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Veröffentlicht am 06.01.2017

Heiter-tragischer Roman um eine aussterbende Spezies - regt zum Nachdenken an

Das letzte Nashorn
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Der Roman um Albrecht & Co. spielt in einem Zeitraum von insgesamt vier Jahren. Da es keine konkreten Datumsangaben gibt, bleibt es offen, ob wir uns hier in der Gegenwart oder (nahen) Zukunft befinden. ...

Der Roman um Albrecht & Co. spielt in einem Zeitraum von insgesamt vier Jahren. Da es keine konkreten Datumsangaben gibt, bleibt es offen, ob wir uns hier in der Gegenwart oder (nahen) Zukunft befinden. Es gibt ja durchaus noch Nashörner auf der Welt, aber wenn man mal nachforscht, so findet man schnell heraus, dass viele Nashornarten bereits ausgestorben sind und der Fortbestand dieses wunderschönen Tieres in Gefahr ist. Schuld daran sind vor allem Wilderer, die die Tiere wegen ihres wertvollen Hornes töten.

Die Geschichte wird abwechselnd aus drei Perspektiven erzählt: Neben dem ehrgeizigen Zoodirektor Edo Morell kommen auch die Tierschützerin Sariah Malan und der betagte Vorsitzende des Zoovorstandes, Frank Rida, zu Wort. Die drei Protagonisten wechseln sich pro Kapitel der Reihe nach ab. Trotzdem hat es bei mir manchmal schon ein bis zwei Seiten gedauert, bis mir anhand des Kontextes klar war, wer nun erzählt. Hier hätte ich mir vielleicht einen kleinen Verweis auf den aktuellen Erzähler gewünscht (z. B. in der Überschrift). Aber das nur am Rande.

Die verschiedenen Perspektiven machen die Geschichte noch spannender, als sie ohnehin ist. An und für sich waren mir alle drei Figuren recht sympathisch, aber Edo hat bei mir ambivalente Gefühle ausgelöst. Auf der einen Seite ist ihm sehr an dem Fortbestand der Nashörner gelegen und auch an dem Wohlergehen der anderen Zootiere. Doch mit der Zeit lernt man, dass es ihm hier vor allem um eine gelungene Präsentation nach außen geht. Denn nur, wenn die Besucher den Eindruck haben, den Tieren geht es gut, werden sie auch wiederkommen. Auch wenn Edo durchaus eine gewisse Verbundenheit zu "seinen" Tieren spürt, so ist ein gelungenes Marketing und die Unterhaltung der Besucher für ihn immer vorrangig, er betrachtet die Tiere als Mittel zum Zweck.

Sariah hingegen liebt Tiere über alles, und eigentlich findet sie es grausam, sie in Käfige zu sperren und auszustellen. Auf Edos Projekt lässt sie sich nur ein, da sie einsieht, dass das Nashorn in der Wildnis keine Überlebenschance mehr hat. Vielleicht gelingt es ja tatsächlich, diese Spezies zumindest in Gefangenschaft vor dem Aussterben zu bewahren. Umso tragischer, dass die Wilderer nun mittlerweile sogar schon ihre Wege in Zoos gefunden haben...

Zwischen Edo und Sariah entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte, die jedoch unter ihren häufigen Meinungsverschiedenheiten leidet. Die Storyline zwischen den beiden wird aber eher in den Hintergrund gerückt, hier steht wirklich Nashon Albrecht im Mittelpunkt.

Frank ist ein gutmütiger, gebildeter Herr, der für Edo väterliche Gefühle hegt und ihn deswegen uneingeschränkt in seinem Vorhaben unterstützt. Als Kunsthistoriker beschäftigt er sich viel mit der Vergangenheit und bietet dem Leser historische Fakten, vor allem aus der Kunstwelt, über das Nashorn. Dies war teilweise interessant, zuweilen aber auch etwas langweilig. Da Frank sich auch mit Sariah gut versteht, steht er oft zwischen den Stühlen.

