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Veröffentlicht am 30.04.2020

Bestandsaufnahmen einer Generation

Was wir sind
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Wenn man nach dem Lesen eines jeden Kapitels das Buch kurz zuschlägt um innezuhalten und um "wow, das ist so gut" zu denken, dann hat das Buch in meinen Augen seine 5 Sterne verdient.

Was soll ...

Wenn man nach dem Lesen eines jeden Kapitels das Buch kurz zuschlägt um innezuhalten und um "wow, das ist so gut" zu denken, dann hat das Buch in meinen Augen seine 5 Sterne verdient.

Was soll ich sagen? Dieser Roman bildet die Lebenswirklichkeit der Generation von modernen Frauen, die in den mittleren 1970er Jahren geboren wurden, 1:1 ab, legt den Finger in die Wunde ihrer Befindlichkeiten. Drei Frauen aus England, die sich kennen, Freundinnen waren bzw. irgendwie immer noch sind, werden unter dem Brennglas der auktorialen Erzählinstanz auf ihre gegenwärtigen Unzulänglichkeiten hin untersucht. Ihre momentane Existenz wird mit ihrer vergangenen verglichen (es gibt zahlreiche kursivierte Rückblenden). Die Wünsche, Träume und Vorstellungen, die sie abgelegt haben, treten wie ein offener Bruch aus dem Körper ihres Ichs hervor. Alle drei Frauen sind zum Zeitpunkt der Haupthandlung im Jahr 2010 Mitte 30, also in der “Rushhour des Lebens”, in der eigentlich alles unter Dach und Fach gebracht werden will: Kinder, Karriere, Haus und Garten, gemachte Erfahrungen - alles soll und muss perfekt sein, wenn es nach den gesellschaftlichen Vorstellungen geht. Aber dass diese nicht immer mit der Realität einhergehen und das Leben oft diametral entgegengesetzte Verläufe zu unseren Erwartungen (das Buch heißt im Original "Expectation"), nimmt, zeigt Anna Hope anhand ihrer drei Protagonistinnen auf.

Cate ist die Intellektuelle, die ihren Oxford-Cum-Laude-Abschluss an der Tür ihres Reihenhauses in der Vorstadt von Canterbury abgelegt hat. Sie ist frischgebackene Mutter eines kleinen Jungen und hadert mit den sich überschlagenden Ereignissen ihres momentanen Lebens: neuer Partner, Heirat, Kind, Haus, Umzug aus der Metropole ins Suburbane - alles in weniger als 2 Jahren. Und da ist dann auch noch eine Person aus ihrer Vergangenheit, eine verflossene Liebe, der sie nachtrauert.

Hannah ist die Karrierefrau, bei der eigentlich alles perfekt läuft. Ein sehr gut bezahlter Job in London, schöne Wohnung, ein langjähriger Partner und seit kurzem Ehemann. Trotz dem scheinbar perfekten Äußeren ihres Lebens droht sie aber an ihrem unerfüllten Kinderwunsch zu verbrechen.

Lissa ist die unkonventionelle Schauspielerin, die im Callcenter und als Aktmodell arbeiten muss, weil es mit der großen Karriere nicht geklappt hat. Ein gesetztes und spießiges Leben mit Haus und Kindern ist für Lissa nicht vorstellbar, aber dennoch sucht sie nach Konstanten.

Alle Figuren sind und wirken so echt, ihre Probleme sind exakt die, die Frauen in ihren mittleren Dreißigern eben haben - ich weiß wovon ich rede, gehöre ich doch selbst dieser Spezies an.

Danke Anna Hope für dieses wundervolle Portrait einer Generation, das zum Nachdenken über das eigene Leben und zum Innehalten anregt. Dass die Autorin übrigens auch noch mein Lieblingsstück von Tschechow, Onkel Wanja, in die Erzählung mit einbaut, hat mich vollends für das Buch eingenommen: 5 Sterne!


