde Frauenbild im Spiegel der Zeit und gefangen in den nach wie vor festen Normen zu zeichnen. Unaufgeregt, ruhig und glaubwürdig ist der Schreibstil der Autorin. Gleichzeitig empfand ich, dass die Autorin nie versucht hat, die dargestellten Frauen zu überhöhen. Vielmehr sind es die leisen zwischenmenschlichen Freundschaften – auch die homosexuelle Beziehung zwischen zwei Frauen-Figuren im Buch – die zeigen, wie sich Frauen in der Gesellschaft ihren Platz erkämpfen, trotz aller Widerstände, und welchen enormen Beitrag sie gerade durch den hohen Verlust an Männern im Krieg beim Aufbau ihres Landes geleistet haben. Sozusagen kann man Chevaliers einfühlsamen Roman als eine wunderbare, liebevolle Ode an die Rolle der emanzipierten Frau in den 30iger Jahren verstehen. Wer einen Liebesroman erwartet, wird allerdings nicht auf seine Kosten kommen. Zwar deutet sich eine zarte Bindung zwischen Violet und dem älteren Glöckner Arthur an, aber die Autorin lässt diese Beziehung bewusst und auch wegen vieler konventioneller Umstände außen vor. Vielmehr geht es um Violet und ihren Weg zu einer freien, selbstbewussten Frau, die als ein Vorbild verstanden werden kann. Einen kleinen Abzug muss ich leider beim Tempo der Handlung geben. Obwohl ich die Geschichte wunderbar erzählt empfand, war mir die Entwicklung des Spannungsbogens an manchen Strecken etwas zu langatmig, und die Beschreibungen einzelner Situationen zu detailreich. Klar hat sich die Autorin hier bei der Recherche der Geschichte über die Stickerinnen der Kathedrale von Winchester oder über die Arbeit der Glöckner unglaublich viel Mühe gemacht. Die Einblicke waren interessant und lehrreich, persönlich hätte ich sie aber für die Entwicklung der Figur von Violet nicht gebraucht. Aber das ist meine persönliche Meinung.
Mein Fazit: Ein historischer, einfühlsamer Roman über die Suche einer Frau nach Selbstverwirklichung und persönlichem Glück, in einer Zeit dramatischer gesellschaftlicher Umbrüche. Lesenswert.