Der Schreibstil ist lebendig, mit vielen Dialogen. Die Geschichte ist eine Mischung aus heiter und tragisch und hat mit dem Thema "Bedrohte Tierarten" einen sehr ernsten Hintergrund. Dadurch, dass die Nashörner Namen haben, werden sie - zumindest empfand ich es als Leserin so - vermenschlicht, und das macht das Ganze nur noch tragischer, als es sowieso schon ist. Ich habe öfter Seufzer des Bedauerns und der Enttäuschung von mir gegeben, das Schicksal von Albrecht und seinen Artgenossen ließ mich nicht kalt. Ich verrate nicht, ob die Nashörner am Ende aussterben, aber sagen wir so: Das Ende ist sehr realistisch.

Dank Edo lernt man viel über Marketing und Eventmanagement. Seine Ideen sind einerseits tatsächlich erstaunlich kreativ und wirkungsvoll, andererseits überschreiten sie irgendwann auch eine Grenze. Gerade auf den letzten Seiten wurde ich als Leserin mitten hineingezogen in die Gewissenskonflikte der Protagonisten. Wir müssen Tiere anständig behandeln, ihr Überleben sichern - aber dürfen wir aus ihnen Menschen machen? Stört es Tiere überhaupt, wenn ihre Art ausstirbt? Trauern sie um ihre Artgenossen, oder ist es ihnen nur wichtig, dass sie ihre Triebe befriedigen können? Ist das Aussterben von Tierarten nicht seit jeher gängig und gehört einfach zum natürlichen Prozess? Sollten wir aussterbende Tierarten in Ruhe ihre letzte Zeit auf Erden verbringen lassen, oder sollten wir sie herumreichen wie einen Superstar und den Menschen noch einmal die Gelegenheit geben, die letzten lebenden Exemplare aus der Nähe betrachten zu können?

Das Buch regt zum Nachdenken an. Darüber, wie wir Menschen mit Tieren umgehen. Darüber, wie man Zoos betrachten soll. Manche Leute gehen gerne hin, da sie sie als einzige Möglichkeit sehen, bestimmte Tiere aus nächster Nähe bewundern zu können. Manche Leute wiederum meiden Zoos, da sie es nicht ertragen können, wie die Tiere dort eingesperrt sind. Ich bin hin- und hergerissen, und auch in diesem Buch werden verschiedene Sichtweisen dargestellt, die alle für sich eine Daseinsberechtigung haben.

Ich habe "Das letzte Nashorn" in einem Rutsch gelesen, und Albrechts Schicksal hat mich berührt, auch wenn es - vorerst - nur fiktiv war. Ich lege das Buch vor allem - aber nicht nur! - denen ans Herz, die sich für Tiere und bedrohte Arten interessieren.

Veröffentlicht am 06.01.2017

Frauenpower auf Afrikanisch!

Woza Sisi
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Margit Maximilian ist ORF-Redakteurin und Afrika-Spezialistin. Ihr Plan, Powerfrauen aus Sub-Sahara-Afrika zu porträtieren, war kein leichtes Unterfangen. Reisehindernisse und Terminprobleme waren nur ...

Margit Maximilian ist ORF-Redakteurin und Afrika-Spezialistin. Ihr Plan, Powerfrauen aus Sub-Sahara-Afrika zu porträtieren, war kein leichtes Unterfangen. Reisehindernisse und Terminprobleme waren nur zwei der zahlreichen Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatte. Deshalb mussten auch manche Porträts, die die Autorin geplant hatte, leider wegfallen. Schade, denn es gibt noch so viele interessante Frauen, über die ich gerne etwas gelesen hätte. Die 10 hier porträtierten Afrikanerinnen sind aber ein guter Querschnitt.

Die Autorin trifft diese Frauen direkt vor Ort ihres Wirkungskreises und begleitet sie ein paar Tage. Sie erzählt von diesen Begegnungen, porträtiert die Frauen, ihre Vergangenheit und ihr gegenwärtiges Tun, und liefert ggf. auch noch politische und geschichtliche Hintergründe.