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Veröffentlicht am 17.04.2020

Ein zukünftiger moderner Klassiker

Offene See
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Eskapismus und Sehnsuchtsorte aller Art, haben in der Literaturgeschichte eine große Tradition. Das Meer ist als Sehnsuchtsort prädestiniert, symbolisiert es doch mit seiner scheinbar unendlichen ...

Eskapismus und Sehnsuchtsorte aller Art, haben in der Literaturgeschichte eine große Tradition. Das Meer ist als Sehnsuchtsort prädestiniert, symbolisiert es doch mit seiner scheinbar unendlichen Weite und Tiefe das Mythische und Unerklärliche. Der menschliche Verstand sieht nur bis zum Horizont, die Phantasie kann darüber hinausschauen. Auch das Motiv des Wanderns ist ein altes in der Literatur - man denke nur an die Romantik, an Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahre" und andere Klassiker.

"Offene See" ist das Buch der Wanderschaft eines jungen Mannes im England der 1940er Nachkriegsjahre. Eigentlich nimmt nicht die Wanderschaft, sondern sein Aufenthalt an der Küste des Landes bei einer älteren Dame die meiste Erzählzeit ein. Es ist im Grunde ein klassischer Bildungs- bzw. Entwicklungsroman, wenn man eine solche generische Einordnung denn vornehmen möchte.

Der Ich-Erzähler, der in der Rahmenhandlung die Erlebnisse seiner Jugend niederschreibt, heißt Robert Appleyard. Als Sohn eines Bergarbeiters ist auch sein zukünftiges Leben als solcher quasi prädestiniert. Aber Robert bricht mit 16 Jahren auf, um sich treiben zu lassen. Er will das Meer sehen, die Küste, die er von seinem Heimatort im Landesinneren aus nur erahnen kann. Als er in einem kleinen, südlich gelegenen Küstenstädtchen ankommt, führt ihn sein Weg aber nicht bis ans Meer, sondern zu der quasi alterslosen Dulcie Piper. Diese wirkt, als hätte sie ihn schon erwartet und nimmt ihn wie selbstverständlich bei sich auf. Aus einem Tag werden Wochen und Monate des Aufenthalts, in denen Robert Dulcie, und vor allem auch sich selbst, immer besser kennenlernen wird.

Das Buch hat etwas dezidiert Mythologisches, Märchenhaftes an sich. Wie Circe Odysseus, doch ohne jegliche Erotik oder Zwang zwischen den Parteien, nimmt Dulcie Robert bei sich auf, der eigentlich ganz andere Pläne hatte. Er wollte nicht irgendwo länger verweilen, schon gar nicht bei einer älteren Frau, die nah am Meer wohnt und dafür doch so gar nichts übrig zu haben scheint. Doch nun kam es anders und selbst ein kurzer "Ausbruchsversuch" bringt ihn wieder wie magnetisch - oder wie die Flut nach der Ebbe - in Dulcies kleine Welt zurück. Robert darf erst weiterziehen, wenn er selbst dazu bereit ist, also genug gelernt, sich gebildet hat.

Dulcies unkonventionelle Art, ihr einnehmendes Wesen und ihre Schlagfertigkeit machen sie sofort sympathisch. Kontrastiert mit der stillen, stoischen Art Roberts, der vor allem durch seine handwerkliche Arbeit und Körperlichkeit besticht, bilden die beiden ein seltsames Paar. Als Robert Dulcies verlassenes Gartenhäuschen auf Vordermann bringt, kommen nach und nach die Geister ihrer Vergangenheit zum Vorschein...

"Offene See" ist eine Feier des Gegenwärtigen, ist doch die Gegenwart "die einzige Zeit, die uns wirklich gehört", wie Blaise Pascal sagte.
Dulcie ist die personifizierte Zeitlosigkeit und eine Verfechterin dieser Theorie. Sie ist ein Mensch, der im Augenblick lebt und den man nicht in eine Schublade stecken kann. Intellektuell, nonchalent, sophisticated, aber auch derb, explizit und plakativ in der Ausdrucksweise.

