Nur ein Flügelschlag ins Verderben
„Nach diesem neuen Krieg gaben wir vollends die Hoffnung auf, es würde sich jemals etwas ändern oder gar verbessern. Wir wollten nicht mehr, wir konnten nicht mehr und waren einfach müde. Ein ...
„Nach diesem neuen Krieg gaben wir vollends die Hoffnung auf, es würde sich jemals etwas ändern oder gar verbessern. Wir wollten nicht mehr, wir konnten nicht mehr und waren einfach müde. Ein guter Tag für uns war einer, an dem die Dinge nicht schlimmer wurden, als sie es ohnehin bereits waren.“
Inhalt
Shams Hussein zieht mit seiner Familie von einem kleinen Dorf im Süden des Irak nach Bagdad. Der Vater möchte dort neu anfangen und sucht nach Perspektiven. Allerdings zeigt sich bald, dass nur die wohlhabenden Menschen eine Wahlmöglichkeit haben, für seine Familie endet der Traum alsbald im „Blechviertel“ – einer üblen Wohngegend, in dem jeder ums tägliche Überleben kämpft und mit Krallen sein Hab und Gut verteidigen muss. Shams und seine ältere Schwester Qamer müssen nach der Schule diverse Arbeiten erledigen, um den Lebensunterhalt mitzufinanzieren.
Dennoch gelingt es ihnen, dass beste aus der Situation zu machen. Als Jugendlicher findet Shams schließlich zu eine Gruppe Gebildeter, die sich in Privaträumen treffen und sich „Der Palst der Miserablen“ nennen. Dort erfährt er erstmals von Kunst und Literatur, die über das staatliche Reglement verfügbar ist, wenn auch illegal. Gemeinsam mit seinem Cousin, ebenfalls Mitglied der Gruppe, wagt er sich daran, verbotene Schriften zu verkaufen. Doch als eine der Mitgliederinnen ermordet wird, und sich zwei andere abseilen, zerfällt das wöchentliche Treffen und die Zurückgebliebenen, kämpfen abermals gegen Windmühlen.
Shams beschließt, sich nun ausschließlich seinen Abiturprüfungen zu widmen, um irgendwann der Heimat den Rücken kehren zu können, doch nur ein falscher Flügelschlag führt ihn ins Verderben, aus dem es unter der politischen Gewaltherrschaft Saddam Husseins kein Entrinnen mehr gibt.
Meinung
Die Hoffnung auf ein friedliches Leben ist die große Thematik der Romane von Abbas Khider, einem irakischen Autor, der selbst wegen politischer Aktivitäten verhaftet wurde und aus dem Gefängnis fliehen musste. Insofern merkt man der Lektüre an, wie schwer es sein kann, einfach nur ein normales Leben zu führen, wenn die Umstände vor der Haustür nach Rache, Vergeltung und Krieg schreien und es überhaupt keine Rolle spielt, wie wenig man als Individuum mit all dem zu tun haben möchte.
Sehr informativ und abwechslungsreich gestaltet er seinen aktuellen Roman. Ein Buch über das Erwachsenwerden unter der Gewaltherrschaft Saddam Husseins und der Ungleichheit der Bevölkerung innerhalb des eigenen Landes. Er schneidet dabei viele Probleme an, angefangen bei Armut, weiter zu fehlender Bildung und religiösem Fanatismus, bis hin zu ganz normalen Wünschen und Träumen eines Teenagers, der seinen Platz in der Welt sucht.
Besonders gut gefallen hat mir die Innensicht der Familie, die trotz schwerer Zeiten, miserabler Lebensumstände und persönlicher Fehlentscheidungen dennoch immer zusammengehalten hat, Eltern die sich zugewandt sind und die Eigenheiten des anderen akzeptieren, Geschwister, die füreinander einstehen und sich den Rücken frei halten und Liebe sowie Offenheit auch in Situationen, wo andere Familien auseinanderbrechen, weil sie dem äußeren Druck nicht gewachsen sind.
Gleichzeitig wird aber auch deutlich, wie schnell man durch persönliche Zuneigung ins Fadenkreuz der gesellschaftlichen Akzeptanz rücken kann, wie willkürlich das System an sich ist und wie radikal die exekutive Ausrichtung: Menschen verschwinden und tauchen nie wieder auf, Morde werden als Selbstmorde vertuscht und selbst das große Geld hilft nicht, die Willkür des Staates außer Kraft zu setzen. Letztlich zersetzt sich der Staat von innen, weil keiner einen Sinn und Zweck in dem Gemeinschaftskonstrukt sieht, in dem ein kleines Vergehen, derart hohe Wellen schlägt, während organisierter Mord anstandslos hingenommen wird. Wer fliehen kann, tut das, wer nicht muss untergehen …
Fazit
Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen bedrückenden Roman, der aus Innensicht eines Heranwachsenden geschrieben wurde und nicht nur die Armut und das Leid der Bevölkerung aufgreift sondern ihren Alltag abbildet. Zwar ist die Geschichte insgesamt etwas handlungsarm und formuliert keine allgemeingültige Aussage, sie wirkt fast biografisch, denn Shams hat die Rolle des omnipotenten Erzählers inne, der nur wenig andere Perspektiven zulässt, der nur sein Leid und die familiären Sorgen erörtert. Doch Vieles ist gerade durch die Nähe zu den Betroffenen spürbar.
Außerdem bereitet es dem Leser keine Probleme vom Einzelschicksal eines Jungen, auf die verfahrene Situation eines ganzen Volkes zu schließen. Die Schicksale werden einander ähneln, sind geprägt von Gewalt und Denunziation, vom alltäglichen Kampf und dem verzweifelten Hilferuf nach einem Ausweg, wie auch immer der aussehen mag. Insgesamt ein lesenswerter Gesellschaftsroman über die Strukturen eines Gewaltregimes und seine innere Zerstörungskraft – hat mir gefallen.