Allen Frauen ist gemein, dass sie unermüdlich daran arbeiten, sich von den gängigen, teils mittelalterlichen Rollenbildern der afrikanischen Frau zu lösen und ihr Land vorwärts zu bringen. Dies tun sie auf ganz unterschiedliche Weise, im Kleinen oder im Großen.

Da ist z. B. die ehemalige "Miss Kibera" Winnie Akinyi (Kenia), die noch immer - obwohl sie es nicht mehr nötig hätte - in ihrem alten Slum lebt und Slumkindern die Schulausbildung finanziert. Oder Sylvia Tamale (Uganda), die Rechtsprofessorin und Feministin, die wegen ihrer Aufklärungsarbeit zur Sexualität afrikanischer Völker und ihrer Unterstützung gleichgeschlechtlicher Liebe sogar 2003 zur "schrecklichsten Frau des Jahres" gekürt wurde - neben einem fanatischen Rebellenführer und Massenmörder. Wirklich beeindruckend fand ich z. B. die Nonne Adriana Dwoki (Südsudan), die Schulen und Heime für Straßenkinder baut und ihnen ein neues Zuhause gibt, oder Martine de Souza, die in Dörfern über Kinderhandel aufklärt und selbst heimatlose Kinder aufnimmt.

Weniger anfangen konnte ich mit der Bildhauerin Reinata Sadimba (Mosambik), die zwar eine interessante Lebensgeschichte hat und mit ihren Kunstwerken weltweit berühmt wurde, die aber einzig für ihre Kunst lebt und sich sonst nicht weiter engagiert. Dann wird noch die bekannte Moderatorin und TV-Produzentin Mo Abudu vorgestellt, die vor allem eine Geschäftsfrau ist und ein sehr luxuriöses Leben führt. Man kann darüber streiten, ob diese Frauen so recht in die Reihe der "Kämpferinnen" passen, aber letztendlich sind die hier vorgestellten Afrikanerinnen alle recht unterschiedlich darin, wie sie wirken und leben. Egal, ob ihr Tun nur ein paar Menschen hilft oder weitere Kreise zieht, so sind sie alle faszinierende Persönlichkeiten, über die ich gerne gelesen habe. Nebenbei habe ich etwas mehr über Geschichte und Kultur der 10 afrikanischen Länder erfahren.

Margit Maximilian ist eine gute und kritische Beobachterin. Manchmal hat mir aber ein roter Faden in den Porträts gefehlt, es wurde viel zwischen Gegenwart (dem Treffen) und Vergangenheit oder politischen Begebenheiten hin- und hergesprungen. Auch waren die Treffen manchmal etwas unkoordiniert, was aber wohl einfach den Verhältnissen geschuldet ist. Außerdem hätte ich gerne weiterführende Informationen, z. B. Links zu den Projekten der Frauen oder Literatur zu den angesprochenen Themen, erhalten. Im Mittelteil finden sich einige Farbfotos, die den porträtierten Frauen auch ein Gesicht geben. Das finde ich bei einem solchen Buch sehr wichtig.

"Woza Sisi" ist ein informatives, spannendes Sachbuch über afrikanische Frauenpower. Die Lektüre macht auf jeden Fall nachdenklich, denn hier wird nicht nur die Unterdrückung afrikanischer Frauen thematisiert, sondern auch z. B. Menschenhandel, Armut oder die Ausbeutung Afrikas durch den Westen. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, woher diese Frauen die Kraft und den Willen haben, immer weiter zu machen. Das ist wirklich bewundernswert und ringt mir meinen größten Respekt ab. Außerdem ist mir wieder klar geworden, was für ein privilegiertes Leben ich in Deutschland führen darf. Schließen möchte ich mit diesem schönen Zitat:

"Die Menschheit ist ein Vogel mit zwei Flügeln. Ein Flügel ist weiblich, der andere männlich. Wenn nicht beide gleichermaßen entwickelt sind, dann wird die Menschheit nicht in der Lage sein, zu fliegen."