Die Besonderheit des Buches ist seine Sprache, die vor Metaphorik und lyrischen Sprachbildern nur so strotzt! In der Erzählstimme findet sich kaum ein Satz ohne Allegorie, kaum ein Wort, das nicht in einem bildlichen Zusammenhang mit anderen steht. Es wundert nicht, denn Benjamin Myers ist auch Lyriker. Seine starke weibliche Hauptfigur des Romans ist ebenfalls eine Advokatin der Poesie, eine Verfechterin des Lyrischen.

"Offene See" ist einfach grandios, elegant und sprachlich einzigartig. Ich denke, wenn man in späteren Zeiten die Literaturklassiker der 2020er Jahre auflisten wird, wird man über diesen Roman nicht hinwegsehen können.


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Veröffentlicht am 14.04.2020

Zwischen Hamsterrad und “letzten Malen”

Wir holen alles nach
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Selten hat ein Titel besser zu seinem Roman gepasst, finde ich. "Wir holen alles nach" - eine oftmals leere Versprechung. Kann man im Leben überhaupt Dinge "nachholen"? Schwierig.

Die beiden Protagonistinnen ...

Selten hat ein Titel besser zu seinem Roman gepasst, finde ich. "Wir holen alles nach" - eine oftmals leere Versprechung. Kann man im Leben überhaupt Dinge "nachholen"? Schwierig.

Die beiden Protagonistinnen des Romans, aus deren Sichtweise abwechselnd erzählt wird, stehen jeweils an anderen Stationen bzw. Wendepunkten ihres Lebens.

Sina ist die, die ihren achtjährigen Sohn Elvis ständig mit einem "Wir holen alles nach" vertröstet. Sie ist Mitte 30, in der Rushhour des Lebens sozusagen, und versucht Vollzeitjob (in einer Werbeagentur), Kind (sie ist alleinerziehend, der Vater lebt in einer anderen Stadt, zum Glück ist er gut situiert und zahlt seinen Beitrag) und neue Beziehung (mit Torsten, einem trockenen Alkoholiker) unter einen Hut zu bringen. Ein schwieriger Chef, die horrenden Lebenshaltungskosten in München und die vermeintlich perfekten Mütter der anderen Kinder machen ihr zusätzlich zu schaffen. Dazu kommt noch der Druck, dass Elvis es wenn möglich aufs Gymnasium schaffen sollte - doch der tut sich schwer in der Schule. Hier kommt Ellen ins Spiel.

Ellen hat das, was Sina gerade durchmacht, längst hinter sich gelassen. Die beiden Söhne sind erwachsen und schon lange aus dem Haus. Ihr Mann Jock ist mit Mitte 40 verstorben - das ist mittlerweile 25 Jahre her. Sie hatte neben ihrem Hausfrauendasein noch einen Teilzeitjob in einer Buchhandlung, inzwischen ist sie seit kurzem in Rente. Mit Ende 60 wird ihr bewusst, wie viel sie bereits zum “letzten Mal” getan hat und wie viel sie nie mehr tun wird. Eine Stelle, an der ich innerlich schlucken musste.

Ellen muss ihre kärgliche Rente mit einem Job als Zeitungsausträgerin und Nachhilfestunden aufbessern, damit sie sich ihre Wohnung in München und Reisen zu ihrer Freundin und zu ihren Söhnen, leisten kann. Sina wird auf Ellen aufmerksam und ihr Sohn Elvis wird deren Nachhilfeschüler. Daraus entwickelt sich eine generationenübergreifende Freundschaft, bei der auch Ellens Hund eine große Rolle spielt. Doch dann verändert sich Elvis plötzlich über Nacht…

Im Roman werden gesellschaftlich brisante und relevante Themen angesprochen, die sehr realitätsnah in den Lebensgeschichten der beiden Hauptfiguren gespiegelt werden. Zum einen die anspruchsvolle Situation von Alleinerziehenden, die zwischen dem Druck von außen und innen zermürbt werden. Man selbst muss Karriere machen und Geld verdienen, das Kind muss untergebracht werden, sollte beliebt sein und natürlich aufs Gymnasium, so dass ihm alle Chancen offen stehen. Dass zwischen Büro, Schule, Nachhilfe und Hort nur wenig Familienzeit bleibt, ist traurig, aber leider für viele Menschen die harte Realität. Daneben natürlich die Sache mit der Altersarmut, die bei Ellen in einer abgemilderten Form zum tragen kommt. Sie nagt nicht am Hungertuch, aber sie muss für einen gewissen aber doch eher bescheidenen Lebensstandard nochmal ran - wo andere längst mit der Arbeitswelt abgeschlossen haben.

Obwohl es es sich um eine eigentlich ganz alltägliche Geschichte handelt, die sich so in vielen deutschen Städten - vor allem aber tatsächlich in München - abspielen könnte, hat mich dieser Roman unheimlich berührt. Die zarte, menschliche Beziehung zwischen Elvis und Ellen, der stille Kampf Sinas um ein halbwegs normales, gutes Leben. Die Reflexionen Ellens über ihr Leben und über ihre Vergangenheit. Das hat alles eine ganz besondere Tiefe.

Martina Borger erzählt eine intensive, schnörkellose Alltagsgeschichte, die auf eine ganz besondere Weise berührt und unter die Haut geht. Absolut lesenswert!

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Veröffentlicht am 14.04.2020

Präparatoren, Präraffaeliten & Püppchen

The Doll Factory
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Wenn ich gewusst hätte, dass es in diesem Buch um die Künstlergruppe der Präraffaeliten geht, dann hätte “The Doll Factory” noch eine größere Anziehungskraft auf mich gehabt als ohnehin schon. Das Versprechen ...

Wenn ich gewusst hätte, dass es in diesem Buch um die Künstlergruppe der Präraffaeliten geht, dann hätte “The Doll Factory” noch eine größere Anziehungskraft auf mich gehabt als ohnehin schon. Das Versprechen einer viktorianischen Geschichte mit Gothic-Elementen war schon Leseanreiz genug für mich, aber das Thema Präraffaeliten ist das Tüpfelchen auf dem "i". Noch nie habe ich deren Geschichte in einem fiktionalen Werk verarbeitet gefunden (obwohl es bestimmt solche Romane gibt).

Die Handlung beginnt im London des Jahres 1850. Die Stadt bereitet sich auf die große Weltausstellung im Kristallpalast vor, die Ausstellungsstücke aus Kunst und Wissenschaft vereinen soll.

Im Gegensatz zu vielen anderen historischen Romanen kommt dieser hier mit einem sehr überschaubaren Personal aus. Im Zentrum stehen die drei Hauptfiguren Silas, Iris und Albie, aus deren Sicht die Geschichte abwechselnd erzählt wird. Wichtig sind auch noch Louis Frost, ein fiktionaler Präraffaelit, Iris’ “Love Interest” und künstlerischer Mentor sowie ihre Zwillingsschwester Rose. Die fiktiven Protagonisten werden von einigen historischen Charakteren aus dem Kreis der Präraffaeliten flankiert. Da wären der Maler John Everett Millais, mit dem der fiktive Louis Frost im Roman eng zusammenarbeitet, sowie der Dichter/Maler Dante Gabriel Rossetti und dessen Muse Lizzie Siddal.