Veröffentlicht am 06.01.2017

Erschütterndes und aufschlussreiches Werk über die Menschenversuche im Dritten Reich

Hippokrates in der Hölle
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Als ich die Anfrage erhielt, ob ich "Hippokrates aus der Hölle" gerne rezensieren möchte, musste ich erstmal überlegen, da es nach einer wirklich harten Lektüre klang. Da ich mich aber sehr für den Holocaust ...

Als ich die Anfrage erhielt, ob ich "Hippokrates aus der Hölle" gerne rezensieren möchte, musste ich erstmal überlegen, da es nach einer wirklich harten Lektüre klang. Da ich mich aber sehr für den Holocaust interessiere, siegten letztendlich Neugierde und Wissensdurst. Als das Buch dann ankam, habe ich mich ein paar Wochen vor der Lektüre gedrückt. Ich hatte Sorge, dass ich die ganzen Details darin zu eklig und unerträglich finden würde und mich durch das Buch regelrecht durchquälen musste, auch wenn ich schon so viele schlimme Sachen zu dem Thema gelesen habe.

Letztendlich war meine Sorge aber (zum größten Teil) unbegründet. Man kriegt hier natürlich abscheuliche Gräueltaten zu lesen, aber der Autor ist nicht so sensationslüstern, dass er hier genüsslich die ekligsten Details ausbreitet. Das muss er auch gar nicht, denn das, was man zu lesen bekommt, ist schon plastisch genug und reicht aus, um sich vorstellen zu können, wie furchtbar die damaligen Versuche für die Opfer sein mussten. Beziehungsweise - nein, eigentlich kann man sich das nicht vorstellen. Menschen, die in Eiswasser getaucht werden, bis sie an Erfrierungen sterben. Menschen, die innerlich verätzen. Menschen, die bei lebendigem Leibe und ohne Betäubung aufgeschnitten werden, damit man sich in Ruhe ihre Organe anschauen kann. Kann man sich sowas wirklich vorstellen?

Der Eid des Hippokrates besagt unter anderem, dass man als Mediziner alles zum Wohle des Patienten zu tun und zu unterlassen habe. Doch die Ärzte in den KZs haben diesen Eid mit Füßen getreten, auch wenn einige von ihnen glaubten, sie würden nicht dagegen verstoßen, denn ihre Versuche sollten ja letztendlich für den Erhalt und die schnellere Genesung der "Herrenrasse" dienen. Die "Versuchskaninchen" waren in ihren Augen keine Menschen, nur eine Unterrasse, die bestenfalls als Arbeitskraft diente.

Es werden verschiedene KZ-Ärzte und ihre Experimente vorgestellt, z. B. der auf Unterkühlungs- und Höhenversuche spezialisierte Sigmund Rascher, der "Schlächter von Mauthausen" Aribert Heim und natürlich der berühmte Auschwitz-"Todesengel" Josef Mengele, der an der Ankunftsrampe mit einem kurzen Blick darüber entschied, wer sofort ins Gas gehen musste. Später wollten sich die, die vor Gericht kamen, damit herausreden, sie hätten nur Befehle befolgt. Doch die Initiative der meisten Menschenversuche ging von den Ärzten selbst aus, und viele von ihnen führten nicht nur stoisch ihre Versuchsreihen durch, sondern fanden einen perfiden Gefallen daran, ihre Opfer zu quälen und Herr über Leben und Tod zu spielen. Auftraggeber war meist der SS-Funktionär Heinrich Himmler, der bereitwillig mit der Maxime "Nur zu, experimentieren Sie! Irgendetwas wird schon dabei herauskommen." die Todesurteile Tausender Menschen unterschrieb. Ironisch mutet es an, dass der große Tierfreund Hitler Tierversuche ab 1933 gesetzlich verbot und somit Medizinern dadurch noch ein weiteres Argument für Menschenversuche lieferte...

Umso schlimmer, dass die meisten der Verbrechterärzte letztendlich unbehelligt blieben. Einige begingen Selbstmord, andere wurden hingerichtet oder mussten Haftstrafen verbüßen. Nicht wenige konnten jedoch fliehen oder wurden gar freigesprochen und konnten sich ein neues Leben - oft als niedergelassene Ärzte! - aufbauen, etwas, das ihren Opfern nicht mehr möglich war. Und oft war es so, dass die Aliierten diese Verbrecher nicht bestraften, sondern selbst einstellten und von ihrem Wissen profitierten!

Doch nicht nur die einzelnen Mediziner tragen Schuld. Die Menschenversuche im Dritten Reich waren nicht (nur) die Werke Einzelner, sondern eines ganzen Systems. Universitäten und vor allem die Pharmaindustrie unterstützten ihre Kollegen. So verlangte z. B. die IG Farben, die unter anderem das in den Gaskammern verwendete Zyklon B herstellte, Menschenversuche mit den Krebserregern Rutenol und Acridin. Diese kosteten viele Häftlinge den Tod und brachten - wie ein Großteil der in diesem Buch vorgestellten Versuchsreihen - keinerlei brauchbare Ergebnisse.

Michel Cymes ist selbst Arzt und macht keinen Hehl aus seiner Verachtung und Abscheu für diese Bestien. Es ist immer wieder unfassbar, welche Gräueltaten im Dritten Reich (und auch darüber hinaus heute noch) begangen wurden, doch dass hier die Massenmörder Ärzte waren, die sich doch dem Schutz des Menschenlebens verschrieben haben, ist umso erschreckender. Cymes hat selbst beide Großväter in Auschwitz verloren, auch sie sind vermutlich damals die berühmte Selektionsrampe unter den Augen Mengeles entlanggegangen.

So ist der Autor ungleich vorbelasteter als ein normaler Leser wie ich, die weder Medizinerin ist noch Verwandte im 2. Weltkrieg verloren hat. Dadurch ist dieses Sachbuch nicht durch und durch nüchtern geschrieben, was aber dem lebendigen Schreibstil sicherlich zu Gute kommt und mir persönlich auch sympathisch war. Zudem verzichtet Cymes dankenswerterweise auf medizinisches Fachgeplänkel, so dass ich durch die Seiten förmlich durchgeflogen bin.

Ergänzt werden Cymes Ausführungen durch 21 Fotos und eine zweiseitige Bibliographie.

"Hippokrates in der Hölle" ist ein sehr interessantes und aufschlussreiches Werk über die Menschenversuche der KZ-Ärzte im Dritten Reich. Erschütternd, grausam und sicherlich nichts für Zartbesaitete, aber dennoch ein weiteres wichtiges Dokument über den Holocaust.

Veröffentlicht am 06.01.2017

Erschütternder Bericht über die letzten Stunden des alten Würzburgs 1945

Bombennacht
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Als Würzburgerin ist mir natürlich die Geschichte der verhängnisvollen Bombennacht bekannt, ich stand schon oft vor dem Denkmal im Rathaus, das ein Modell des zerstörten Würzburgs zeigt, und kenne auch ...

Als Würzburgerin ist mir natürlich die Geschichte der verhängnisvollen Bombennacht bekannt, ich stand schon oft vor dem Denkmal im Rathaus, das ein Modell des zerstörten Würzburgs zeigt, und kenne auch ein paar Augenzeugenberichte. Wer heute durch diese wunderschöne Stadt läuft, kann sich kaum vorstellen, dass damals ein Hölleninferno die historische Altstadt zu 90% zerstörte und unzählige Menschenleben forderte.

Roman Rausch, der vor allem als Autor historischer Romane und Krimis/Thriller bekannt ist, hat sich nun dieses schweren Stoffes angenommen. Wie der Untertitel bereits verrät, geht es hier um einen Zeitraum von 24 Stunden, beginnend am 16. März 1945 um 6.06 Uhr, als ein wunderschöner Frühlingstag die Würzburger Bevölkerung noch in Sicherheit wiegt.