Silas Reed ist Tierpräparator und besitzt einen Kuriositätenladen, in dem er seine Artefakte, wie z.B. Broschen aus echten Schmetterlingen, verkauft. Sogenannte Kuriositätenkabinette waren im England Königin Viktorias sehr beliebt. Jeder Haushalt, der etwas auf sich hielt, besaß eine Sammlung an kuriosen seltenen Dingen, die man zur Schau stellen konnte. Ein weiterer Absatzmarkt ist für Silas der Verkauf seiner ausgestopften Tierkörper an Kunstmaler, die die Tiere als Modelle für ihre Gemälde benötigen. Außerdem träumt er von der Ausstellung seiner “Kunstwerke” bei der Weltausstellung.

Silas ist der Vertreter des “Gothic” im Roman, ein merkwürdiger Zeitgenosse, der vom Charakter zwischen Frankenstein und einem Marquis de Sade changiert. Er ist der ungeliebte Sohn und Einzelgänger, der kein Glück in der Liebe hat.

Die weibliche Hauptfigur des Romans ist die 21-jährige Iris, die von einer Existenz als Kunstmalerin träumt. Bislang bemalte sie hauptsächlich Puppen in der Puppenmanufaktur von Mrs Salter (einer eher unangenehmen Person, die ständig im Laudanum-Rausch ist). Iris hat eine Zwillingsschwester, Rose, die ebenfalls dort arbeitet. Sie geben den Großteil ihres kärglichen Lohns abends an ihre Eltern ab, mit denen sie in ärmlichen Verhältnissen leben, um über die Runden zu kommen. Beide Schwestern sind körperlich versehrt, die eine durch ihre Pockennarben (Rose), die andere nur an einer Stelle durch ihren geburtsbedingten Schlüsselbeinbruch (Iris). Als Iris den präraffaelitischen Maler Louis Frost kennenlernt, bietet sich ihr die Gelegenheit, dem Elend der Puppenfabrik zu entkommen...

Sympathieträger des Buches ist sicher der ehrbare Straßenjunge bzw. “Urchin” Albie, der mit seiner älteren Schwester im Kohlenkeller eines Bordells haust und mit ansehen muss, wie sie sich der Prostitution hingibt, um über die Runden zu kommen. Er ist das Verbindungsglied zwischen Silas und Iris, denn er übernimmt sowohl für den Präparator als auch für die Puppenfabrik kleine Aufträge.

Der Titel "The Doll Factory" ist etwas irreführend, geht es doch eher um Silas' Fabrik der ausgestopften Tiere bzw. um die "Kunstfabrik" der Präraffaeliten. Die Puppenfabrik ist nur der Aufhänger bzw. ein Nebenschauplatz des Geschehens.

"The Doll Factory" ist die düstere Geschichte einer Obsession, die einen nicht mehr loslässt. Es geht um Stalking, um unerwiderte Liebe - ein großes, altes Thema in der Literatur. Hier wurde es mal wieder mit Bravour aufbereitet. Dieses Buch ist etwas für Fans des viktorianischen London, für Liebhaber von Jess Kidds’ Büchern oder den Filmen von Tim Burton (allerdings ohne Fantasy-Elemente, die Realität ist hier creepy genug). Und natürlich für alle, die die präraffaelitischen Gemälde oder einfach eine sehr gute historische Geschichte mit Thriller-Elementen lieben.

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Veröffentlicht am 28.03.2020

Lebensentscheidende Kausalitätsketten

Miracle Creek
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Die Einwandererfamilie Yoo aus Südkorea hat sich im kleinen Dörfchen Miracle Creek in Virginia, USA eine neue wirtschaftliche Existenz aufgebaut: eine Anlage zur Sauerstofftherapie (HBO). Am ...

Die Einwandererfamilie Yoo aus Südkorea hat sich im kleinen Dörfchen Miracle Creek in Virginia, USA eine neue wirtschaftliche Existenz aufgebaut: eine Anlage zur Sauerstofftherapie (HBO). Am 26.8.2008 kommt es dort zu einer Explosion, bei der eine Frau und ein kleiner Junge ums Leben kommen. Ein Jahr später folgt der Prozess, bei dem die Mutter des Jungen angeklagt wird, den Brand gelegt zu haben...