Es gibt mehrere Handlungsstränge und man lernt zuerst nach und nach die Hauptcharaktere kennen, deren Wege sich mit der Zeit kreuzen:

- Prof. Werner, Nervenarzt an der Uniklinik, und seine Familie. Als Vorbild für diese Figur diente Werner Heyde, der als Professor für Neurologie und Psychiatrie in Würzburg an der "Aktion T4", der systematischen Tötung von geistig Behinderten beteiligt war. Neben dem Professor spielen noch Tochter Charlotte, eine Funkhelferin, und der von der SS desertierte Sohn German eine Rolle.
- Fanny, die angehende Krankenschwester, die Prof. Werner verehrt und erst merkt, welche Verbrechen ihr Vorbild begangen hat, als es schon zu spät ist. Ihr Vater Vinzenz und ihre Großeltern Jörg und Cäcilie treten ebenfalls in Erscheinung.
- Paul, ein Jude, der als Klavierlehrer bei der kultivierten Nazi-Familie Werner bislang von der Deportation verschont blieb und heimlich seine Flucht plant.
- Henry bzw. Heinrich, der nach seiner Flucht aus der deutschen Heimat bei der British Royal Air Force anheuert und nun gegen seine Überzeugung bei der Zerstörung Würzburgs, seines alten Studienortes, mitwirken soll.
- Julius und Eugen, zwei Jugendliche, die viel zu schnell erwachsen werden müssen.

Daneben gibt es noch zahlreiche weitere Nebencharaktere. Und viele von ihnen werden später unter den über 5.000 Opfern sein, die der Angriff der Briten und dessen Nachwirkungen fordern.

Roman Rauschs Schreibstil ist anspruchsvoll, eloquent und eindrücklich. Er schafft es, das unvorstellbare Leid in Worte zu fassen, irgendwie greifbar zu machen. Die Geschichte ist extrem aufwühlend und hinterließ bei mir während der Lektüre ein Gefühl der Beklemmung und Fassungslosigkeit. Ich habe schon viele Bücher über den Weltkrieg und seine unerträglichen Gräuel gelesen. Ich wusste, was in der Bombennacht passiert ist. Und dennoch ist das Gelesene fast unerträglich, da man weiß, dass trotz fiktiver Figuren die Haupthandlung - die Zerstörung Würzburgs - ein Fakt ist und alle hier beschriebenen Grausamkeiten so oder in ähnlicher Weise tatsächlich passierten. Man wird niemals verstehen, wie furchtbar damals der Krieg war, und wieso das so genannte "moral bombing", das einzig dem Zweck diente, die Moral der Bevölkerung zu brechen und den größtmöglichen Schaden anzurichten, von eigentlich zivilisierten Ländern als Kriegstaktik durchgeführt wurde.

Schon vor dem Angriff ist die Situation in der Stadt nicht einfach. Die Bevölkerung leidet unter Hunger und Armut, hat schon mehrere Angriffe hinter sich und muss sich Wohnraum und Lebensmittel mit zahlreichen Flüchtlingen aus anderen zerstörten Städten teilen. Die Krankenhäuser sind überfüllt mit Kriegsversehrten. Allein diese angespannte Stimmung war greifbar, und als die britischen Bomber dann starteten, legte ich das Buch erstmal weg, da ich nicht wollte, dass es noch schlimmer kommt. Das restliche Buch las ich dann an einem ruhigen Sonntag in einem Rutsch durch, so ein bisschen nach dem Motto "Da muss ich jetzt irgendwie durch."

Der Angriff selbst dauerte nicht lang, in Echtzeit circa 17 Minuten, aber das Inferno, das danach losbrach, ist kaum zu begreifen. Wer sehr empfindlich ist, sollte tatsächlich zweimal überlegen, ob er diesen Roman lesen möchte. Hier ist sicherlich keine Effekthascherei nötig, um das unsägliche Leid der Bevölkerung deutlich machen zu können, der Autor provoziert nicht mit unnötigen Grausamkeiten. Aber er erzählt nunmal so, wie es war, wie man es von Überlebenden weiß, und er beschönigt nichts. Man ist hier wirklich weit entfernt von "leichter Kost", die man mal eben gemütlich auf der Couch wegschmökert.