Am Anfang war ich vorsichtig, was die Erwartungen an dieses Buch betrifft. Romane, in denen wie hier ein Verbrechen aus allen möglichen Perspektiven beleuchtet wird, zudem noch teilweise im Gerichtssaal, können - müssen aber nicht - langatmig sein. Hier hatte ich auch noch vor den 500 Seiten Respekt und der ziemlich kleinen Schrift, in der das Buch gesetzt ist. Aber ich muss sagen, schon nach ca. 100 Seiten hatte mich das Buch absolut am Haken und ich wollte unbedingt wissen, wer für den Tod von Henry und Kitty in der Überdruckkammer von Miracle Creek verantwortlich war.

Die Frage des "Was wäre, wenn…" treibt viele Figuren in diesem Buch um. Die meist spontanen Entscheidungen, die wir im Laufe unseres Lebens mitunter ganz beiläufig treffen, welchen Einfluss haben sie auf unsere weitere Existenz? Die Thematisierung der Tatsache, dass nur eine winzige Kausalkette von Entscheidungen den Verlauf eines Lebens vollkommen verändern können, gefällt mir sehr. Es ist etwas, über das ich mir auch schon oft Gedanken gemacht habe.

"Miracle Creek" ist auch vor allem ein Roman über die Existenz von Einwandererfamilien in den USA und ihren Spagat zwischen den Identitäten. Die Entbehrungen, im speziellen Fall das Vorschicken der Familie und Zurücklassen der koreanischen Väter - genannt "Gänseväter" - und der schwere Neubeginn in einem fernen Land, werden anschaulich geschildert. Auswandern schlägt auf die Psyche, man ist ein neuer Mensch, ggf. mit neuem Namen (Mary statt Meh-hee-yah), muss sich ein neues Leben aufbauen, so wie Pak Yoo und seine Familie. Dann die Hoffnung, dass das Glück im Aufbau der neuen geschäftlichen Existenz begründet sein könnte, die plötzlich mit dem Funken eines Streichholzes zu Asche wird.

Der andere große Themenkomplex, der im Roman verhandelt wird, sind behinderte Kinder, ihre Eltern (v.a. Mütter) und ihr Platz am Rande einer Gesellschaft, die auf Perfektion aus ist. Für die Mütter im Roman ist die Behinderung ihrer Kinder die Katastrophe ihres Lebens, das sich zwischen Selbstaufgabe, Aufopferung, Verzweiflung und einer stoischen Akzeptanz abspielt.

Wie ich gelesen habe, hat der Roman viele Übereibstimmngen mit dem Leben der Autorin Angie Kim. Wie ihre Figur Mary kam auch sie als Teenager von Südkorea nach Baltimore und schließlich nach Virginia, wo sie heute lebt. Wie die Angeklagte im Buch hat auch sie einen Sohn, der in Sauerstofftherapie war. Der Roman hat also autobiografische Züge, was ihn besonders authentisch macht.

Angie Kim erzählt in einer bestechend klaren, schnörkellosen Sprache ein absolut realistisches Szenario, das sich tatsächlich so irgendwo in Amerika hätte abspielen können. Die Figuren sind gezeichnet von ihrer Lebenssituation, die sie wie ein deterministischer Käfig scheinbar gefangen hält. Der mit jedem Kapitel alternierende Perspektivenwechsel ist ein erzählerischer Kniff, der absolut zu der Geschichte passt.

Während der Lektürezeit des Buches habe ich mich dabei ertappt, wie ich gedanklich immer wieder nach "Miracle Creek" gereist bin und vor mich hin gerätselt habe, wer denn nun jetzt der oder die Schuldige ist. Das Buch hat also das Potenzial, die Gedanken, die man vor dem Einschlafen hat, zu bevölkern - ein starker, fesselnder, noch lange nachhallender Roman!


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