Roman Rausch hat dieses wichtige und traurige Kapitel der Würzburger Geschichte anhand von Zeitzeugenberichten und historischen Fakten detailliert aufgearbeitet, und es ist ihm gelungen, Fiktion und Wirklichkeit zu verknüpfen. "Bombennacht" hat mich emotional sehr mitgerissen, und ich kann diesen Roman jedem empfehlen.

Veröffentlicht am 04.01.2017

Gelungene und fundierte Mischung aus Roman und Sachbuch, für junge Leser empfehlenswert

Wir waren doch so jung
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Michael Kuhn ist Politik- und Geschichtswissenschaftler und erarbeitete 1995 für die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. die Dokumentation "Und wir waren noch so jung". Zusammen mit ...

Michael Kuhn ist Politik- und Geschichtswissenschaftler und erarbeitete 1995 für die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V. die Dokumentation "Und wir waren noch so jung". Zusammen mit seiner Tochter Jennifer Riemek hat er anhand Zeitzeugenberichten, Fotos und Dokumenten die fiktive Geschichte um Jakob und Annie geschrieben.

Die Geschichte umfasst ca. 140 Seiten. Im Anschluss werden auf fast 50 Seiten zu den einzelnen Begebenheiten und Details des Romans die dazugehörigen historisch fundierten "Vorlagen" erläutert. Es findet so eine gelungene Verwebung zwischen Fiktion und Realität statt.

Jakobs und Annies Schicksal wird hier über einen Zeitraum von 1934-1945 geschildert, beginnend mit den ersten Anfeindungen der Bevölkerung, über den Krieg, die Verfolgung und Internierung in den KZs bis zur Befreiung durch die Aliierten. Eingerahmt wird die Geschichte von einem alten Jakob in der heutigen Zeit, der sich an die Vergangenheit erinnert. So erfährt man viel über die geschichtlichen Hintergründe, wie alles begann und sich weiterentwickelte. Interessant ist hier auch, dass der Roman nur teilweise in Deutschland spielt. Die meiste Zeit leben Jakob und Annie in Belgien, dazu kommt noch ein Aufenthalt in Frankreich. So hat man auch einen Einblick, wie es in anderen europäischen Ländern damals zuging. Dazu kommen noch Erlebnisse in den KZs, die besonders eindrücklich sind.

Der Schreibstil ist eher nüchtern-erzählend. Trotzdem kann man die Verzweiflung der Figuren nachempfinden und die Ohnmacht darüber, dass sie völlig machtlos sind gegenüber der Willkür und Grausamkeit der Nazis. Jakob, Annie und ihre Eltern waren mir von Anfang an sympathisch, so dass ich auch wirklich mitgelitten habe.

Durch die im Anhang aufgezeigten Zeitzeugenberichte sowie die zahlreichen anderweitigen Dokumentationen, die ich bereits kenne, bin ich mir sicher, dass Jakobs und Annies Geschichte genau so oder ganz ähnlich hätte passiert sein können. Jakob, Annie und ihre Familien und Freunde stehen exemplarisch für all diejenigen, die im Holocaust ihr Eigentum, ihre Würde, ihre Familie und oft auch ihr eigenes Leben verloren. Man kann nur jedes Mal aufs Neue entsetzt darüber sein und hoffen, dass die Menschheit aus der Geschichte lernt, auch wenn ich befürchte, dass Dummheit, Gier und Hartherzigkeit immer wieder für weitere Gräueltaten und Ungerechtigkeiten sorgen werden, so lange es Menschen gibt.

"Wir waren doch so jung" ist ein weiterer Roman über die Grausamkeiten des Holocausts, der fundiert auf historischen Fakten erzählt wird. Aufgrund des Alters des Protagonisten empfehle ich es auch jungen Lesern sehr, die durch Jakobs Augen die Wirren des Weltkrieges und Folgen der Judenfeindlichkeit durchleben können.